Antisemitismus
Feindliche Einstellungen gegenüber Juden treffen in Deutschland aufgrund des millionenfachen Mordens in der Zeit des Nationalsozialismus einen besonderen Nerv. Doch wie stark ist Antisemitismus heute noch verbreitet? Wo kommt der Begriff her? Und welche Erscheinungsformen gibt es?
Was ist Antisemitismus?
Antisemitismus ist ein Sammelbegriff für alle Formen der Judenfeindschaft. Die genauere Definition von Antisemitismus ist jedoch umstritten. Für die politische und praktische Auseinandersetzung wird häufig die sogenannte Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) herangezogen. Mitte 2017 hat auch die Bundesregierung diese Definition angenommen: "Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen. Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein."
Antisemitismus kann historisch und ideologisch sehr unterschiedlich zutage treten. Der "Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus" (UEA) unterscheidet in seinem 2017 vorgelegten Bericht daher verschiedene Erscheinungsformen:
- "Klassische" Ideologieformen: Als "klassisch" werden diese Formen bezeichnet, weil sie zum Großteil seit Jahrhunderten existieren. Dazu zählt zum Beispiel der "soziale Antisemitismus". Im Mittelalter galten Juden in der gesellschaftlichen Wahrnehmung als "ausbeuterische" und "unproduktive" Händler oder "Wucherer". Bis heute ist das stereotype Bild von Juden als mächtige Akteure in der Finanzwelt gängiger Bestandteil antisemitischer Vorurteilsstrukturen. Neben dem "sozialen" Antisemitismus gehören der "religiöse", der "politische", der "nationalistische" und der "rassistische" Antisemitismus zu den "klassischen" Erscheinungsformen.
- Neuere Ideologieformen: Antisemitismus wird in Deutschland nicht zuletzt aufgrund des Nationalsozialismus gemeinhin geächtet. Doch mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges sind antisemitische Einstellungen nicht verschwunden. Seither zeigt sich Antisemitismus mit anderen thematischen Bezügen. So zählen der sekundäre Antisemitismus und der israelbezogene Antisemitismus zu den neueren oder auch "moderneren" Erscheinungsformen des Antisemitismus.
Die Unterscheidung der Ideologieformen dient der Einordnung. In der Realität treten aber meist Mischformen auf. Zudem weist der "Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus" darauf hin, dass es gerade bei den neueren Ideologieformen schwierig sein kann, zwischen kritischen Äußerungen und antisemitischen zu unterscheiden.Quelle
Antisemitismus kann latent auftreten oder manifestiert. Manifest äußert er sich etwa in Übergriffen auf Juden, Sachbeschädigungen oder Propaganda. Als latent antisemitisch gelten Menschen, die judenfeindlich denken, aber (noch) keine Straftaten begehen. Die öffentliche antisemitische Hetze gegen Juden ist in Deutschland als Volksverhetzung strafbar. Dazu gehört auch die Leugnung des Holocausts.
Wie verbreitet ist Antisemitismus in der Gesellschaft?
Mehrere Studien zeigen, dass antisemitische Einstellungen bis weit in die Mitte der Gesellschaft reichen. Antisemitismus tritt dabei in unterschiedlichen Erscheinungsformen zutage.
