Dieses Interview ist ursprünglich am 23.6.2023 erschienen.
MEDIENDIENST: Die Ampel-Koalition will Asylbewerber*innen einen „Spurwechsel“ ermöglichen: Wer arbeitet oder ein Jobangebot als Fachkraft hat und einen anerkannten Berufsabschluss vorweisen kann, soll den Asylantrag zurückziehen und eine Aufenthaltserlaubnis beantragen können. Ein sinnvoller Schritt?
Herbert Brücker: Ja. Der Spurwechsel nutzt allen Beteiligten: Asylbewerber*innen bekommen eine Aufenthaltsperspektive und können sich besser integrieren. Der Spurwechsel hilft außerdem Unternehmen, die Arbeitskräfte suchen. Und da der Aufenthalt daran geknüpft ist, dass Menschen arbeiten und ihren Lebensunterhalt sichern können, hat auch die Volkswirtschaft etwas davon. Wer arbeitet, zahlt ja in Deutschland Steuern und Abgaben.
Ein solcher Wechsel vom Asylsystem in die Arbeitsmigration ist umstritten: Kritiker*innen sagen, die Möglichkeit eines Spurwechsels führe dazu, dass mehr Menschen über das Asylsystem nach Deutschland kommen und einen Antrag stellen.
Deswegen wählt man eine Stichtagsregelung. Der Spurwechsel soll nur für Menschen gelten, die bis zum 29. März dieses Jahres einen Asylantrag gestellt haben. Er ist also nur für Personen möglich, die von dieser Regelung noch nichts wussten, als sie nach Deutschland gekommen sind. Ob es in fünf oder zehn Jahren noch einmal eine solche Regelung gibt, kann kein Mensch vorhersehen – schon gar nicht die Geflüchteten, die sich auf den Weg machen. Empirisch liegt der Pull-Effekt, also der Anreiz, wegen einer solchen Regelung nach Deutschland zu kommen, bei nahezu null.
Prof. Dr. Herbert Brücker ist Direktor des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) und leitet den Forschungsbereich Migration, Integration und internationale Arbeitsmarktforschung am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). (Foto: Murr)
Wie viele Personen werden von dieser Regelung profitieren?
Die überwiegende Zahl der Geflüchteten hat legitime Schutzansprüche. Von den 2,2 Millionen Schutzsuchenden in Deutschland – ohne die seit Kriegsbeginn zugezogenen ukrainischen Staatsangehörigen – hatten zum Jahresende 2022 1,5 Millionen oder 70 Prozent einen anerkannten Schutzstatus. 415.000 Personen oder 19 Prozent hatten einen offenen Schutzstatus und 215.000 oder 12 Prozent einen abgelehnten Schutzstatus. In dem Gesetzentwurf geht es um die zweite Gruppe, über deren Asylanträge noch nicht entschieden wurde. Sie können den Spurwechsel beantragen. Von ihnen wird allerdings früher oder später die Mehrheit ohnehin einen Schutzstatus erhalten, weil im letzten Jahr eine hohe Zahl von Asylbewerber*innen aus Ländern mit recht hohen Anerkennungsquoten wie Afghanistan oder Syrien gekommen ist. Das heißt, ihr Asylantrag würde ohnehin positiv bewilligt. Sie könnten aber über den Spurwechsel schneller eine Aufenthaltserlaubnis bekommen, die Integration würde beschleunigt.
Der Spurwechsel kommt aber nicht für alle Asylbewerber*innen mit einem offenen Verfahren in Frage?
Nur rund 70 Prozent der Menschen, über deren Asylantrag noch nicht entschieden wurde, sind im erwerbsfähigen Alter und erst rund ein Zehntel hat einen Job. Auch wenn dieser Anteil im Zeitverlauf schnell steigt, reden wir wahrscheinlich kurzfristig von nicht mehr als 30.000 bis 50.000 Personen. Diese Zahl schmilzt schnell ab, weil immer mehr Asylanträge entschieden werden und die nach dem 29. März 2023 zugezogenen Asylbewerber*innen ja nicht unter die Regelung fallen.
Was passiert mit den Menschen, deren Asylantrag abgelehnt wurde?
Für die Gruppe mit abgelehnten Schutzanträgen, deren Anteil in der Öffentlichkeit stark überschätzt wird, greift ein anderes Gesetz der Bundesregierung: das sogenannte Chancenaufenthaltsrecht. Auch sie können nach einer Stichtagsregelung ein Aufenthaltsrecht erhalten, wenn sie ihren Lebensunterhalt durch Erwerbsarbeit sichern können und andere Integrationsvoraussetzungen erfüllen. Auch wenn beide Regelungen sehr sinnvoll sind: Das deutsche Fachkräfteproblem lösen sie nicht.
