Antisemitismus
Was versteht man unter Antisemitismus? Wie stark sind antisemitische Einstellungen in Deutschland verbreitet und wie viele antisemitische Straftaten werden verübt? Die wichtigsten Informationen finden Sie in unserer Rubrik.
Was ist Antisemitismus?
Antisemitismus ist die Feindschaft gegenüber Juden und Jüdinnen. Es gibt verschiedene Erscheinungsformen:
- Der klassische Antisemitismus sind Vorurteile und eine Weltsicht, in welchen Juden und Jüdinnen bestimmte biologische oder kulturelle Eigenschaften zugeschrieben werden. Diese Stereotype verbinden sich häufig zu Verschwörungserzählungen. Beispielhafte Aussagen sind etwa: "Auch heute noch ist der Einfluss der Juden zu groß" / "Die Juden haben etwas Besonderes und Eigentümliches an sich und passen nicht so recht zu uns." So ist etwa das stereotype Bild von Juden als mächtige Akteure in der Finanzwelt gängiger Bestandteil antisemitischer Vorurteilsstrukturen.
- Sekundärer Antisemitismus ist eine Form der Judenfeindschaft, die vor allem im Kontext der Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen sichtbar wird. Er kann sich etwa in Relativierung oder Leugnung des Holocaust, der Forderung nach einem Schlussstrich unter die Erinnerungskultur und die Aufarbeitung der NS-Verbrechen, oder in der rhetorischen Umkehr von Opfern und Tätern äußern. Beispiele hierfür sind Aussagen wie "Viele Juden versuchen, aus der Vergangenheit des Dritten Reiches heute ihren Vorteil zu ziehen“ oder „Ich bin es leid, immer wieder von den deutschen Verbrechen an den Juden zu hören."
- Israelbezogener Antisemitismus: Kritik an Israel ist antisemitisch, wenn traditionelle Stereotype auf den Staat Israel übertragen werden oder die Politik Israels mit dem Nationalsozialismus gleichgesetzt wird; wenn Juden weltweit für die Politik Israels verantwortlich gemacht oder wenn an israelische Politik andere Standards als an andere Demokratien angelegt werden. Beispiele sind Aussagen wie "Was der Staat Israel heute mit den Palästinensern macht, ist im Prinzip auch nichts anderes als das, was die Nazis im Dritten Reich mit den Juden gemacht haben“ oder „Durch die israelische Politik werden mir die Juden immer unsympathischer.“
Laut "Unabhängigem Expertenkreis Antisemitismus" (UEA) dient die Unterscheidung in Ideologieformen der Einordnung. In der Realität treten oft Mischformen auf. Gerade bei den neueren Ideologieformen, wie dem sekundären und dem israelbezogenem Antisemitismus, könne es schwierig sein, zwischen kritischen und antisemitischen Äußerungen zu unterscheiden.Quelle
In Abgrenzung zum Rassismus werden bei Antisemitismus Betroffene nicht nur abgewertet, sondern für überlegen gehalten, etwa als mit Einfluss auf Politik und Wirtschaft. Das biete Anschluss für Verschwörungserzählungen und diene als Modell für eine Welterklärung.Quelle
Streit um Antisemitismus-Definitionen
Eine genaue Definition von Antisemitismus ist umstritten. Oft wird die Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) herangezogen. Viele Organisationen, Universitäten und Länder nutzen sie. 43 Staaten haben laut IHRA (Stand Mai 2024) die Definition angenommen, 2017 auch die Bundesregierung.
Die IHRA-Definition lautet: "Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“ Die Bundesregierung hat außerdem folgende Erweiterung verabschiedet: „Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein."Quelle
Insbesondere wegen dieses Satzes gibt es mitunter Kritik an der Anwendung der Definition: Es sei nicht klar, wie sich Kritik an der israelischen Regierung und antisemitische Äußerungen voneinander abgrenzen. Unter anderem deshalb stellte eine Reihe von Wissenschaftler*innen eine weitere Definition in der „Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus“ vor. Demnach ist Antisemitismus "die Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden (oder jüdische Einrichtungen als jüdische)." Auch an dieser Definition gibt es wiederum Kritik, etwa, dass sie israelbezogenen Antisemitismus verharmlose.
In einem Entschließungsantrag forderte der Bundestag Ende 2023, die IHRA unter anderem als Grundlage für Förderanträge zu verwenden. Das wird in der Antisemitismus-Resolution bekräftigt, die der Bundestag am 7. November 2024 angenommen hat. Einige Personen aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft sprachen sich dagegen aus. Ein Argument: Die Definition sei zwar hilfreich für ein Monitoring von Antisemitismus – also um Antisemitismus in seinen unterschiedlichen Ausprägungen zu erkennen. Für eine rechtliche Anwendung sei sie aber insbesondere hinsichtlich der grundgesetzlich geschützten Meinungsfreiheit zu unpräzise.Quelle
Wie verbreitet ist Antisemitismus in Deutschland?
Mehrere Studien zeigen, dass antisemitische Einstellungen bis weit in die Mitte der Gesellschaft reichen. Antisemitismus tritt dabei in unterschiedlichen Erscheinungsformen zutage (klassischer, sekundärer und israelbezogener Antisemitismus) und wird häufig über Umwege geäußert.