- In der "Autoritarismus-Studie" der Universität Leipzig 2020 stimmen 10,2 Prozent der Befragten der Aussage zu "Auch heute noch ist der Einfluss der Juden zu groß.", 24,6 Prozent der Befragten bejahten diese Aussage teils/teils. Der Aussage "Durch die israelische Politik werden mir die Juden immer unsympathischer." stimmten 13,5 der Befragten voll zu, 29,7 Prozent der Befragten teils/teils.Quelle
- Die "Mitte"-Studie aus dem Jahr 2021 ergab: "Klassisch" antisemitische Einstellungen finden sich bei rund acht Prozent der Befragten. Das sind rund drei Prozentpunkte mehr als 2019. In den Jahren zuvor war dieser Wert rückläufig. Zu "klassisch" antisemitischen Aussagen gehört etwa: "Durch ihr Verhalten sind Juden an ihren Verfolgungen mitschuldig". Israelbezogenem Antisemitismus stimmen rund 13 Prozent der Befragten zu. Dazu gehören Aussagen wie "Bei der Politik, die Israel macht, kann ich gut verstehen, dass man etwas gegen Juden hat". Im Vergleich zu den Vorjahren ist die Zustimmung zu israelbezogenem Antisemitismus um rund zehn Prozent gesunken. Quelle
- Aus einer Bertelsmann-Studie von 2015 geht hervor, dass traditioneller Antisemitismus "relativ konsistent, stabil und änderungsresistent" sei. 23 Prozent der Bevölkerung stimmten zum Beispiel der Aussage zu "Juden haben auf der Welt zu viel Einfluss". Im Vergleich zu 2013 sind die Zustimmungswerte leicht gesunken. Die Ergebnisse legen nahe, dass diese Form des Antisemitismus besonders unter älteren Befragten verbreitet ist.Quelle
Forscher*innen der Technischen Universität Berlin haben 2018 untersucht, wie sich Antisemitismus im Internet äußert. Die Studie zeigt, dass "klassische" Formen der Judenfeindschaft im Netz stark verbreitet sind. So beinhalteten über die Hälfte (54 Prozent) der untersuchten antisemitischen Online-Kommentare "klassisch" antisemitische Stereotype. 33 Prozent der Kommentare enthielten israelbezogenen Antisemitismus.Quelle
Im Lagebild Antisemitismus beschreibt der Verfassungsschutz das Internet als "wesentlichen Dynamisierungsfaktor" antisemitischer Hetze. Sie werde dort etwa über Blogs, Videoportale oder Gaming-Server verbreitet. Zudem vollziehen sich dort Radikalisierungsprozesse: Auf den Portalen werden nicht nur Drohungen ausgesprochen, sondern auch Gewalttaten angekündigt und im Anschluss verherrlicht.Quelle
Ein Team der Universität Bielefeld hat im Auftrag des "Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus" (UEA) 2017 den Forschungsstand der vergangenen 15 Jahre zu antisemitischen Einstellungen in der Bevölkerung in einer Expertise zusammengefasst.
Welche Erfahrungen machen Juden in Deutschland mit Antisemitismus?
Die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) hat im Jahr 2018 Juden in Europa zu ihrer Wahrnehmung von Antisemitismus befragt. 89 Prozent der Befragten in Deutschland sagten, dass die Judenfeindlichkeit in den vergangenen fünf Jahren zugenommen habe. 75 Prozent vermeiden gelegentlich bis immer, in der Öffentlichkeit Gegenstände zu tragen, die sie als Juden identifizieren könnten. 41 Prozent waren in den letzten zwölf Monaten von antisemitischen Übergriffen betroffen.Quelle
Detaillierte Aufschlüsse darüber, wie Juden Antisemitismus erleben, gibt eine Studie des "Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung" im Auftrag des "Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus" aus dem Jahr 2017:
Das "Gemeindebarometer" ist eine nicht-repräsentative Umfrage des Zentralrats der Juden, die kurz vor und nach dem Anschlag in Halle am 9. Oktober 2019 durchgeführt wurde. Sie zeigte: Ein Großteil der Mitglieder jüdischer Gemeinden fühlt sich in ihren Gemeinden sicher. Das Sicherheitsgefühl hätte sich nach dem Anschlag in Halle kaum verändert: 49 Prozent stimmten der Aussage zu "Wenn ich in die Gemeinde gehe, fühle ich mich sicher". 37 Prozent stimmten der Aussage eher zu. Unter ehemaligen oder nicht-Mitgliedern sind es jeweils 36 und 39 Prozent (stimmen ganz zu) sowie 39 und 37 Prozent (stimmen eher zu). Jedoch fühlen sich viele an ihrem Wohnort nicht sicher: Über 40 Prozent der Befragten fühlen sich eher unsicher oder überhaupt nicht sicher.Quelle
Wie viele antisemitische Straftaten werden verübt?
