Silvester 2022/2023
Debatte über Herkunft und Integration
Zahlreiche Angriffe auf Rettungskräfte und Polizei – das ist die Bilanz der Silvesternacht 2022/2023 in mehreren deutschen Städten. In der Debatte über die Krawalle geht es immer wieder auch um die Herkunft der beteiligten Jugendlichen und vermeintlich gescheiterte Integration. In einer Expertise für den Mediendienst kommt der Kriminologe Christian Walburg unter anderem zu dem Ergebnis: Ausschreitungen wie an Silvester gibt es immer wieder. Und: Die Ursachen und Entwicklungen von Jugenddelinquenz sind vielfältig.
24. Februar 2023
Ein Jahr Ausweitung des Ukraine-Kriegs
Am 24. Februar 2023 jährt sich die Ausweitung des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine zum ersten Mal. Mehr als eine Million Menschen haben seitdem Schutz in Deutschland gesucht: Etwa zwei Drittel der geflüchteten Erwachsenen sind Frauen und ein Drittel Männer. Geflüchtete aus der Ukraine können ihren Wohnort frei wählen – nach Ansicht von Expert*innen eine Entlastung für das Aufnahmesystem. Fast 80 Prozent leben mittlerweile in einer privaten Unterkunft. Mehr Zahlen und Fakten zu Geflüchteten aus der Ukraine in unserer Rubrik.
März 2023
Ciao, Migrationshintergrund? Erstmal nicht
Kompliziert, irreführend, stigmatisierend: Seit Jahren mehren sich Stimmen, die das Konzept des „Migrationshintergrunds“ kritisieren. Er gilt als wichtige Kategorie in der Statistik und Forschung, wird aber häufig in Debatten als Platzhalter für Probleme herangezogen. Eine Kommission hatte der Bundesregierung 2021 vorgeschlagen, den Begriff durch „Menschen mit Einwanderungsgeschichte“ zu ersetzen. Abgeschafft wurde „ Migrationshintergrund“ nicht, doch das Statistische Bundesamt legt seit März 2023 Daten zu beiden Kategorien vor. Mehr Orientierung geben wir in unserem Factsheet.
Mai 2023
AKP bei türkischen Wähler*innen in Deutschland erfolgreich
Bei der Türkei-Wahl im Mai 2023 sind der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seine Partei AKP bei den „Auslandstürk*innen“ in vielen europäischen Ländern erfolgreicher als in der Türkei – so auch in Deutschland. An der Stichwahl für die Präsidentschaft nehmen in Deutschland etwa die Hälfte der rund 1,5 Millionen Wahlberechtigten teil. Zwischen den Wahlbezirken gibt es große Unterschiede: In Essen stimmen knapp 79 Prozent der Wähler*innen für Erdogan, in Berlin sind es rund 51 Prozent.
23. Juni 2023
Bundestag beschließt neues Einwanderungsgesetz
Auf dem deutschen Arbeitsmarkt ist der Mangel an Arbeitskräften spürbar – ob in der Pflege, im Handwerk oder in der Baubranche. Der Bundestag beschließt am 23. Juni 2023 das überarbeitete Fachkräfteeinwanderungsgesetz, mit dem die Bundesregierung mehr Arbeitskräfte aus Drittstaaten gewinnen will. Wer Berufserfahrung aufweisen kann, soll leichter einwandern können. Außerdem soll es eine „Chancenkarte“ geben und für einen begrenzten Kreis von Asylbewerber*innen einen „Spurwechsel“, wenn sie Arbeit gefunden haben.
Juli 2023
Großes Interesse am Chancen-Aufenthalt
Seit seiner Einführung ermöglicht das neue Chancen-Aufenthaltsrecht Geduldeten, die länger als fünf Jahre in Deutschland leben, eine neue Perspektive. Bis Mitte des Jahres erhalten über 22.000 Personen, einschließlich ihrer Angehörigen, eine Aufenthaltserlaubnis auf Probe. Laut einer Umfrage des Mediendienstes werden im ersten Halbjahr über 49.000 Anträge gestellt. Laut Bundesinnenministerium werden bis Ende Oktober 47.500 Anträge genehmigt. Die Bundesregierung erwartet, dass über 136.000 Personen von dieser Regelung profitieren werden. Die Zahl der Ausreisepflichtigen geht zum ersten Mal seit 2015 zurück – in erster Linie wegen des Chancenaufenthalts.
16 Juli 2023
EU schließt Kooperationsabkommen mit Tunesien ab
Vertrer*innen der EU unterzeichnen am 16. Juli 2023 ein Kooperationsabkommen mit der tunesischen Regierung. Dabei geht es um wirtschaftliche Zusammenarbeit sowie um die Steuerung der Migration auf der sogenannten zentralen Mittelmeer-Route: Die tunesische Regierung verpflichtet sich, Überfahrten strenger zu kontrollieren. Tunesien ist 2023 das Land geworden, aus dem die meisten Bootsflüchtlinge in Richtung Italien in See stechen. Infolge des Abkommens werden Migrant*innen von den tunesischen Behörden in mehreren Fällen festgenommen und in der Wüste ausgesetzt.