- Die Zustimmung zu antisemitischen Aussagen hat laut der repräsentativen "Mitte-Studie" 2023 in den vergangenen Jahren zugenommen, sowohl bei sekundärem und klassischem als auch israelbezogenem Antisemitismus. Zu "klassisch" antisemitischen Aussagen gehört etwa: "Durch ihr Verhalten sind Juden an ihren Verfolgungen mitschuldig". Der Aussage stimmten 7,2 Prozent der Befragten zu, 10,8 Prozent der Befragten teils/teils. 16,5 Prozent der Befragten stimmen der Aussage zu: "Juden versuchen, aus der Vergangenheit des Dritten Reichs ihren Vorteil zu ziehen", 18,8 Prozent bejahen diese Aussage teils/teils.Quelle
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Laut der repräsentativen Befragung des Religionsmonitors 2023 stimmen 21 Prozent der Bevölkerung klassisch antisemitischen Aussagen zu wie „Die Juden haben zu viel Einfluss in unserem Land“. 43 Prozent stimmen der Aussage zu „Was der Staat Israel heute mit den Palästinensern macht, ist im Prinzip auch nichts anderes als das, was die Nazis im Dritten Reich mit den Juden gemacht haben." (israelbezogener Antisemitismus).Quelle
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Laut "Autoritarismus-Studie" der Universität Leipzig 2022 ist die Zustimmung zu antisemitischen Aussagen seit 2002 zurückgegangen – jedoch seien antisemitische Einstellungen "leicht mobilisierbar". 7,2 Prozent der Befragten stimmen der Aussage zu "Auch heute noch ist der Einfluss der Juden zu groß.", 21,6 Prozent der Befragten bejahten diese Aussage teils/teils. Der Aussage "Durch die israelische Politik werden mir die Juden immer unsympathischer." stimmten 12,8 der Befragten voll zu.Quelle
- Aus einer Bertelsmann-Studie von 2015 geht hervor, dass traditioneller Antisemitismus "relativ konsistent, stabil und änderungsresistent" sei. 23 Prozent der Bevölkerung stimmten zum Beispiel der Aussage zu "Juden haben auf der Welt zu viel Einfluss". Im Vergleich zu 2013 sind die Zustimmungswerte leicht gesunken. Die Ergebnisse legen nahe, dass diese Form des Antisemitismus besonders unter älteren Befragten verbreitet ist.Quelle
Forscher*innen der Technischen Universität Berlin haben 2018 untersucht, wie sich Antisemitismus im Internet äußert. Die Studie zeigt, dass "klassische" Formen der Judenfeindschaft im Netz stark verbreitet sind. So beinhalteten über die Hälfte (54 Prozent) der untersuchten antisemitischen Online-Kommentare "klassisch" antisemitische Stereotype. 33 Prozent der Kommentare enthielten israelbezogenen Antisemitismus.Quelle
Im Lagebild Antisemitismus beschreibt der Verfassungsschutz das Internet als "wesentlichen Dynamisierungsfaktor" antisemitischer Hetze. Sie werde dort etwa über Blogs, Videoportale oder Gaming-Server verbreitet. Zudem vollziehen sich dort Radikalisierungsprozesse: Auf den Portalen werden nicht nur Drohungen ausgesprochen, sondern auch Gewalttaten angekündigt und im Anschluss verherrlicht.Quelle
Ein Team der Universität Bielefeld hat im Auftrag des "Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus" (UEA) 2017 den Forschungsstand der vergangenen 15 Jahre zu antisemitischen Einstellungen in der Bevölkerung in einer Expertise zusammengefasst.
Welche Erfahrungen machen Juden in Deutschland mit Antisemitismus?
Die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) befragte im ersten Halbjahr 2023 Jüdinnen und Juden in der EU zu ihren Erfahrungen mit Antisemitismus. Für 82 Prozent der Befragten in Deutschland ist Antisemitismus ein großes Problem in ihrem Leben (EU-weit: 84 Prozent). 86 Prozent finden, dass Antisemitismus in den letzten fünf Jahren zugenommen habe (EU-weit: 80 Prozent).Quelle
Viele Befragte in Deutschland haben selbst Antisemitismus bis hin zu Übergriffen erlebt:
- 28 Prozent fühlten sich im letzten Jahr diskriminiert, weil sie jüdisch sind (EU-weit 20 Prozent)
- 43 Prozent gaben an, selbst Belästigung im letzten Jahr erfahren zu haben (EU-weit 37 Prozent)
- 9 Prozent gaben an, in den letzten fünf Jahren angegriffen worden zu sein – der Wert ist höher als in vielen anderen Staaten, der EU-Durchschnitt ist 5 Prozent
- Zwei Drittel der Befragten erlebten Antisemitismus online (EU-weit: etwas weniger mit 61 Prozent). 25 Prozent hörten deswegen auf, sich an online-Diskussionen zu beteiligen, 16 Prozent nutzen Social-Media weniger.Quelle
Wegen Sicherheitsbedenken geben über die Hälfte der Befragten an, nie jüdische Symbole in der Öffentlichkeit zu tragen:
42 Prozent der jüdischen Gemeinden in Deutschland waren 2024 (Stand Oktober) von antisemitischen Vorfällen betroffen, darunter Beleidigungen, Zuschriften, Drohanrufe und Schmierereien. Das zeigt eine Umfrage des Zentralrats der Juden in Deutschland unter Vorsitzenden jüdischer Gemeinden. 63 Prozent geben an, dass der Krieg in Nahost negative Auswirkungen auf die Gemeinden habe – es gibt Angst vor Angriffen und einen spürbaren Anstieg von Antisemitismus. 43 Prozent der Gemeinden sagen, dass weniger Mitglieder am Gemeindeleben teilnehmen. Solidarität aus der Bevölkerung sei im letzten Jahr deutlich zurückgegangen.Quelle
Eine Befragung des "Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung" im Auftrag des "Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus" 2017 von rund 550 Menschen, die sich als jüdisch identifizieren, ergab:
- 78 Prozent sagen, dass Antisemitismus ihrer Einschätzung nach in den letzten fünf Jahren zugenommen habe
- 70 Prozent haben es im letzten Jahr vermieden, in der Öffentlichkeit jüdische Symbole zu tragen
- 58 Prozent meiden aus Sicherheitsgründen bestimmte Stadtteile oder Orte.Quelle
Erfahrungen von Jüdinnen und Juden zeigen sich außerdem im "Gemeindebarometer". Es ist eine nicht-repräsentative Umfrage des Zentralrats der Juden, die kurz vor und nach dem Anschlag in Halle am 9. Oktober 2019 durchgeführt wurde. Sie zeigte: Ein Großteil der Mitglieder jüdischer Gemeinden fühlt sich in ihren Gemeinden sicher. Das Sicherheitsgefühl hätte sich nach dem Anschlag in Halle kaum verändert: 49 Prozent stimmten der Aussage zu "Wenn ich in die Gemeinde gehe, fühle ich mich sicher". 37 Prozent stimmten der Aussage eher zu. Jedoch fühlen sich viele an ihrem Wohnort nicht sicher: Über 40 Prozent der Befragten fühlen sich eher unsicher oder überhaupt nicht sicher.Quelle
Wie viele antisemitische Straftaten gibt es?