2021 erfassten die Behörden 3.027 antisemitische Straftaten. 64 davon waren Gewaltdelikte. Vier Menschen starben, als ein Impfgegner seine Familie und sich selbst tötete. Sein Motiv war laut Behördenangaben antisemitisch, er vermutete hinter der Impfkampagne eine "jüdische Weltverschwörung". Die Zahl der antisemitischen Straftaten ist gegenüber 2020 um rund 29 Prozent gestiegen. Damals erfassten die Behörden 2.351 antisemitische Straftaten. Ein Großteil der Delikte ging wie in den vergangenen Jahren auf Tatverdächtige aus dem rechten Milieu zurück (2020 rund 95 Prozent).Quelle
Die Zahl der erfassten antisemitischen Straftaten nimmt seit Jahren zu und erreichte 2021 damit einen neuen Höchstwert seit Beginn der statistischen Erfassung vor fast 20 Jahren. Die antisemitischen Straftaten reichen von Sachbeschädigung, über verbale Hetze bis hin zu körperlichen Attacken gegen Jüdinnen und Juden.Quelle
Fachleute sagen, dass der Anstieg der letzten Jahre mehrere Gründe habe: Soziale Medien tragen erheblich dazu bei, dass sich antisemitische Einstellungen verbreiten und radikaler werden. Dadurch werden Taten aber auch sichtbarer. Ein weiterer Faktor seien neue Melde- und Monitoringstellen (siehe unten), die unter anderem Betroffene dabei unterstützen, Anzeige zu erstatten. 2020 hätten die Anti-Corona-Demos zu einem Anstieg der erfassten Straftaten beigetragen. Dort wurden antisemitische Verschwörungserzählungen verbreitet, die etwa von einer jüdischen Weltverschwörung sprechen oder NS-Vergleiche gezogen, die den Holocaust leugnen. 2021 ist der Anstieg laut Angaben des Tagesspiegels unter anderem auf eine pro-palästinensische Demonstration in Berlin zurückzuführen.Quelle
Zum Dossier: Antisemitismus in der Corona-Pandemie
Die polizeiliche Erfassung antisemitischer Straftaten steht in der Kritik: Viele Übergriffe würden nicht registriert, sagen Fachleute. Eine Untersuchung der Universität Bielefeld zeigt: Nur rund ein Viertel der Betroffenen antisemitischer Vorfälle hat diese gemeldet. Betroffene haben oft kein Vertrauen darin, dass die Behörden sie ernst nehmen oder sich durch die Anzeige etwas ändere. Organisationen wie die "Amadeu Antonio Stiftung" (AAS) oder die "Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin" (RIAS) führen daher eigene Zählungen durch. RIAS erfasste etwa 2021 allein in Berlin 1.052 antisemitische Vorfälle, bundesweit für 2021 rund 2.738 Vorfälle. Die AAS führt eine Chronik antisemitischer Straftaten.Quelle
Antisemitismus in der Corona-Pandemie
Antisemitische Verschwörungserzählungen wurden während der Corona-Pandemie vermehrt verbreitet. Das legen der Verfassungsschutz in seinem "Lagebild Antisemitismus" sowie zivilgesellschaftliche Organisationen in Berichten dar. Die Erzählungen werden insbesondere online verbreitet – etwa über den Messenger-Dienst Telegram – sowie auf Demonstrationen, in Redebeiträgen, auf Kleidungsstücken und Plakaten.