Stichwort Fachkräftemangel: Würde es nicht sogar Sinn machen, dauerhaft einen Spurwechsel zu ermöglichen?
Generell wäre ich vorsichtig: Man kann nicht mit Fluchtmigration unsere Arbeitskräfteprobleme lösen. Umgekehrt kann man auch mit Arbeitsmigration nicht die Fluchtprobleme lösen. Wir gewähren Menschen Schutz, die vor Krieg und Bürgerkrieg fliehen oder massiv von Verfolgung betroffen sind – unabhängig von Nützlichkeitserwägungen. Natürlich profitieren wir davon, wenn Geflüchtete in Deutschland arbeiten und Steuern und Abgaben zahlen. Die Erfahrungen aus den Jahren 2015 und 2016 zeigen, dass inzwischen mehr als die Hälfte der damals zugezogenen Geflüchteten arbeitet. Aber weil die Integration in den Arbeitsmarkt nicht so schnell geht wie bei Menschen, die direkt zum Arbeiten nach Deutschland kommen, verursacht Fluchtmigration erst einmal Kosten. Weil es um eine humanitäre Aufgabe geht, darf es auch etwas kosten.
Um die Zahl der Asylanträge aus den Westbalkan-Staaten zu reduzieren, hat die Politik 2016 eine Sonderregelung eingeführt: Menschen aus diesen Ländern können mit Visum zum Arbeiten nach Deutschland kommen – auch ohne die sonst üblichen formalen Qualifikationsnachweise. Mit der Reform des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes soll diese Regelung nun entfristet werden.
Über die Westbalkan-Regelung sind viele Arbeitskräfte gekommen, die Zahl der Asylanträge aus diesen Ländern ging stark zurück. Die Erfahrungen sind sehr positiv: Weniger als drei Prozent der Menschen, die diese Regelung genutzt haben, beziehen heute Arbeitslosen- oder Bürgergeld, also sehr viel weniger als in der deutschen Bevölkerung. Die Beschäftigungsquoten liegen bei über 95 Prozent. Ich fände es sinnvoll, diese Regelung auch auf andere Länder auszuweiten. Der beste Weg, das Asyl- und Fluchtsystem zu entlasten, ist, die Schwellen für die Arbeitsmigration zu senken.
Sie haben berechnet, dass jedes Jahr unter dem Strich 400.000 Menschen nach Deutschland kommen müssen, um den Bedarf an Fachkräften zu decken.
Es ist wichtig, brutto und netto zu unterscheiden: Um einen Wanderungssaldo von 400.000 Personen zu erreichen, bräuchten wir wegen der Rückwanderung 1,5 bis 1,6 Millionen Zuzüge pro Jahr. Wenn wir ähnliche Proportionen wie in Kanada erreichen wollten, müssten davon auf die Erwerbsmigration 300.000 bis 350.000 Personen entfallen. Davon sind wir, auch wenn man die Zuwanderung aus EU-Staaten berücksichtigt, weit weg.
Wie viele Arbeitskräfte werden durch das reformierte Fachkräfteeinwanderungsgesetz nach Deutschland kommen?
Der neue Gesetzentwurf ist in seinen Wirkungen schwer zu beurteilen. Einerseits hält er an den Strukturen des bestehenden Rechts fest, die in der Vergangenheit nicht gut funktioniert haben. Andererseits erhält er auch viele neue interessante Elemente.
Was hat in der Vergangenheit nicht gut funktioniert?
Die Menschen, die zu uns kommen, brauchen qualifizierte Berufs- und Hochschulabschlüsse, sie müssen nachweisen, dass diese mit deutschen Abschlüssen vergleichbar oder gleichwertig sind und sie brauchen eine Arbeitsplatzzusage. Bei der Blauen Karte EU müssen sie auch noch Gehaltsschwellen überschreiten, um nur die wichtigsten Punkte zu nennen. Insbesondere die Gleichwertigkeitsprüfung erweist sich als sehr restriktiv. Im Grundsatz hält der Gesetzentwurf an dieser Logik fest und erleichtert den Zugang im Detail, etwa bei der Absenkung der Gehaltsschwellen für die Blaue Karte EU. Diese Änderungen sind alle sinnvoll, werden aber kaum eine Einwanderung von mehreren hunderttausend Arbeitskräften auslösen. An zwei Stellen gibt es allerdings etwas größere Veränderungen, die den Zuzug für qualifizierte Arbeitskräfte erheblich erleichtern könnten.