Die Zahl antisemitischer Straftaten hat sich verdoppelt
In den ersten drei Quartalen 2024 wurden vorläufigen Angaben zufolge 3.370 antisemitische Straftaten erfasst, 89 davon Gewalttaten. Im gesamten Jahr 2023 wurden 5.164 antisemitische Straftaten erfasst, 148 davon Gewalttaten. Die antisemitischen Straftaten haben sich von 2022 auf 2023 verdoppelt (2022: 2.641 Straftaten), die meisten Straftaten wurden nach dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober verübt.Quelle
Die antisemitischen Straftaten reichen von Sachbeschädigung, über verbale Hetze bis hin zu körperlichen Attacken gegen Jüdinnen und Juden. Laut Zivilgesellschaftlichen Organisationen gibt es zunehmend Angriffe auf Gedenkstätten und Erinnerungsorte.Quelle
Antisemitische Straftaten und Vorfälle seit dem 7. Oktober 2023
Seit dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und der folgenden israelischen Gegenoffensive ist ein deutlicher Anstieg antisemitischer Vorfälle und Übergriffe zu verzeichnen:
- Mehr als 8.300 politisch motivierte Straftaten erfasste das BKA seit dem 7. Oktober im Zusammenhang mit dem Nahost-Krieg (Stand 25. September 2024). Darunter sind rund 3.380 antisemitische Straftaten – die meisten werden einer "ausländischen Ideologie“ oder "religiösen Ideologie" zugeordnet. Unter die Delikte fallen vor allem Sachbeschädigungen und Volksverhetzungen. Insgesamt hat sich die Zahl antisemitischer Straftaten von 2022 auf 2023 verdoppelt (siehe oben).Quelle
- Die Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e.V. (RIAS) verzeichneten zwischen dem 7. Oktober und 31. Dezember 2.787 antisemitische Vorfälle (strafbare und nicht strafbare), darunter 5 Fälle extremer Gewalt, 76 Angriffe und 117 Bedrohungen.Quelle
- Zwischen Oktober 2023 und September hat die Beratungsstelle OFEK 1.858 Beratungsanfragen erhalten, 1.413 wegen antisemitischer Vorfälle. Zum Vergleich: Das sind mehr Anfragen als in den sechs Jahren zuvor (1.240).Quelle
- 42 Prozent der jüdischen Gemeinden in Deutschland waren 2024 von antisemitischen Vorfällen betroffen, darunter Beleidigungen, Zuschriften, Drohanrufe und Schmierereien. Das zeigt eine Umfrage des Zentralrats der Juden in Deutschland unter Vorsitzenden jüdischer Gemeinden. 63 Prozent der Gemeinden geben an, dass der Krieg in Nahost negative Auswirkungen auf die Gemeinden habe – es gibt Angst vor Angriffen und einen spürbaren Anstieg von Antisemitismus. 43 Prozent der Gemeinden sagen, dass weniger Mitglieder am Gemeindeleben teilnehmen.Quelle
- Laut BMI haben seit dem 7. Oktober antisemitische Beiträge auf den sozialen Medien deutlich zugenommen. Im Zusammenhang mit dem Krieg habe das BKA über 3.500 Löschersuchen und 290 Entfernungsanordnungen in Bezug auf terroristische Inhalte gestellt (Stand 6. Februar 2024).Quelle
Vom wem werden die antisemitischen Straftaten begangen?
Rund 60 Prozent der Straftaten 2023 waren auf das rechte Milieu zurückzuführen, rund 23 Prozent einer "ausländischen Ideologie". In den Vorjahren waren meist über 80 Prozent der Straftaten dem rechten Spektrum zuzuordnen. Der Anteil könnten aber zu hoch gelegen haben, da Straftaten bisher dem rechten Spektrum zugeordnet wurden, wenn es keine "gegenteiligen Anhaltspunkte" gab. Das ändert sich im Jahr 2024, nicht klar zuordenbare Straftaten werden jetzt in der Kategorie "Sonstige Zuordnung" erfasst.Quelle
Bei den Vorfällen, die die Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus 2023 erfassten waren etwa 61 Prozent der Vorfälle keinem Milieu zugeordnet – u.a. da viele Schmierereien oder Beschädigungen mit unbekannten Täter*innen unter den Vorfällen waren. 9 Prozent wurden einem rechtsextremen Hintergrund zugeordnet.Quelle
Wie werden antisemitische Straftaten erfasst?
Die Landeskriminalämter übermitteln dem Bundeskriminalamt alle politisch motivierten Straftaten. Die Länder ordnen sie ausgehend von den Motiven zur Tatbegehung und den Tatumständen verschiedenen „Themenfeldern" zu (u. a. Hasskriminalität, eine Unterkategorie davon ist Antisemitismus) sowie einem „Phänomenbereich“ (-links-, -rechts-, -ausländische Ideologie-, -religiöse Ideologie-, -sonstige Zuordnung-), abhängig von den ideologischen Hintergründen und Ursachen der Tatbegehung.
Die PMK ist eine Eingangsstatistik, im Gegensatz zur Polizeilichen Kriminalstatistik. Straftaten werden also schon zu Beginn der polizeilichen Ermittlungen in die PMK aufgenommen. Bis Ende 2023 wurden antisemitische Straftaten automatisch der Kategorie -rechts- zugeordnet, wenn es keine anderen Anhaltspunkte gab. Das wurde für die Erfassung 2024 geändert: Straftaten, fallen unter -sonstige Zuordnung-, falls der Phänomenbereich unklar ist.Quelle
Mehr zur Schwächen der PMK-Statistik hier.
Welche weiteren Statistiken gibt es neben der polizeilichen Kriminalstatistik?