Unter anderem wurden antisemitische Verschwörungserzählungen darüber verbreitet, welchen Ursprung das Virus hat, warum die Präventionsmaßnahmen eingeführt wurden und welchen Zweck die Impfungen haben – darunter zum Beispiel die Vorstellung von einer geheimen Elite, die die Welt kontrollieren wolle. Zum anderen werden Corona-Maßnahmen mit dem Holocaust verglichen und die Verfolgung von Jüdinnen und Juden durch die Nationalsozialisten dadurch verharmlost. Besonders häufig ist die Verwendung des David-Sterns mit der Aufschrift "Ungeimpft" oder "Covid19" oder die Aufschrift auf Plakaten "Impfen macht frei".Quelle
Vorfälle und Straftaten
Die Zahl der erfassten antisemitischen Straftaten nahm während der Corona-Pandemie deutlich zu und stieg zwischen 2019 und 2021 von rund 2.000 auf 3.000 jährlich. Fachleuten zufolge sind ein Grund für den Anstieg die Straftaten, die aus den Corona-Demos heraus begangen wurden.Quelle
Die Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) erfassten im ersten Jahr der Pandemie zwischen März 2020 und März 2021 561 antisemitische Vorfälle – darunter auch nicht strafbare – mit Bezug zur Pandemie. Rund 58 Prozent wurden auf Demonstrationen begangen, rund 23 Prozent online. 21 Prozent hatten einen rechtsextremen Hintergrund, 45 Prozent einen verschwörungsideologischen.Quelle
Strafbarkeit von "Ungeimpft"-Sternen
Wie die Holocaust-Vergleiche durch sogenannte Ungeimpft-Sterne zu beurteilen sind, ist nicht eindeutig: Nicht jede antisemitische Äußerung, nicht jede Holocaust-Verharmlosung ist strafbar. Zwar kommt die Strafbarkeit wegen Volksverhetzung in Betracht. Allerdings kommt es dabei immer auf die konkreten Umstände des Einzelfalls an. Zudem muss laut § 130 Abs. 3 Strafgesetzbuch die Holocaustverharmlosung geeignet sein, den öffentlichen Frieden zu stören.
Eine MEDIENDIENST-Recherche aus dem Februar 2022 zeigt: Fast alle Bundesländer gehen bei den Sternen mittlerweile von einem Anfangsverdacht der Volksverhetzung aus, in einigen wurden die Sterne verboten. Die Gerichte urteilen bisher unterschiedlich. Für die Staatsanwaltschaften und Polizeibehörden der Bundesländer gibt es daher einen großen Handlungsspielraum: Sie können die "Ungeimpft"-Sterne für grundsätzlich strafbar erachten – oder weitere Gerichtsurteile abwarten. Wenn sie sie für strafbar erachten, bedeutet das: Sie können die Sterne auf Demos verbieten, Ermittlungsverfahren einleiten und die Personen vor Gericht anklagen.
>> Zur Recherche
Auf Anfrage des MEDIENDIENSTES betonen die Justiz- und Innenministerien der Bundesländer, dass letztlich die Gerichte über die jeweiligen Fälle urteilen müssen. Es zeigt sich allerdings eine klare Tendenz hin zur Kriminalisierung der "Ungeimpft"-Sterne. In fast allen Bundesländern wird mittlerweile mindestens von einem Anfangsverdacht der Holocaust-Verharmlosung nach § 130 Abs. 3 StGB ausgegangen.
Wichtige Quellen
RIAS (2020): Antisemitismus im Kontext der Covid-19-Pandemie, LINK
Berlin Ramer Institue (2021): Antisemitische Verschwörungsmythen in Zeiten der Coronapandemie am Beispiel QANON, LINK
Bundesamt für Verfassungsschutz (2022): Lagebild Antisemitismus 2020/21, LINK,
Amadeu Antonio Stiftung (2021): Zivilgesellschaftliches Lagebild Antisemitismus 2021, LINK,
Amadeu Antonio Stiftung: FAQ Verschwörungsideologie, LINK
Wie verbreitet ist Antisemitismus an Schulen?
Das "Institut für Konflikt- und Gewaltforschung" und die Soziologin Julia Bernstein von der FH Frankfurt haben für den "Unabhängigen Expertenkreis Antisemitismus" (UEA) Jüdinnen und Juden gefragt, wie sie Antisemitismus in Deutschland erleben. Rund ein Drittel der Befragten gaben in der Studie an, in den vergangenen zwölf Monaten in Kindergarten, Schule, Ausbildung oder Hochschule Antisemitismus erfahren zu haben.Quelle
In der Schule zeige sich laut Studie ein direkter und aggressiver Antisemitismus, der sich in drei Erscheinungsformen unterteilen lässt:
- Provokationen mit Bezügen zur NS-Zeit
- Anti-israelische Haltungen, die Schüler, aber auch Lehrer äußern.
