Der Artikel wurde ursprünglich am 19. Februar 2021 veröffentlicht. Aus aktuellem Anlass präsentieren wir ihn erneut.
2.351 antisemitische Straftaten haben die Behörden im Jahr 2020 registriert, rund 16 Prozent mehr als im Vorjahr. Das ist ein neuer Höchststand seit Beginn der Erfassung antisemitischer Straftaten in der Statistik zur "Politisch Motivierten Kriminalität" (PMK) 2001. Vermutlich wird die Zahl noch weiter steigen, da erfahrungsgemäß Fälle nachgemeldet werden.Quelle
Unter antisemitische Straftaten fallen etwa "Volksverhetzung", verbale Hetze oder körperliche Angriffe gegen Jüdinnen und Juden sowie Sachbeschädigung. Sie werden entweder zur Anzeige gebracht oder von der Polizei selbst ermittelt. Wie oft Täter verurteilt werden, sagen die Zahlen nicht aus. Denn es handelt es sich um eine polizeiliche "Eingangsstatistik". In den vergangenen Jahren ging ein Großteil der Delikte auf Tatverdächtige aus dem rechten Milieu zurück.Quelle
Wieso steigen die Zahlen so stark?
Als etwa 2006 oder 2014 besonders viele antisemitische Straftaten erfasst wurden, stand das meist im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt, erklärt die Historikerin Juliane Wetzel vom Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung. Der Anstieg in den letzten Jahren habe andere Gründe, so Wetzel. Ein wichtiger Faktor seien die sozialen Medien: Die tragen erheblich dazu bei, dass der Antisemitismus verbreitet wird und sich weiter radikalisiert. Das schlage sich auch in den Statistiken des Bundeskriminalamtes nieder. "Und zwar nicht nur, weil es mehr Taten gibt, sondern auch, weil diese sichtbarer werden. Auch für die Sicherheitsbehörden."
Welche Rolle spielen die Corona-Demos?
"Im vergangenen Jahr haben die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen erheblich dazu beigetragen, antisemitische Vorurteile zu verbreiten", sagt Gideon Botsch. Er ist Leiter der Forschungsstelle Antisemitismus und Rechtsextremismus am Moses Mendelssohn Zentrum der Universität Potsdam. Verschwörungserzählungen, die auf Demonstrationen und online verbreitet werden, bedienen sich häufig antisemitischer Stereotype, sehen etwa in der Corona-Pandemie eine jüdische Weltverschwörung. NS-Vergleiche, die den Holocaust leugnen oder verharmlosen, sind auf vielen Demonstrationen allgegenwärtig. Antisemitismus hat dadurch eine neue Dynamik und auch Radikalisierung erfahren, sagt Botsch. "Das ist sehr bedenklich, da eine große gesellschaftliche Gruppe in Berührung mit diesen Erzählungen kommt".
"COVID-19 hat eine große Rolle bei antisemitischen Vorfällen 2020 gespielt", sagt Alexander Rasumny vom Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS). In Berlin hatte ein beträchtlicher Anteil der dokumentierten antisemitischen Vorfälle einen Bezug zur Corona-Pandemie. Dazu gehören laut Rasumny etwa Äußerungen auf Demos, die den Holocaust verharmlosen oder die Erinnerung daran hinterfragen. Oder verschwörungsideologische Propaganda in Form von Aufklebern, Schmierereien oder im Netz.
Was ist über das Dunkelfeld bekannt?
Viele Vorfälle werden von der Statistik nicht erfasst. Eine Untersuchung der Universität Bielefeld von 2017 zeigt: Nur rund ein Viertel der Betroffenen antisemitischer Vorfälle hat diese gemeldet. Betroffene haben oft kein Vertrauen darin, dass die Behörden sie ernst nehmen oder sich durch die Anzeige etwas ändere. Ob eine Tat als antisemitisch eingestuft wird, hängt zudem davon ab, was Beamt*innen über Antisemitismus wissen und wie sensibel sie dem Thema begegnen.Quelle
Organisationen wie RIAS oder die Amadeu Antonio Stiftung arbeiten daran, das Dunkelfeld zu erhellen. RIAS hat ihre Arbeit in 2015 in Berlin begonnen, mittlerweile arbeitet sie bundesweit. Sie führt eigene Statistiken über antisemitische Vorfälle und ist eine Anlaufstelle für Betroffene. Laut Anetta Kahane von der Amadeu Antonio Stiftung haben solche Stellen dazu beigetragen, dass es eine höhere Aufmerksamkeit für antisemitische Straftaten gebe. "Dadurch werden die Behörden gezwungen, näher hinzusehen", so Kahane. Und Organisationen wie etwa RIAS unterstützen Betroffene dabei, Anzeigen auch anonym zu erstatten. All das trägt laut Kahane dazu bei, dass insgesamt mehr Vorfälle erfasst werden. Es gebe aber immer noch ein erhebliches Dunkelfeld.
Von Andrea Pürckhauer
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