Die polizeiliche Erfassung antisemitischer Straftaten steht in der Kritik: Viele Übergriffe würden nicht registriert, sagen Fachleute. Eine Untersuchung der Universität Bielefeld zeigt: Nur rund ein Viertel der Betroffenen antisemitischer Vorfälle hat diese gemeldet. Betroffene haben oft kein Vertrauen darin, dass die Behörden sie ernst nehmen oder sich durch die Anzeige etwas ändere.
Verschiedene Organisationen führen daher eigene Zählungen durch:
- Die Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) erfassten 2023 bundesweit 4.782 antisemitische Vorfälle, das ist ein Anstieg um knapp 83 Prozent. Über die Hälfte der Vorfälle ereigneten sich nach dem 7. Oktober (2.787). Die Daten basieren auf Meldungen bei RIAS und Übermittlungen anderer Organisationen.Quelle
- Der Verband VBRG veröffentlicht jährlich Zählungen von Opferberatungsstellen, darunter Zahlen zu antisemitischen Gewalttaten nach dem Strafgesetzbuch: Für 2023 erfasste der Verband 318 Angriffe (2022: 201). Die erfassten Körperverletzungen haben sich von 2022 auf 2023 mehr als verdreifacht (von 21 auf 71).Quellehttps://verband-brg.de/wp-content/uploads/2024/05/VBRG_Jahresbilanz_rechte_Gewalt_2023_vorab_Sperrfrist210524_final.pdf
- Die Amadeu Antonio Stiftung führt eine Chronik antisemitischer Straftaten.Quelle
Wie verbreitet ist Antisemitismus an Schulen?
Zahl antisemitischer Vorfälle an Schulen
Es gibt keine offiziellen bundesweiten Daten zu antisemitischen Vorfällen an Schulen. Einzelne Bundesländer haben eine Meldepflicht eingeführt, so in Baden-Württemberg und Hessen. Die zivilgesellschaftlichen Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) dokumentierten 233 antisemitische Vorfälle an Schulen 2023. Die Fälle nahmen im Vergleich zum Vorjahr (86 Fälle) deutlich zu, insbesondere nach dem 7. Oktober.Quelle
In einer Befragung für den "Unabhängigen Expertenkreis Antisemitismus" (UEA) unter Jüdinnen und Juden 2016 gab rund ein Drittel der Befragten an, in den vergangenen zwölf Monaten in Kindergarten, Schule, Ausbildung oder Hochschule Antisemitismus erfahren zu haben.Quelle
Eine Befragung der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) unter Jüdinnen und Juden 2023 zeigte: 21 Prozent der Befragten in Deutschland, die eine Schule oder Universität besuchten, erfuhren dort negative Kommentare oder einen negativen Umgang, weil sie jüdisch sind. Fast genauso viele haben dort negative Haltungen gegenüber jüdischen Personen miterlebt. 41 Prozent gaben an, dass sie in der Schule oder der Universität verbergen, dass sie jüdisch sind.Quelle
Wie äußert sich Antisemitismus an Schulen?
Unter den Fällen, die RIAS dokumentiert, sind etwa antisemitische Beleidigungen von Schüler*innen oder Schmierereien an Schulgebäuden. Laut Studies des UEA zeige sich Antisemitismus an Schulen in Provokationen mit Bezügen zur NS-Zeit, starken anti-israelische Haltungen sowie der Verwendung des Wortes "Jude" als Beschimpfung.Quelle
Maßnahmen gegen Antisemitismus an Schulen
Im Juni 2021 legte die Kultusministerkonferenz gemeinsam mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland und der Bund-Länder-Kommission der Antisemitismusbeauftragten Vorschläge gegen Antisemitismus an Schulen vor: Schüler*innen und Lehrer*innen sollen Antisemitismus besser erkennen und Vorfälle als solche benennen können. Es sollen Verfahren geschaffen werden, damit antisemitische Vorfälle gemeldet und aufgearbeitet werden. Auch zivilgesellschaftliche Beratungsstellen sollen dafür eingebunden werden. Die Empfehlungen sehen darüber hinaus Fortbildungen für Lehrkräfte und eine Anpassung der Lehrpläne vor. Schüler*innen sollen sich etwa stärker mit der Vergangenheit und Gegenwart des Judentums auseinandersetzen.Quelle
Eine qualitative Studie zu Antisemitismus an Schulen in mehreren Bundesländern (Stand 2024) zeigt, dass Lehrer*innen abstrakt zum Thema Bescheid wüssten, Antisemitismus aber in der konkreten Situation oft nicht zuordnen können und sich nicht sicher seien, wie sie damit umgehen sollen. Antisemitische Vorfälle blieben somit oft ohne Konsequenz.Quelle
Mehr Einschätzungen von Fachleuten zum Thema im MEDIENDIENST-Artikel "Was tun gegen Antisemitismus an der Schule?"
Materialen zum Thema "Antisemitismus an Schulen"
Mehrere Institutionen stellen aktuelle Materialien und Methoden zu antisemitismuskritischer Bildungsarbeit auf ihren Webseiten zur Verfügung:
Gibt es einen verstärkten Antisemitismus unter Muslimen und Menschen mit Migrationshintergrund?
In der gesamten Gesellschaft ist Antisemitismus weit verbreitet – das zeigen viele Studien. Immer wieder wird diskutiert, ob Antisemitismus unter Muslim*innen und Menschen mit Migrationshintergrund weiter verbreitet ist als unter Personen ohne Migrationshintergrund oder nicht-Muslim*innen. Die Forschung kommt zu einem gemischten Ergebnis, das zeigt eine Expertise der Antisemitismusforscherin Sina Arnold, in der sie die wichtigsten wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Thema untersucht.
Je nachdem, um welche Ausprägungen des Antisemitismus es geht, lassen sich höhere oder geringere antisemitische Einstellungen feststellen:
- Beim klassischen Antisemitismus ist die Forschungslage bezüglich Menschen mit Migrationshintergrund widersprüchlich: Manche Studien finden höhere, manche niedrigere oder ähnliche Werte im Vergleich zu Menschen ohne Migrationshintergrund. Unter Muslim*innen ist die Forschungslage klarer: Sie weisen allgemein höhere Zustimmungswerte zu klassischem Antisemitismus auf als Nicht-Muslim*innen.