- Verwendung des Wortes "Jude" als Beschimpfung. Sie richte sich sowohl gegen jüdische als auch nicht-jüdische Schüler. Die Beleidigung werde als Synonym für "unzuverlässige, geizige oder schwache Menschen" verwendet.Quelle
Um Antisemitismus an Schulen entgegenzuwirken, setzt sich der "Unabhängige Expertenkreis" unter anderem für langfristige Kooperationen von Schulen mit NGOs und jüdischen Verbänden ein. Im Juni 2021 legte die Kultusministerkonferenz gemeinsam mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland und der Bund-Länder-Kommission der Antisemitismusbeauftragten Vorschläge vor: Schüler*innen und Lehrer*innen sollen Antisemitismus besser erkennen und Vorfälle als solche benennen können. Es sollen Mechanismen geschaffen werden, dass Fälle gemeldet und aufgearbeitet werden. Dafür sollen Beratungsnetzwerke eingebunden werden. Die Empfehlungen sehen darüber hinaus Fortbildungen für Lehrkräfte und eine Anpassung der Lehrpläne vor. Schüler*innen sollen sich etwa stärker mit der Vergangenheit und Gegenwart des Judentums auseinandersetzen, um mehr Wissen über jüdisches Leben zu erlangen.Quelle
In einem MEDIENDIENST-Artikel fordern Expert*innen: Lehrer*innen dürften antisemitische Vorfälle nicht herunterspielen. Zudem müssten sich Schulen klar gegen Antisemitismus positionieren und für betroffene Jugendliche und Eltern einsetzen. Bei überfordernden Situationen sollten Lehrer*innen externe Unterstützung von Beratungsstellen heranziehen. Es komme darauf an, Gegenmeinungen zu stärken und eigene Vorurteile zu hinterfragen. Zugleich warnen die Fachleute davor, zu generalisieren und davon auszugehen, dass muslimisch sozialisierte Schüler besonders antisemitisch seien.
Aktuelle Materialien und Methoden zu antisemitismuskritischen Bildungsarbeit bieten die "KIgA", "Bildungsstätte Anne Frank", "Amadeu Antonio Stiftung" und das "Kompetenzzentrum der ZWST".
Gibt es einen verstärkten Antisemitismus unter Muslimen?
Seit rund zehn Jahren stehen Muslime im Fokus öffentlicher Debatten, wenn es um Antisemitismus geht. In letzter Zeit sind einige Studien entstanden, die Antisemitismus unter Muslimen untersuchen. Die Ergebnisse sind allerdings nicht eindeutig.
2014 kamen Forscher der Universität Bielefeld in einer umfassenden, jedoch nicht repräsentativen Untersuchung zu dem Ergebnis, dass es keine gravierenden Unterschiede zwischen den antisemitischen Vorurteilen von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund gebe, sofern sie nicht extremistisch orientiert sind. Die Ergebnisse der Forschung fasst Andreas Zick in einem Artikel für den MEDIENDIENST zusammen.
Eine Studie der "Universität Bielefeld" zum Antisemitismus bei Jugendlichen „aus muslimisch geprägten Sozialisationskontexten“ hat 2010 ergeben, dass antisemitische Einstellungen bei ihnen insgesamt häufiger anzutreffen sind. Ist dies der Fall, sei damit meist das Gefühl von Benachteiligung verbunden, bei dem die eigenen Erfahrungen von Diskriminierung und Abwertung mit dem Leid der Muslime weltweit verknüpft werden. Daraus entstehe das Gefühl einer weltweit gedemütigten Schicksalsgemeinschaft.Quelle
Weitestgehend einig sind sich die Wissenschaftler*innen darüber, dass der Zusammenhang zwischen ethnischer oder religiöser Herkunft keinen alleinigen Erklärungsansatz für Ausmaß und Ausprägung antisemitischer Denkmuster bietet. Zudem deuten Studien darauf hin, dass Deutsche mit muslimischem Migrationshintergrund ihre Ansichten weniger verschlüsselt äußern als nicht muslimische Deutsche ohne Migrationshintergrund.Quelle
Chaban Salih (empati gGmbH) hat im Auftrag des "Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus" (UEA) eine Expertise zum Themenfeld Antisemitismus und muslimische Moscheegemeinden erstellt. Dazu befragte er 18 Imame zu ihren Einstellungen gegenüber Juden und der Situation in ihren Gemeinden. Die 2017 veröffentlichte Expertise zeigt:
- Die befragten Imame kritisierten, dass es unter den Gläubigen antisemitische Einstellungen gebe. Viele gingen jedoch davon aus, dass hinter dem Antisemitismus keine geschlossenen Ideologien, sondern unreflektierte antisemitische Stereotype stünden.