Welche sind das?
Wenn man einen staatlich anerkannten Abschluss aus dem Ausland hat, zwei Jahre einschlägige Berufserfahrung vorweisen kann und in Deutschland ein bestimmtes Mindestgehalt verdient, soll darauf verzichtet werden zu überprüfen, ob dieser Abschluss gleichwertig zu einem deutschen Abschluss ist. Das ist eine gute Idee, weil es sich letztendlich auf dem Arbeitsmarkt selbst entscheidet, welchen Wert eine Qualifikation hat – und nicht durch Prüfung einer staatlichen Anerkennungsstelle oder Kammer. Das Ganze hat nur einen Haken: Die Gehaltsschwellen wurden so hoch angesetzt, dass weniger als 25 Prozent der deutschen und ausländischen Fachkräfte diese Schwelle mit ihrem Anfangsgehalt überschreiten. Das schränkt die Wirksamkeit der Regelung massiv ein.
Es soll aber eine Ausnahmeregelung geben: Wenn ein Unternehmen tarifgebunden ist, darf es die Gehaltsschwelle unterschreiten.
Gut 40 Prozent der Beschäftigten in Deutschland arbeiten in tarifgebundenen Unternehmen. Weil Neueinwanderer häufig in kleineren Unternehmen arbeiten, betrifft diese Ausnahme wahrscheinlich einen geringeren Anteil. Damit schneidet man einen nicht unerheblichen Teil des Migrationspotenzials ab. Die Wirksamkeit der Regelung wird dadurch begrenzt.
Die Bundesregierung will außerdem eine Chancenkarte einführen: Wer bestimmte Kriterien erfüllt, soll zur Jobsuche nach Deutschland kommen können. Was halten Sie davon?
Die Chancenkarte enthält Mindestanforderungen und ein Punktesystem: Nur wer einen im Ausland staatlich anerkannten Hochschul- oder Ausbildungsabschluss und elementare deutsche Sprachkenntnisse mitbringt, kann in den Genuss dieser Regelung kommen. Der Rest richtet sich nach Punkten. Die kann man zum Beispiel durch Berufserfahrung, höherwertige Sprachkenntnisse oder Kontakte nach Deutschland sammeln. Der Mix von Kriterien ist vernünftig und vergleichbar mit anderen Einwanderungsländern. Im Gesetzentwurf der Bundesregierung war ursprünglich vorgesehen, dass die Chancenkarte nur zur Jobsuche vergeben wird. Um richtig zu arbeiten, hätte man wieder sämtliche Voraussetzungen des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes erfüllen müssen. An der Stelle haben die Fraktionen jetzt nachgebessert: Wer mit der Chancenkarte nach Deutschland kommt, soll jeden Job annehmen können, so lange er auf Fachkraftniveau ist. Dann darf man für weitere zwei Jahre bleiben. Durch die zweijährige Berufserfahrung erfüllt man danach zum Beispiel die Kriterien für die Erfahrungssäule, muss allerdings wieder die Gehaltsschwelle überschreiten. Insgesamt wird die Chancenkarte dadurch attraktiver, allein für die Arbeitssuche hätte sie wenig Sinn gemacht.
Wie bewerten Sie die Reform insgesamt?
Der Entwurf ist interessant, weil er neue Zuzugswege öffnet. Aber ich habe Sorge, dass er im Ausland nicht verstanden werden wird. Es werden widersprüchliche Signale gesendet. Auf der einen Seite will der Gesetzgeber an der Anerkennung von Abschlüssen festhalten. Auf der anderen Seite gibt es Ausnahmeregelungen, wenn man wiederum andere Kriterien wie Mindestgehälter erfüllt. Das wird schwer zu kommunizieren sein. Auch die Risiken sind für die potenziellen Fach- und Arbeitskräfte schwer einzuschätzen: Wie hoch ist das Risiko, dass ich wieder ausreisen muss, wenn ich beispielsweise über die Chancenkarte eingereist bin und einen Job gefunden habe, aber möglicherweise andere Kriterien nicht erfülle? Der Erfolg des Vorhabens wird deshalb auch von seiner Kommunikation abhängen.
Interview: Cordula Eubel
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