- Die Zustimmungswerten für Aussagen aus dem Bereich des Sekundären Antisemitismus sind bei Muslim*innen in den meisten Studien geringer oder vergleichbar mit denen von Nicht-Muslim*innen. Menschen mit Migrationshintergrund, vor allem wenn sie keine deutsche Staatsbürgerschaft besitzen, stimmen Aussagen aus dem Bereich des Sekundären Antisemitismus größtenteils seltener zu als Menschen ohne Migrationshintergrund.
- Zustimmungswerte für israelbezogenem Antisemitismus sind bei Muslim*innen in Deutschland allgemein höher als unter nicht-Muslim*innen. Innerhalb der Gruppe von Menschen mit Migrationshintergrund bestehen sehr große Unterschiede. Menschen mit Migrationshintergrund außerhalb der EU, vor allem aus der Türkei und arabischen Ländern, zeigen deutlich höhere Zustimmungswerte, die von Menschen mit Migrationshintergrund aus der EU oder Spätaussiedler*innen unterscheiden sich nur in geringem Maß von denen von Menschen ohne Migrationshintergrund.
Die Forschung zeigt: Die Kategorie "Migrationshintergrund" ist nur bedingt aussagekräftig. Eine Rolle spielt, aus welchem Herkunftsland und welcher Region Personen kommen – vor allem bei israelbezogenem Antisemitismus. Ein wichtiger Faktor ist die Aufenthaltsdauer: Die Zustimmung zu antisemitischen Aussagen schwindet, je länger Personen in Deutschland leben. Laut Sina Arnold erlernen sie eine "soziale Norm gegen Antisemitismus" und kommen an Schulen mit der Geschichte des Nationalsozialismus in Kontakt, was sie möglicherweise für das Thema sensibilisiere.
Eine weitere Rolle spielt, ob Personen eingebürgert wurden und ob sie selbst Diskriminierung erfahren haben. Sekundärer Antisemitismus stellt unter anderem eine Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte, der familiären Involvierung in der NS-Zeit und gewaltvollen Geschichte dar. Dies sei für Deutsche mit Migrationshintergrund weniger relevant, und für Menschen ohne deutschen Pass umso weniger.
Zur vollständigen Expertise hier (PDF).
Ergebnisse weiterer Studien:
Laut der repräsentativen Befragung des Religionsmonitors 2023 stimmen Muslim*innen in Deutschland deutlich häufiger klassischen sowie israelbezogenen antisemitischen Aussagen zu als die Gesamtbevölkerung. Ähnlich hohe Zustimmungswerte zeigen auch buddhistische und hinduistische Befragte. Werte zu sekundärem Antisemitismus liegen nicht vor. 37 Prozent der Muslim*innen stimmen klassisch antisemitischen Aussagen zu wie „Die Juden haben zu viel Einfluss in unserem Land“, in der Gesamtbevölkerung sind es 21 Prozent. 68 Prozent stimmen – im Vergleich zu 43 Prozent in der Gesamtbevölkerung – der Aussage zu „Was der Staat Israel heute mit den Palästinensern macht, ist im Prinzip auch nichts anderes als das, was die Nazis im Dritten Reich mit den Juden gemacht haben.“ (israelbezogener Antisemitismus). Die Werte sind höher bei stark religiösen Personen. Wie andere Studien bestätigt der Religionsmonitors höhere Zustimmungswerte bei Menschen, die selbst zugewandert sind.Quelle
Eine Expertise (2017) im Auftrag des "Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus" (UEA) befragte 18 Imame zu ihren Einstellungen gegenüber Juden und der Situation in ihren Gemeinden. Die befragten Imame kritisierten, dass es unter den Gläubigen antisemitische Einstellungen gebe. Viele gingen jedoch davon aus, dass hinter dem Antisemitismus keine geschlossenen Ideologien, sondern unreflektierte antisemitische Stereotype stünden. Die meisten Befragten sahen den Nahost-Konflikt als politischen, nicht als religiösen Konflikt, sie lehnten eine judenfeindliche Deutung des Islams ab.Quelle
Eine nicht repräsentative Studie im Auftrag des Unabhängigen Expertenkreis Antisemitismus untersuchte 2016 Antisemitismus von Geflüchteten aus mehrheitlich muslimischen Ländern. Das Ergebnis: Viele zeigen antijüdische Vorurteile. Die Mehrheit hat aber kein geschlossen antisemitisches Weltbild. Die meisten Befragten stehen dem Staat Israel kritisch gegenüber. Gleichzeitig berichten sie aber auch von positiven Alltagskontakten mit Jüdinnen und Juden und zeigen Empathie für deren Geschichte. Bei einigen hat sich die Haltung auch durch die eigene Fluchtgeschichte verändert. Über den Holocaust sind wenige der befragten Geflüchteten gut informiert. Insgesamt sind die Einstellungen sehr unterschiedlich und teils widersprüchlich. Die Forscher*innen sagen: Antisemitismus ist ein gesamtgesellschaftliches Problem – ihn nur bei einer Gruppe zu suchen, würde das Problem verharmlosen.Quelle
Schutz von Synagogen
Jüdische Einrichtungen erleben immer wieder antisemitische Angriffe – das zeigt eine Umfrage des Zentralrats der Juden 2024 unter Vorsitzenden von Gemeinden: 42 Prozent der jüdischen Gemeinden in Deutschland waren 2024 (Stand Oktober) von antisemitischen Vorfällen betroffen, darunter Beleidigungen, Zuschriften, Drohanrufe und Schmierereien.Quelle
Der antisemitische Anschlag auf die Synagoge in Halle/Saale am 9. Oktober 2019 legte eklatante Sicherheitsmängel an Synagogen in Deutschland offen: Nur wenige Synagogen in Deutschland waren gut geschützt, die Gemeinden mussten Maßnahmen wie Zäune, Poller, Einlassschleusen oder Videoüberwachung häufig selbst finanzieren. Viele konnten das nicht stemmen oder es ging auf Kosten des Gemeindelebens.