- Einige Imame versuchten, antisemitischen Ressentiments durch Begegnungen mit Juden entgegenzuwirken.
- Die meisten Befragten sahen den Nahost-Konflikt als politischen und nicht als religiösen Konflikt.
- Die große Mehrheit der Befragten lehnte eine judenfeindliche Deutung des Islams ab. "Judenfeindlichkeit dürfte islamisch theologisch gesehen nicht sein", so ein Befragter.
- In den Interviews haben sich keine radikalen antisemitischen Stereotype gezeigt. Teilweise wurde jedoch die nationalsozialistische Verfolgung und Ermordung deutscher und europäischer Juden mit der Situation der Palästinenser heute gleichgesetzt.Quelle
Eine nicht repräsentative Studie im Auftrag des Unabhängigen Expertenkreis Antisemitismus untersuchte 2016 Antisemitismus von Geflüchteten aus mehrheitlich muslimischen Ländern. Das Ergebnis: Viele zeigen antijüdische Vorurteile. Die Mehrheit hat aber kein geschlossen antisemitisches Weltbild. Die meisten Befragten stehen dem Staat Israel kritisch gegenüber. Gleichzeitig berichten sie aber auch von positiven Alltagskontakten mit Jüdinnen und Juden und zeigen Empathie für deren Geschichte. Bei einigen hat sich die Haltung auch durch die eigene Fluchtgeschichte verändert. Über den Holocaust sind wenige der befragten Geflüchteten gut informiert. Insgsamt sind die Einstellungen sehr unterschiedlich und teils widersprüchlich. Die Forscher*innen sagen: Antisemitismus ist ein gesamtgesellschaftliches Problem – ihn nur bei einer Gruppe zu suchen, würde das Problem verharmlosen.Quelle
Gibt es einen "importierten" Antisemitismus?
Bis vor zehn Jahren waren antisemitische Einstellungen von Migranten und ihren Nachkommen kaum ein Thema in Deutschland. In jüngster Zeit fokussiert sich die öffentliche Diskussion über antisemitische Haltungen und Übergriffe jedoch häufig auf Muslime (mit Migrationshintergrund).Quelle
Ende 2017 haben Demonstrationen in Berlin, auf denen Israel-Fahnen verbrannt wurden, für erneute Debatten gesorgt. Wieder entbrannte eine Debatte darüber, ob es einen "neuen" und vor allem spezifisch "muslimischen Antisemitismus" gäbe, der durch "Migranten" quasi nach Deutschland importiert worden sei.
In der Wissenschaft herrscht weitestgehende Einigkeit darüber, dass beides nicht zutrifft: Der Antisemitismus passe sich zwar immer wieder neuen gesellschaftlichen Zusammenhängen und Diskursen an. Die Stereotype, die dabei bedient werden, blieben jedoch weitestgehend unverändert. Dies gelte auch für den Antisemitismus unter Muslimen.
Wie viele Straftaten werden von Menschen mit Migrationshintergrund verübt?
Wie häufig antisemitische Straftatenvon Muslim*innen oder "Tätern mit Migrationshintergrund" verübt werden, ist unbekannt, denn statistisch wird das nicht erfasst. In den Daten zur "Politisch Motivierten Kriminalität" gibt es neben dem "rechten" und dem "linken" Milieu auch "ausländische Ideologien" und "religiöse Ideologien". Diese beziehen sich aber auf die Herkunft der Ideologie und nicht die Herkunft der Täter*innen, teilte das Bundesinnenministerium (BMI) auf Anfrage des MEDIENDIENSTES mit. Laut BMI meinen "ausländische Ideologien" nicht-religiöse ausländische Ideologien, "religiöse Ideologien" im Wesentlichen den Themenbereich "Islamismus".Quelle .