September 2023
Sozialleistungen, Pull-Faktoren, Obergrenzen
Mit umstrittenen Aussagen zu Zahnarztbesuchen von abgelehnten Asylbewerber*innen provoziert CDU-Chef Friedrich Merz Ende September. Sozialleistungen als „Pull-Faktor“, die Abschaffung des individuellen Asylrechts, eine Obergrenze für die Aufnahme von Geflüchteten – diese Begriffe prägen die politische Debatte im Herbst. Am 6. November 2023 beschließen die Regierungschefs der Länder und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) unter anderem, Bargeldzahlungen an Asylbewerber einzuschränken.
7. Oktober 2023
Folgen des Terrorangriffs der Hamas auf Israel
Am 7. Oktober greift die Hamas Israel in einem Terrorakt an; Israel reagiert mit einer Gegenoffensive. Die neue Eskalation in Nahost führt auch hierzulande zu Konflikten und Debatten. Deutlich wird das auf Demonstrationen oder an Schulen, wo sich für viele Lehrkräfte die Frage stellt, wie sie mit dem Thema umgehen sollen. Deutlich wird das auch bei Diskussionen um Positionen zum Nahostkonflikt und Antisemitismus, so etwa durch politische Forderungen nach einem Bekenntnis zu Israel bei Einbürgerungen. Antisemitische Straftaten und Vorfälle nehmen seit dem Angriff deutlich zu: Beratungsstellen melden einen enormen Anstieg an Anfragen, das BKA erfasst mittlerweile mehr als 4.700 Straftaten im Zusammenhang mit dem Krieg (Stand 18.12.), mehr als 1.000 sind bislang als antisemitisch eingestuft. Auch antimuslimische Vorfälle wurden gemeldet, die antimuslimischen Straftaten belaufen sich laut BKA im mittleren zweistelligen Bereich.
15. Oktober 2023
Tusks Bündnis gewinnt unter Pol*innen in Deutschland
An der Parlamentswahl in Polen am 15. Oktober beteiligen sich so viele polnische Auslands-Wähler*innen wie noch nie zuvor. In Deutschland stimmen knapp 16 Prozent der Polinnen und Polen für die nationalkonservative Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS), etwa 50 Prozent für das größte Oppositionsbündnis, die Bürgerkoalition unter Führung von Donald Tusk. In Deutschland leben etwa 1,2 Millionen Menschen mit polnischer Staatsbürgerschaft – mehr als in jedem anderen europäischen Land.
16. Oktober 2023
Stationäre Kontrollen an Grenzen
Am 16. Oktober ordnet Innenministerin Nancy Faeser (SPD) stationäre Kontrollen an den Grenzen zu Polen, Tschechien und der Schweiz an. Ziel der Kontrollen ist, irreguläre Migration über die EU-Binnengrenzen zu reduzieren. Als Folge der Kontrollen steigt im Oktober und November auch die Zahl der Zurückweisungen an den Grenzen stark: Zwischen dem 1. Oktober und dem 23. November 2023 werden mehr als 7.000 Personen an den Grenzen zurückgewiesen. Trotz strenger Kontrollen versuchen Schutzsuchende weiterhin, über verschiedene Fluchtrouten nach Deutschland zu gelangen.
Oktober 2023
Bundeskanzler will „im großen Stil“ abschieben
Am 11. Oktober präsentiert das Innenministerium einen Gesetzentwurf zur „Verbesserung der Rückführung“. Es ist das fünfte Reformpaket im Bereich Abschiebung seit 2015. Demnach sollen ausreisepflichtige Personen künftig ohne Ankündigung abgeschoben werden – und können länger in Abschiebungshaft gehalten werden. Am 20. Oktober 2023 kündigt Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) im Interview mit dem Spiegel an: „Wir müssen endlich im großen Stil diejenigen abschieben, die kein Recht haben, in Deutschland zu bleiben.“ Trotz wiederholter Verschärfungen des Ausweisungs- und Abschiebungsrechts ist die Zahl der Abschiebungen in den vergangenen Jahren nicht gestiegen.
25. Oktober 2023
Anti-Schwarzer Rassismus in Deutschland besonders stark ausgeprägt
Rassismus gegenüber Schwarzen Menschen ist in Deutschland weiter verbreitet als in anderen EU-Staaten, zeigt der Bericht „Being Black in the EU“ der EU-Grundrechteagentur am 25. Oktober 2023. Die Agentur erfasst die Erfahrungen Schwarzer Menschen in 13 EU-Staaten und stellt seit der Vorgänger-Studie im Jahr 2016 einen deutlichen Anstieg fest: Fast die Hälfte aller Schwarzen Menschen in der EU erleben Rassismus und Diskriminierung in ihrem Alltag.
November 2023
Wie läuft die Aufnahme von Geflüchteten in den Kommunen?
