Der Anschlag von Halle am 9. Oktober 2019 legte eklatante Sicherheitsmängel offen: Der Angreifer konnte nur deshalb nicht in die Synagoge eindringen, weil er die Eingangstür nicht überwand. Die Tür war die Spende der privaten Organisation Jewish Agency. Das Land Sachsen-Anhalt – eigentlich zuständig für Schutzvorkehrungen – finanzierte solche Maßnahmen nicht. Zudem war die Polizei nicht vor Ort, obwohl die Gemeinde das höchste jüdische Fest Jom Kippur beging.
Der mangelnde Schutz der Synagoge in Halle war kein Einzelfall: Nur wenige Synagogen in Deutschland waren gut geschützt, die Gemeinden mussten Maßnahmen wie Zäune, Poller, Einlassschleusen oder Videoüberwachung häufig selbst finanzieren. Viele konnten das nicht stemmen oder es ging auf Kosten des Gemeindelebens. Sicherheitsüberprüfungen der Polizei nach dem Anschlag haben ergeben, dass Millionen Euro nötig sind, um Sicherheitslücken zu schließen. In wenigen Ländern handelt es sich um kleine Korrekturen. Einige Länder wie Berlin, Bayern oder NRW haben schon vor dem Anschlag viel für die Sicherheit von Gemeinden getan. Andere Länder hatten sich nicht an den Kosten für Schutzvorkehrungen beteiligt.
Nach dem Anschlag versprachen Bund und Länder, Synagogen und andere jüdische Einrichtungen besser zu schützen. Sie sagten mehrere Millionen Euro zu. Eine neue MEDIENDIENST-Recherche zeigt: Noch immer bleiben viele Gemeinden auf Kosten sitzen. In manchen Bundesländern wurde erst ein Bruchteil der zugesagten Mittel ausgezahlt. In einigen Ländern fehlen langfristige Zusagen.
Die vollständige Recherche finden Sie hier zum DOWNLOAD (pdf).
Die MEDIENDIENST-Recherche zeigt, dass es noch weitere Probleme gibt:
- Finanzierung: Manche Bundesländer stellen sicher, dass Schutzvorkehrungen nicht auf Kosten des Gemeindelebens gehen. Sie führen eigene Töpfe, die nur für Schutzmaßnahmen vorgesehen sind und finanzieren alle anfallenden Kosten. Andere Bundesländer machen das nicht: In Baden-Württemberg gibt es etwa für Schutzmaßnahmen eine Selbstbeteiligung der Gemeinden zwischen 5 und 20 Prozent der Gesamtkosten. In Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachen sind die Gelder – auch wenn sie erhöht wurden – nicht getrennt von den Geldern für das Gemeindeleben geführt. In Hessen bekommen Gemeinden das Geld erst ausbezahlt, wenn die Projekte fertig gestellt sind. Gemeinden berichten, dass die bürokratischen Hürden, um an die Gelder zu kommen, oft sehr hoch sind.
- Sicherheitspersonal: Einige Bundesländer übernehmen nicht die Kosten für private Wachdienste, darunter Brandenburg, Rheinland-Pfalz, Hessen und Thüringen. Doch viele Gemeinden brauchen einen solchen Wachdienst, da die Polizei die Gemeinden nur unregelmäßig oder bei größeren Festen bewacht.
- Langfristigkeit: Abzuwarten bleibt, ob die Bundesländer die Gemeinden langfristig unterstützen. Einige äußern, dass es sich nur um eine einmalige Aufstockung handelt und anschließend nur Wartungsarbeiten zu finanzieren seien. Andere Länder sehen hingegen, dass immer wieder Schutzvorkehrungen zu treffen sind und sie das auch langfristig einplanen müssen. Der Bund hatte nach dem Anschlag 22 Millionen Euro für weitere Schutzvorkehrungen zugesagt, die voll ausgezahlt wurden. Auf Anfrage sagt das Bundesinnenministerium dem MEDIENDIENST, dass es sich um einen einmaligen Zuschuss handelte – weitere Schutzmaßnahmen liegen in der Zuständigkeit der Länder.