Von den 2.351 antisemitischen Straftaten, die 2020 registriert wurden, entfielen rund 94,6 Prozent (2.224 Straftaten) auf das rechte Spektrum, rund zwei Prozent (40 Straftaten) auf die Kategorie "ausländische Ideologie" und etwa ein Prozent (31 Straftaten) auf "religiöse Ideologie". Bei der Mehrheit antisemitischer Gewalt- und Straftaten geht die Polizei damit von einer "rechten" Tatmotivation aus. In einer Studie der Universität Bielefeld gaben hingegen rund 80 Prozent der Opfer antisemitischer Gewalt an, von Muslimen angegriffen worden zu sein. Im MEDIENDIENST-Interview erklärt der Soziologe Andreas Hövermann, wie die unterschiedlichen Zahlen zueinander passen. Quelle
Schutz von Synagogen
Der antisemitische Anschlag auf die Synagoge in Halle/Saale am 9. Oktober 2019 legte eklatante Sicherheitsmängel an Synagogen in Deutschland offen: Nur wenige Synagogen in Deutschland waren gut geschützt, die Gemeinden mussten Maßnahmen wie Zäune, Poller, Einlassschleusen oder Videoüberwachung häufig selbst finanzieren. Viele konnten das nicht stemmen oder es ging auf Kosten des Gemeindelebens.
Sicherheitsüberprüfungen der Polizei nach dem Anschlag haben ergaben, dass mehrere Millionen Euro nötig sind, um Sicherheitslücken zu schließen. In wenigen Ländern handelte es sich um kleine Korrekturen. Einige Länder wie Berlin, Bayern oder NRW haben schon vor dem Anschlag viel für die Sicherheit von Gemeinden getan. Andere Länder hatten sich nicht an den Kosten für Schutzvorkehrungen beteiligt. Nach dem Anschlag haben Bund und Länder versprochen, Synagogen und andere jüdische Einrichtungen besser zu schützen.
Zwei MEDIENDIENST-Recherchen aus den Jahren 2020 und 2021 zeigten: Bund und Länder haben Millionen Euro zugesagt, um den Schutz von Synagogen zu verbessern. Das Schutzniveau hat sich deutlich verbessert, die Gelder kommen nach und nach bei den Gemeinden an. Dennoch bleiben viele Gemeinden noch immer auf Kosten sitzen. In manchen Bundesländern wurde erst ein Bruchteil der zugesagten Mittel ausgezahlt. In einigen Ländern fehlen langfristige Zusagen.
Niedersachsen sagte im Juli 2022 fünf Millionen Euro für den Schutz jüdischer Einrichtungen zu, die bis Ende 2023 ausgezahlt werden sollen. Nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle 2019 hatte das Land bereits 2 Millionen Euro für Schutzmaßnahmen bereitgestellt, die aber nicht ausreichten. Gemeinden beklagten noch erhebliche Sicherheitslücken. Niedersachsen hatte vor dem Anschlag vergleichsweise wenig für den Schutz jüdischer Einrichtungen getan.
>> Zur Recherche 2021 und zur Recherche 2020.
Probleme sind weiterhin:
- Finanzierung: Manche Bundesländer stellen sicher, dass Schutzvorkehrungen nicht auf Kosten des Gemeindelebens gehen. Sie führen eigene Töpfe, die nur für Schutzmaßnahmen vorgesehen sind und finanzieren alle anfallenden Kosten. Andere Bundesländer machen das nicht: In Baden-Württemberg gibt es etwa für Schutzmaßnahmen eine Selbstbeteiligung der Gemeinden zwischen 5 und 20 Prozent der Gesamtkosten. In Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachen sind die Gelder – auch wenn sie erhöht wurden – nicht getrennt von den Geldern für das Gemeindeleben geführt. In Hessen bekommen Gemeinden das Geld erst ausbezahlt, wenn die Projekte fertig gestellt sind. Gemeinden berichten, dass die bürokratischen Hürden, um an die Gelder zu kommen, oft sehr hoch sind.