Sicherheitsüberprüfungen der Polizei nach dem Anschlag haben ergaben, dass mehrere Millionen Euro nötig sind, um Sicherheitslücken zu schließen. In wenigen Ländern handelte es sich um kleine Korrekturen. Einige Länder wie Berlin, Bayern oder NRW haben schon vor dem Anschlag viel für die Sicherheit von Gemeinden getan. Andere Länder hatten sich nicht an den Kosten für Schutzvorkehrungen beteiligt. Nach dem Anschlag haben Bund und Länder versprochen, Synagogen und andere jüdische Einrichtungen besser zu schützen.
Drei MEDIENDIENST-Recherchen 2020, 2021 und 2024 zeigen: Bund und Länder haben Millionen Euro zugesagt, um den Schutz von Synagogen zu verbessern. Das Schutzniveau hat sich deutlich verbessert. Und die Zusagen waren keine kurzfristige Angelegenheit. Die meisten Bundesländer, die Angaben machten, haben auch in den Folgejahren Gelder für Schutzmaßnahmen an jüdische Einrichtungen gezahlt und haben das auch in den nächsten Jahren vor. In manchen Ländern wurden die Gelder 2023 nochmal deutlich erhöht, so in Berlin, Bayern und Hessen.
Probleme sind weiterhin: Viele Gemeinden bleiben noch immer auf Kosten sitzen. In Baden-Württemberg gibt es etwa eine Selbstbeteiligung von Gemeinden für Sicherheitsmaßnahmen. Einige Bundesländer übernehmen nicht die Kosten für private Sicherheitsdienste – viele Gemeinden brauchen aber einen solchen Wachdienst, da die Polizei die Gemeinden nur unregelmäßig oder bei größeren Festen bewacht. Gemeinden berichten, dass die bürokratischen Hürden, um an die Gelder zu kommen, oft sehr hoch sind. Das ist gerade für kleine Gemeinden mit ehrenamtlichen Mitarbeitern schwierig.
Weitere Informationen
>> MEDIENDIENST (2024): 5 Jahre nach dem Anschlag in Halle, Recherche mit Experteneinschätzungen
>> MEDIENDIENST (2021): Können Jüdinnen und Juden in Deutschland sicher leben?, Pressegespräch, hier beschreibt Gemeindevorsitzende Seidler, was Sicherheitsmaßnahmen für das Gemeindeleben bedeuten
>> MEDIENDIENST (2021): Schutz jüdischer Einrichtungen zwei Jahre nach Halle, Recherche mit Experteneinschätzungen
>> MEDIENDIENST (2020): Schutz jüdischer Einrichtungen ein Jahr nach Halle, Recherche
>> MEDIENDIENST (2020): Synagogen sind nicht gut genug geschützt, Pressegespräch, hier berichtet Naomi Henkel-Gümbel, Überlebende des Anschlags in Halle
Anschlag von Halle am 9. Oktober 2019
Am 9. Oktober 2019 versuchte ein bewaffneter Rechtsextremer, in die Synagoge in Halle einzudringen. Kurz darauf griff er Menschen in einem Imbiss und auf der Straße an, er tötete zwei Personen. Eine Übersicht über den Anschlag und seine Folgen.
Der rechtsextreme Anschlag in Halle und Wiedersdorf
Am 9. Oktober 2019 versuchte ein bewaffneter Rechtsextremer in die Synagoge in Halle (Saale) einzudringen und die Besucher zu töten. In der Synagoge feierten 51 Personen einen Gottesdienst. Es war Jom Kippur, der höchste jüdische Feiertag. Neben Gemeindemitgliedern aus Halle waren Gäste aus anderen Städten und Ländern anwesend. Der Attentäter versuchte, durch die Tür der Synagoge einzudringen, um die Anwesenden zu töten. Er warf Brand- und Sprengsätze über die Mauer der Einrichtung. Er erschoss die Passantin Jana L.Quelle
Nachdem es ihm nicht gelang, in die Synagoge einzudringen, fuhr er weiter und griff Menschen im Imbiss "Kiez Döner" an – diesen wählte er aus, um Muslime zu töten. Dort erschoss er den Gast Kevin S. Am Imbiss und der darauffolgenden Flucht verletzte er mit den selbstgebauten Waffen und einem Mietwagen weitere Personen in Halle sowie in Wiedersdorf, einige von ihnen schwer.Quelle
Die Polizei verhaftete den Täter nach rund eindreiviertel Stunden auf einer Bundesstraße. Vor der Tat veröffentlichte er ein Bekennerschreiben, in dem er sein antisemitisches Weltbild darlegte und dazu aufforderte, Personen ihm verhasster Bevölkerungsgruppen zu töten, darunter Juden, Muslime und Schwarze Menschen. Die Tat streamte er live im Internet.Quelle
Der erste Gerichtsprozess: Urteil und Nebenklage
Der Prozess gegen den Attentäter lief vom 21. Juli bis 21. Dezember 2020 am Oberlandesgericht Naumburg. Es war einer der größten Gerichtsprozesse der Nachkriegszeit im Bereich Rechtsterrorismus.
Das Urteil:
- Der Täter erhielt das höchstmögliche Strafmaß und wurde zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt.
- Er wurde wegen zweier Morde verurteilt, 66 Mordversuchen, räuberischer Erpressung, fahrlässiger Körperverletzung und Volksverhetzung. Das Gericht stellte eine besondere Schwere der Schuld fest, der Täter sei in vollem Umfang schuldfähig gewesen.
- Das Gericht attestierte dem Täter eine rechtsextreme Gesinnung sowie ein antisemitisches, rassistisches, frauenfeindliches und menschenverachtendes Weltbild. Er wollte gezielt Menschen töten, die er als jüdisch, muslimisch oder ausländisch wahrnahm. Dem Gericht zufolge handelt es sich um einen "fanatisch-ideologisch motivierten Einzeltäter". Er sei ein Einzeltäter im juristischen Sinne, der keine weiteren Personen in die Planung einbezogen habe. Seine Radikalisierung fand jedoch im Austausch mit Gleichgesinnten in rechtsextremen Foren statt. Eine zentrale Orientierung für ihn sei das Attentat in Christchurch Anfang 2019 gewesen.Quelle
Die einzelnen Prozesstage listet der Verein democ hier auf und hat Protokolle zum Prozess in diesem Buch veröffentlicht. Wissenschaftler und Aktivisten haben eine Chronik der Tat erstellt und zeigen Parallelen zu anderen rechtsterroristischen Taten auf. Der Tathergang wird im Urteil aufgeschlüsselt.