Dazu die Einschätzung von Fachleuten:
Max Privorozki, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Halle (Saale):
"Im neuen Staatsvertrag verpflichtet sich Sachsen-Anhalt, Sicherungsmaßnahmen zu 100 Prozent zu finanzieren, soweit sie vom Landeskriminalamt empfohlen werden. Zunächst für fünf Jahre, wir hoffen aber sehr, dass die Unterstützung danach weiterläuft. Wir sind sehr zufrieden mit dem Ergebnis. Vorher hat das Land keinen Cent für die Sicherheit unserer Gemeinden ausgegeben. Ich dachte, dass der Bau nächstes Jahr abgeschlossen sein kann, doch es sind komplizierte Vorhaben, die längere Zeit in Anspruch nehmen. Darüber hinaus gibt es mehrere neue Projekte in Sachsen-Anhalt, die sich mit jüdischem Leben befassen und sich gegen Antisemitismus einsetzen. Es ist in den letzten zwei Jahren also einiges entstanden."
Rebecca Seidler, Vorsitzende der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover:
"Als Antisemitismusbeauftragte der liberalen jüdischen Gemeinden in Niedersachsen bin ich für die Sicherheitsfragen rund um unsere jüdischen Einrichtungen im Bundesland zuständig. Es ist ja schon an sich skandalös, dass der Antisemitismus in Deutschland immer noch so verbreitet und so gewaltvoll ist, dass jüdische Einrichtungen überhaupt so sehr geschützt werden müssen. Aber das ist leider unsere Realität. Umso schlimmer ist es daher für uns, wenn wir nicht die angemessene finanzielle und auch organisatorische Unterstützung bekommen, um unsere Synagogen zu schützen. Die Menschen, die zu uns in die Gemeinde kommen, müssen sich sicher fühlen – sonst kommen sie nicht. Der ganz konkrete bauliche und personelle Schutz der Einrichtung ist daher unmittelbar notwendig für die Ausübung unserer Religionsfreiheit. Es ist zwar gut und richtig, wenn die Politik sich regelmäßig zu einem "Nie wieder" bekennt und sich gegen Antisemitismus positioniert. Das muss aber auch konkret in Form von wirklicher Solidarität – und damit ist eben so etwas wie der Schutz von jüdischen Einrichtungen gemeint – verwirklicht werden. Sonst hilft es eigentlich nicht."
Marina Chernivsky, Geschäftsführung von OFEK e.V. – Beratungsstelle bei antisemitischer Diskriminierung und Gewalt:
"Es ist tragisch, dass jüdische Einrichtungen solch starke Sicherheitsvorkehrungen brauchen. Manche Gemeinden sind zudem immer noch nicht ausreichend geschützt und müssen sich selbst um ihre Sicherheit kümmern. Die real existierende Gefährdung belastet unterschwellig die jüdische Gemeinschaft, auch weil die Politik und Gesellschaft nicht genug unternehmen. Dabei geht es nicht nur um technische Sicherheitsvorkehrungen, sondern auch ernstzunehmende Prävention antisemitischer Gewalt. Es braucht die Einsicht, dass Antisemitismus ein gesamtgesellschaftliches Problem ist und die Vorfälle keine Einzelfälle sind. Es braucht eine systematische Sensibilisierung auf allen Ebenen, sowohl in der Lehrer*innenbildung als auch bei Strafverfolgungs- und Sicherheitsbehörden."
Irith Michelsohn, Generalsekretärin der Union progressiver Juden und Vorsitzende der Jüdischen Kultusgemeinde Bielefeld:
"Am Geld scheitert es etwa in NRW nicht. Ein großes Problem ist aber die Bürokratie: Es dauert ewig, bis Gelder für Schutzmaßnahmen fließen. Gemeinden müssen Kostenvoranschläge einholen, Bauanträge müssen genehmigt werden. Viele Vorstände sind davon überfordert. Sie arbeiten ehrenamtlich und ihnen fehlt das Know-how. Dabei wäre es wichtig, dass, sobald Sicherheitslücken gefunden werden, diese schnell geschlossen werden. Auch wenn es mehr Zusagen und zusätzliche Gelder gibt, herrscht in den Gemeinden viel Unsicherheit: Gerade ältere Leute sind seit dem Anschlag in Halle vorsichtiger geworden."
Von Andrea Pürckhauer
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