- Sicherheitspersonal: Einige Bundesländer übernehmen nicht die Kosten für private Wachdienste, darunter Brandenburg, Rheinland-Pfalz, Hessen und Thüringen. Doch viele Gemeinden brauchen einen solchen Wachdienst, da die Polizei die Gemeinden nur unregelmäßig oder bei größeren Festen bewacht.
- Langfristigkeit: Abzuwarten bleibt, ob die Bundesländer die Gemeinden langfristig unterstützen. Einige äußern, dass es sich nur um eine einmalige Aufstockung handelt und anschließend nur Wartungsarbeiten zu finanzieren seien. Andere Länder sehen hingegen, dass immer wieder Schutzvorkehrungen zu treffen sind und sie das auch langfristig einplanen müssen. Der Bund hatte nach dem Anschlag 22 Millionen Euro für weitere Schutzvorkehrungen zugesagt, die voll ausgezahlt wurden. Auf Anfrage sagt das Bundesinnenministerium dem MEDIENDIENST, dass es sich um einen einmaligen Zuschuss handelte – weitere Schutzmaßnahmen liegen in der Zuständigkeit der Länder.
Weitere Informationen
>> MEDIENDIENST (2021): Können Jüdinnen und Juden in Deutschland sicher leben?, Pressegespräch, hier beschreibt Gemeindevorsitzende Seidler, was Sicherheitsmaßnahmen für das Gemeindeleben bedeuten
>> MEDIENDIENST (2021): Schutz jüdischer Einrichtungen zwei Jahre nach Halle, Recherche
>> MEDIENDIENST (2020): Schutz jüdischer Einrichtungen ein Jahr nach Halle, Recherche
>> MEDIENDIENST (2020): Synagogen sind nicht gut genug geschützt, Pressegespräch, hier berichtet Naomi Henkel-Gümbel, Überlebende des Anschlags in Halle
Die sogenannte Schlussstrich-Debatte
Wenn es um die Gräueltaten im Nationalsozialismus und Holocaust geht, gibt es in Deutschland den Vorsatz der Vergangenheitsbewältigung und Erinnerungskultur. Dennoch werden seit Gründung der Bundesrepublik immer wieder Forderung laut, einen Schlussstrich unter die Debatte zu ziehen.Quelle
Die Forderung nach einem Schlussstrich ist in der Bevölkerung weit verbreitet. Das zeigt eine repräsentative Umfrage des "Instituts für interdisziplinäre Gewalt- und Konfliktforschung" (IKG) und der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" (EVZ) aus dem Jahr 2019: Ein Drittel der Befragten fordert, einen Schlussstrich unter die Verbrechen des Nationalsozialismus zu ziehen. Über die Hälfe der Befragten lehnt dies ab.Quelle
News Zum Thema: Antisemitismus
RECHERCHE "Ungeimpft"-Sterne: Polizei und Justiz greifen härter durch
Auf Corona-Demos und im Internet kommt es immer wieder zu Holocaust-Vergleichen durch sogenannte Ungeimpft-Sterne. Unsere neue Recherche zeigt: Fast alle Bundesländer gehen bei den Sternen mittlerweile von einem Anfangsverdacht der Volksverhetzung aus, in einigen wurden die Sterne verboten. Die Gerichte urteilen bisher unterschiedlich.
Zwei Jahre nach Halle Wie steht es um den Schutz von Synagogen?
Nach dem Anschlag von Halle haben Bund und Länder mehrere Millionen Euro für den Schutz jüdischer Einrichtungen zugesagt. Vielerorts ist erst ein Bruchteil des Geldes geflossen, zeigt eine MEDIENDIENST-Recherche. Teilweise müssen Gemeinden das Sicherheitspersonal noch immer selbst bezahlen.
Zahlen und Fakten Immer mehr antisemitische Straftaten
Die Zahl der antisemitischen Straftaten hat einen Höchststand erreicht. Ein Grund dafür sind Anti-Corona-Demonstrationen. Es gibt aber noch weitere.