Nebenkläger und Kritik am Urteil
Es gab 43 Nebenkläger*innen, darunter Personen aus der Synagoge und dem "Kiez Döner", Personen, die auf der Straße angegriffen wurden, sowie Familienangehörige der Opfer. Die Nebenkläger bezeichneten das Urteil als mutlos und als verpasste Chance:
- Es bestätige das Bild eines isolierten Einzeltäters und vernachlässige die gesellschaftliche Dimension der Tat sowie die gesellschaftliche Verbreitung von Antisemitismus, Rassismus und rechtsextremer Ideologien. Im Prozess habe sich ein veraltetes Verständnis der Radikalisierung von Rechtsextremen gezeigt, Online-Aktivitäten seien zu wenig berücksichtigt worden.
- Zum familiären Umfeld des Täters habe es zu wenig Aufklärung gegeben.
- Von Seiten der Nebenkläger gab es auch Kritik daran, dass bei zwei Personen kein versuchter Mord geurteilt wurde, bei einem Mitarbeiter des "Kiez Döner" – İsmet Tekin – und der Schwarzen Person Aftax I., den der Attentäter anfuhr.Quelle
Der zweite Gerichtsprozess
Mindestens zweimal versuchte der Attentäter aus dem Gefängnis auszubrechen. Am 12. Dezember 2022 nahm er zwei Gefängniswärter als Geiseln und bedrohte sie mit einer Waffe, die er während seiner Inhaftierung selbst gebaut hatte. Das Landgericht Stendal verurteilte den Attentäter im Februar 2024 dafür zu sieben Jahren Haft und Schmerzensgeld. Einem Gutachten zufolge wären vom Attentäter weitere Tötungsdelikte zu erwarten, hätte er die Gelegenheit dazu.Quelle
Untersuchungsausschuss
Ein Untersuchungsausschuss des Landtags Sachsen-Anhalts befasste sich 2020/2021 mit der Frage, ob der Anschlag hätte verhindert werden können. Das Ergebnis:
- Polizeihandeln: Der Ausschuss stellte keine wesentlichen Schwächen in Bezug auf die Planung und Handlungen der Polizei fest.Quelle
- Gefährdungseinschätzung: Nach Einschätzung der Polizei gab es an dem Tag keine besondere Gefährdung der Gemeinde. Laut Ausschuss war die konkrete Gefahr eines Terroranschlags kaum vorhersehbar, dennoch sei die Gefährdungseinschätzung unzureichend gewesen und müsse in Zukunft verbessert werden. Etwa brauche es bessere Analysen solcher Taten. Zudem müssten religiöse Feste stärker im Fokus der Polizei stehen.Quelle
- Prävention: Der Attentäter radikalisierte sich im Netz, dazu lagen den Sicherheitsbehörden und dem Verfassungsschutz keine Erkenntnisse vor. Personen, die sich online radikalisierten, müssten stärker in den Blick genommen werden. Zudem fehlte den Behörden Kenntnisse von Internetportalen.Quelle
Kritik an der Polizei und Sicherheitseinschätzung
Nach dem Anschlag standen die Sicherheitseinschätzung der Polizei, der Einsatz und die Ermittlungen der Polizei in der Kritik:
- Gefährdungseinschätzung und Schutz: Die Polizei schützte die Synagoge nicht besonders, obwohl am Tag der höchste jüdische Feiertag Jom Kippur gefeiert wurde. Für den Schutz der Synagoge hatte die Gemeinde finanziell selbst aufkommen müssen und dafür keine Unterstützung vom Land Sachsen-Anhalt erhalten. Mehr dazu unten.Quelle
- Unsensibler Umgang: Betroffene berichteten davon, dass die Polizei nach dem Anschlag unsensibel mit ihnen umgegangen sei.Quelle
- Fehlende Expertise: Auch kritisiert wurde die fehlende Expertise des BKA hinsichtlich der online-Radikalisierung des Täters und seiner Online-Aktivitäten.Quelle
Die Betroffenen: Belastung, Vernetzung und Solidarisierung
Viele Betroffene berichteten nach dem Anschlag von erheblichen psychischen Belastungen, posttraumatischen Belastungsstörungen und Angstzuständen. Einige zogen sich sozial zurück oder wurden arbeitsunfähig.Quelle
Zwischen Angehörigen und Betroffenen des Anschlags gab es starke Vernetzung und Solidarisierung. Zudem gab es eine starke Vernetzung mit Betroffenen anderer rassistischer und rechtsextremer Anschläge in Hanau 2020 und Mölln 1992. Sie gründeten das seitdem jährlich durchgeführte Festival of Resilience.
Zwei Überlebende des Anschlags übernahmen kurz nach dem Anschlag den "Kiez Döner" und wandelten ihn in ein Frühstückscafé ("TEKIEZ") um. Das Café sollte unter anderem ein Ort für Austausch und Gedenken sein. Es musste kurz darauf wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage schließen. Aktuell ist TEKIEZ ein Begegnungsraum.Quelle
Politische Reaktionen
Das Bundeskabinett berief nach den Anschlägen in Halle 2019 und Hanau 2020 einen Ausschuss zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus ein, der 2021 einen Abschlussbericht und einen Maßnahmenkatalog vorlegte. Weiterhin sollte die Zusammenarbeit zwischen den Sicherheitsbehörden verbessert, Hass im Netz konsequenter bekämpft und das Waffenrecht verschärft werden.Quelle
Insbesondere kündigten Bund und Länder an, Synagogen besser zu schützen. Denn der Anschlag legte eklatante Sicherheitsmängel an jüdischen Einrichtungen offen. Mehr dazu hier.