Seit Februar 2022 haben mehr als eine Million Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine in Deutschland Schutz gesucht. 2023 kamen mehr als 300.000 Asylanträge von Menschen aus anderen Ländern dazu. Sind die Kommunen am Limit? Eine im November 2023 veröffentlichte Umfrage des Mediendienstes und der Uni Hildesheim unter mehr als 600 Kommunen zeigt: Knapp 60 Prozent der befragten Kommunen beschreiben die Lage als „herausfordernd, aber (noch) machbar“, 40 Prozent sehen sich „im Notfallmodus“. Nur sechs Prozent der Kommunen nutzen Turnhallen als Notunterkünfte.
6. November 2023
Asylverfahren außerhalb der EU?
Am 6. November 2023 unterzeichnen die italienische und albanische Regierung ein Kooperationsabkommen: Geflüchtete, die in internationalen Gewässern vor der italienischen Küste aufgegriffen werden, sollen künftig nach Albanien gebracht werden und hier einen Asylantrag stellen können. Die Verfahren sollen nach EU-Asylrecht stattfinden. Im Dezember setzt das albanische Verfassungsgericht das Abkommen vorerst aus mit der Begründung, dass es die territoriale Integrität Albaniens in Frage stellt.
7. November 2023
Ungerechte Behandlung im Gesundheitswesen
Der Nationale Rassismusmonitor belegt im November: Viele Menschen in Deutschland erfahren Diskriminierung im Gesundheitssystem - vor allem Frauen. Stereotype gegenüber Frauen und rassistische Stereotype mischen sich laut der Studie. Die Folge: Patient*innen wechseln den Arzt oder die Ärztin, weil Beschwerden nicht ernst genommen werden, andere vermeiden die Behandlung. Ein Befund: Menschen, die Rassismus erleben, laufen Gefahr, einen schlechteren Gesundheitszustand zu entwickeln.
1. Dezember 2023
Bundestag bringt neues Staatsbürgerschaftsrecht auf den Weg
Frühere Einbürgerungen, Mehrfach-Staatsangehörigkeit, keine schriftlichen Sprachtests mehr für die Generation der „Gastarbeiter*innen“: Im Januar legt Innenministern Nancy Faeser (SPD) Vorschläge für eine Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts vor. Am 1. Dezember 2023 bringt der Bundestag den Gesetzentwurf auf den Weg. Ein Problem löst das Gesetz nicht: Schon heute kommen viele Ausländerbehörden bei den Einbürgerungsanträgen nicht hinterher.
12. Dezember 2023
Generalbundesanwalt klagt Reichsbürger-Anhänger*innen an
Ein Jahr nach der Razzia gegen Anhänger*innen der Reichsbürger-Szene erhebt die Generalbundesanwaltschaft am 12. Dezember 2023 Anklage gegen 26 Personen. Wird sie zugelassen, könnten die Prozesse zu den größten Staatsschutzprozessen der deutschen Geschichte zählen. Die Anwaltschaft wirft den „Reichsbürgern" die Gründung beziehungsweise Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung sowie Umsturzpläne unter Anwendung von Waffengewalt vor. Unter den Angeklagten befinden sich unter anderem Richter*innen, Rechtsanwält*innen und ehemalige Polizist*innen. Mehr zu „Reichsbürgern“ finden Sie hier.
15. Dezember 2023
Georgien und Moldau werden zu sicheren Herkunftsstaaten erklärt
Am 15. Dezember 2023 stimmt der Bundesrat mit einer Mehrheit zu, dass Georgien und Moldau zukünftig als „sichere Herkunftsstaaten“ gelten. Das bedeutet, dass Asylanträge schneller bearbeitet und in der Regel abgelehnt werden. 2023 stammten nur knapp vier Prozent aller Asylsuchenden aus Georgien oder Moldau (Stand: Januar bis September 2023). Die Anerkennungsquote ist sehr gering. Mehr in unserer Rubrik. Am 19. Dezember unterzeichnet Innenministerin Nancy Faeser (SPD) ein Migrationsabkommen mit Georgien, das Rückführungen beschleunigen soll.
20. Dezember 2023
EU beschließt Asylrechtsverschärfung
Eine historische Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) verhandelt die EU im Dezember 2023. Diese sieht vorrangig die Verlagerung und Auslagerung von Asylverfahren vor: Asylsuchende aus bestimmten Ländern sollen an den europäischen Außengrenzen festgehalten werden und dort ein Schnellverfahren durchlaufen. Es soll zudem vermehrt Abkommen mit Drittstaaten geben, in die Asylsuchende abgeschoben werden sollen, um dort Asyl zu beantragen statt in der EU. Mehr zur Reform finden Sie hier. Ein Interview zu den wichtigsten Fragen rund um die EU-Asyl-Reform gibt es an dieser Stelle.
Von Cordula Eubel, Noah Franke, Fabio Ghelli, Donata Hasselmann, Andrea Pürckhauer, Miriam Sachs und Lisa Erzsa Weil.
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