Seit Jahresanfang haben mindestens 49.000 Menschen in Deutschland das neue "Chancenaufenthaltsrecht" beantragt. Davon wurden bisher rund 17.000 Anträge bewilligt und rund 2.100 Anträge abgelehnt, wie eine Umfrage des MEDIENDIENSTES unter den Bundesländern ergab. Nach Ansicht von Anwält*innen hängt die Inanspruchnahme des neuen Rechts auch davon ab, wie die zuständigen Behörden in den jeweiligen Bundesländern darüber informieren.
Das Chancenaufenthaltsgesetz ist seit dem 31. Dezember 2022 in Kraft: Geduldete, die zum Stichtag 31. Oktober 2022 fünf Jahre oder länger in Deutschland lebten, sollen gemeinsam mit ihren Angehörigen eine Aufenthaltserlaubnis "auf Probe" bekommen. Innerhalb von 18 Monaten können sie versuchen, die Voraussetzungen für ein dauerhaftes Bleiberecht zu erfüllen. Schaffen sie das nicht, fallen die Betroffenen in die Duldung zurück.
Um das Chancenaufenthaltsrecht, also den "Aufenthalt auf Probe" zu bekommen, sind drei Voraussetzungen nötig: Die Person muss mindestens fünf Jahre in Deutschland geduldet sein, darf keine Straftaten begangen und nicht absichtlich über ihre Identität getäuscht haben (§ 104c Aufenthaltsgesetz). Insgesamt gibt es laut Ausländerzentralregister rund 137.000 Geduldete, die zum Stichtag länger als fünf Jahre in Deutschland lebten. Mehr als jede*r Dritte (35,5 Prozent) hat demnach schon einen Antrag gestellt.
Wie viele Personen haben bereits den Chancenaufenthalt bekommen?
In mehreren Bundesländern haben schon mehr als die Hälfte der potenziell Berechtigten (Geduldete mit einer Aufenthaltsdauer von mehr als fünf Jahren) einen Antrag gestellt: In Berlin sind es etwa 59 Prozent, in Bayern 58 Prozent, in Sachsen 55 Prozent und in Sachsen-Anhalt 51 Prozent. In Nordrhein-Westfalen, wo die meisten Geduldeten mit entsprechender Aufenthaltsdauer leben (38.460 Personen), hat bisher etwa jede*r Dritte einen Antrag gestellt. Die tatsächliche Zahl der Anträge und Bewilligungen dürfte höher liegen, da nicht alle Bundesländer Daten aus dem aktuellen Monat vorlegen konnten.
Etwa 2.100 Anträge auf das Chancenaufenthaltsrecht wurden bisher abgelehnt – in Nordrhein-Westfalen waren es knapp vier Prozent der Anträge, in Niedersachsen rund sechs Prozent und in Bayern sieben Prozent. Als häufige Gründe für die Ablehnung nannten die Länder, dass die Antragsteller*innen keine durchgehende fünfjährige Voraufenthaltszeit vorweisen konnten. Weitere Gründe waren, dass sie wegen Straftaten verurteilt worden waren oder falsche Angaben über ihre Identität gemacht hatten.
Wie kommt es zu den unterschiedlichen Zahlen?
Der Jurist Niels Blume, der in einer Anwaltskanzlei für Migrationsrecht in Berlin arbeitet, hält die Informationspolitik für das entscheidende Kriterium. Denn die Antragstellung sei rechtlich gesehen eigentlich ein Kinderspiel: Die inhaltlichen Voraussetzungen für den "Probe-Aufenthalt" seien gering, die formellen Anforderungen der Antragstellung niedrigschwellig. Die Frage sei vielmehr, ob die Betroffenen wirklich wüssten, dass es so simpel ist. In Einzelfällen seien Geduldeten in einer Ausländerbehörde in Brandenburg etwa suggeriert worden, dass auch die Identität für den Chancenaufenthalt geklärt werden müsse. Dies sei rechtlich nicht zutreffend und würde potenziell Begünstigte von einer Antragstellung abhalten.
Auch der Jurist Sebastian Röder, Rechtsanwalt beim baden-württembergischen Flüchtlingsrat, sagt, dass es einen zentralen Unterschied mache, ob und auf welche Weise die Behörden die Geduldeten über das Chancenaufenthaltsrecht informieren. In Baden-Württemberg hat das Justizministerium dies in Form eines Serienschreibens getan. Das Justizministerium habe dabei laut Röder aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt und sich um eine einfache und beruhigende Sprache bemüht. Ein im Kontext der Beschäftigungsduldung vor einigen Jahren versandtes Serienschreiben habe die Betroffenen noch in Panik versetzt, da nicht klar wurde, dass das neue Gesetz eine Verbesserung und keine Gefahr für Geduldete darstellte.
In Berlin hat ein großer Anteil der Antragsberechtigten bereits einen Antrag gestellt. Engelhard Mazanke, der Leiter des Berliner Landesamts für Einwanderung, führt das unter anderem auf das niedrigschwellige Online-Angebot des Berliner Landesamts zurück: Geduldete können das Chancenaufenthaltsrecht über ein einfaches Online-Formular beantragen.
Wie viele Personen könnten durch den Chancenaufenthalt ein dauerhaftes Bleiberecht erhalten?
137.373 Geduldete haben zum Stichtag am 31. Oktober 2022 die fünfjährige „Voraufenthaltszeit“ erfüllt. Das bedeutet aber nicht, dass sie alle durch das Chancenaufenthaltsgesetz ein dauerhaftes Bleiberecht bekommen. Denn nach dem 18-monatigen Chancenaufenthalt müssen sie eine Reihe weiterer Voraussetzungen erfüllen, um ein anschließendes Bleiberecht zu bekommen und nicht in die Duldung zurückzufallen.
Zu den weiteren Voraussetzungen gehören
- dass sie überwiegend selbst für ihren Lebensunterhalt aufkommen können,
- ausreichende Deutschkenntnisse haben und
- ihre Identität geklärt ist.
Engelhard Mazanke, Leiter des Berliner Landesamts für Einwanderung, hält eine Prognose, wer am Ende tatsächlich langfristig vom Chancenaufenthaltsgesetz profitieren wird, für kaum möglich. Man könne nicht abschätzen, wie viele der Personen mit dem Chancenaufenthalt es nach den 18 Monaten tatsächlich schaffen werden, die Voraussetzungen für ein dauerhaftes Bleiberecht zu erfüllen.
In der Gesetzesbegründung wurde davon ausgegangen, dass nur etwa 98.000 Personen überhaupt einen Antrag auf das Chancenaufenthaltsrecht stellen werden und letztlich nur 33.500 Personen ein dauerhaftes Bleiberecht erhalten werden. Der Rest würde demnach in die Duldung zurückfallen. Quelle
Wie viele Geduldete gibt es ingesamt in Deutschland?
Die Zahl der Geduldeten ist in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen. Zum Stichtag 31. Dezember 2022 lebten 248.145 Geduldete in Deutschland.Quelle
Von Sophie Thieme und Donata Hasselmann. Mitarbeit Grafiken: Reza Nazir.
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