Berichterstattung
Nach dem Anschlag gab es Kritik an einigen Medienberichten: Medien hätten sich zu sehr auf den Täter fokussiert und ihm eine Bühne geboten, Betroffene fühlten sich von Journalist*innen bedrängt und unsensibel behandelt. Ein Projekt der Deutschen Journalistenschule und des MEDIENDIENST INTEGRATION hat sich die Berichterstattung angesehen und Tipps für die Berichterstattung erstellt.Quelle
Antisemitismus in der Corona-Pandemie
Antisemitische Verschwörungserzählungen wurden während der Corona-Pandemie vermehrt verbreitet. Das legen der Verfassungsschutz in seinem "Lagebild Antisemitismus" sowie zivilgesellschaftliche Organisationen in Berichten dar. Die Erzählungen werden insbesondere online verbreitet – etwa über den Messenger-Dienst Telegram – sowie auf Demonstrationen, in Redebeiträgen, auf Kleidungsstücken und Plakaten.
Unter anderem wurden antisemitische Verschwörungserzählungen darüber verbreitet, welchen Ursprung das Virus hat, warum die Präventionsmaßnahmen eingeführt wurden und welchen Zweck die Impfungen haben – darunter zum Beispiel die Vorstellung von einer geheimen Elite, die die Welt kontrollieren wolle. Zum anderen werden Corona-Maßnahmen mit dem Holocaust verglichen und die Verfolgung von Jüdinnen und Juden durch die Nationalsozialisten dadurch verharmlost. Besonders häufig ist die Verwendung des David-Sterns mit der Aufschrift "Ungeimpft" oder "Covid19" oder die Aufschrift auf Plakaten "Impfen macht frei".Quelle
Vorfälle und Straftaten
Die Zahl der erfassten antisemitischen Straftaten nahm während der Corona-Pandemie deutlich zu und stieg zwischen 2019 und 2021 von rund 2.000 auf 3.000 jährlich. Fachleuten zufolge sind ein Grund für den Anstieg die Straftaten, die aus den Corona-Demos heraus begangen wurden.Quelle
Die Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) erfassten im ersten Jahr der Pandemie zwischen März 2020 und März 2021 561 antisemitische Vorfälle – darunter auch nicht strafbare – mit Bezug zur Pandemie. Rund 58 Prozent wurden auf Demonstrationen begangen, rund 23 Prozent online. 21 Prozent hatten einen rechtsextremen Hintergrund, 45 Prozent einen verschwörungsideologischen.Quelle
Strafbarkeit von "Ungeimpft"-Sternen
Wie die Holocaust-Vergleiche durch sogenannte Ungeimpft-Sterne zu beurteilen sind, ist nicht eindeutig: Nicht jede antisemitische Äußerung, nicht jede Holocaust-Verharmlosung ist strafbar. Zwar kommt die Strafbarkeit wegen Volksverhetzung in Betracht. Allerdings kommt es dabei immer auf die konkreten Umstände des Einzelfalls an. Zudem muss laut § 130 Abs. 3 Strafgesetzbuch die Holocaustverharmlosung geeignet sein, den öffentlichen Frieden zu stören.
Eine MEDIENDIENST-Recherche aus dem Februar 2022 zeigt: Fast alle Bundesländer gehen bei den Sternen mittlerweile von einem Anfangsverdacht der Volksverhetzung aus, in einigen wurden die Sterne verboten. Die Gerichte urteilen bisher unterschiedlich. Für die Staatsanwaltschaften und Polizeibehörden der Bundesländer gibt es daher einen großen Handlungsspielraum: Sie können die "Ungeimpft"-Sterne für grundsätzlich strafbar erachten – oder weitere Gerichtsurteile abwarten. Wenn sie sie für strafbar erachten, bedeutet das: Sie können die Sterne auf Demos verbieten, Ermittlungsverfahren einleiten und die Personen vor Gericht anklagen.
>> Zur Recherche
Auf Anfrage des MEDIENDIENSTES betonen die Justiz- und Innenministerien der Bundesländer, dass letztlich die Gerichte über die jeweiligen Fälle urteilen müssen. Es zeigt sich allerdings eine klare Tendenz hin zur Kriminalisierung der "Ungeimpft"-Sterne. In fast allen Bundesländern wird mittlerweile mindestens von einem Anfangsverdacht der Holocaust-Verharmlosung nach § 130 Abs. 3 StGB ausgegangen.
Wichtige Quellen
RIAS (2020): Antisemitismus im Kontext der Covid-19-Pandemie, LINK
Berlin Ramer Institue (2021): Antisemitische Verschwörungsmythen in Zeiten der Coronapandemie am Beispiel QANON, LINK
Bundesamt für Verfassungsschutz (2022): Lagebild Antisemitismus 2020/21, LINK,
Amadeu Antonio Stiftung (2021): Zivilgesellschaftliches Lagebild Antisemitismus 2021, LINK,
Amadeu Antonio Stiftung: FAQ Verschwörungsideologie, LINK
News Zum Thema: Antisemitismus
Recherche 5 Jahre nach dem Anschlag in Halle
Am 9. Oktober 2019 versuchte ein bewaffneter Rechtsextremer, in die Synagoge in Halle einzudringen. Kurz darauf griff er Menschen in einem Imbiss und auf der Straße an, er tötete zwei Personen. Ein Factsheet zum Anschlag, den Folgen und zur Frage, wie es um den Schutz von Synagogen steht.
Zahlen und Fakten Antisemitische Straftaten haben sich verdoppelt
2023 wurden 5.164 antisemitische Straftaten erfasst, 148 davon Gewalttaten. Die meisten wurden seit Oktober erfasst. Das zeigen vorläufige Angaben der Bundesregierung. Im Vergleich zu 2022 haben sich die Straftaten verdoppelt. Weiter Zahlen in unserer Rubrik.
RECHERCHE "Ungeimpft"-Sterne: Polizei und Justiz greifen härter durch
Auf Corona-Demos und im Internet kommt es immer wieder zu Holocaust-Vergleichen durch sogenannte Ungeimpft-Sterne. Unsere neue Recherche zeigt: Fast alle Bundesländer gehen bei den Sternen mittlerweile von einem Anfangsverdacht der Volksverhetzung aus, in einigen wurden die Sterne verboten. Die Gerichte urteilen bisher unterschiedlich.