MEDIENDIENST: Was können Schulen nach einem antisemitischen Anschlag wie dem in Halle tun?
Julia Bernstein: Es ist wichtig, Empathie herzustellen. Zum Beispiel können Lehrkräfte im Unterricht Interviews behandeln, in denen Betroffene zu Wort kommen. So lernen Schülerinnen und Schüler zu verstehen, was so ein Anschlag mit der betroffenen Community macht. Es ist wichtig, dass Schülerinnen und Schüler nachvollziehen können, wie eine solche Tat Ängste bei jüdischen Menschen auslöst und sie verunsichert. Es reicht aber nicht, den Anschlag in Halle als einmaliges Phänomen zu bearbeiten. Denn Antisemitismus ist nicht neu, sondern Alltag für die Betroffenen.
Wie können Schüler*innen lernen, was Antisemitismus bedeutet?
Es gibt mittlerweile viele tolle Angebote, zum Beispiel für Workshops an Schulen und auch viele Lernmaterialien online. Wichtig ist, dass Schülerinnen und Schüler jüdisches Leben kennenlernen. Wie meine aktuelle Forschung zeigt, hatten viele Schülerinnen und Schüler vor dem Anschlag in Halle noch nie etwas von Jom Kippur gehört. Das wäre aber wichtig, um ein Verständnis für die Lebensrealität der jüdischen Community zu entwickeln. Dafür könnten Lehrkräfte zum Beispiel jüdische Menschen in die Schule einladen, die über das vielfältige jüdische Leben in Deutschland mit den Schülerinnen und Schülern sprechen, und nicht nur über Antisemitismus.
In den letzten Jahren gab es immer wieder Debatten um antisemitische Vorfälle an Schulen. Das Thema ist im öffentlichen Diskurs also präsenter geworden. Hat sich dadurch etwas an Schulen geändert?
Vielen Lehrerinnen und Lehrern ist deutlich geworden, dass antisemitische Beleidigungen und Übergriffe an Schulen passieren. Es hat aber nicht dazu geführt, dass sich der Umgang mit Antisemitismus im Unterricht grundlegend geändert hätte. Viele Lehrkräfte haben die Vorstellung, dass Antisemitismus vielleicht in anderen Klassenräumen passiert, aber nicht unter den eigenen Schülerinnen und Schülern. Lehrerinnen und Lehrer erkennen den Antisemitismus in ihren Klassen oft nicht. Manche meinen sogar, dass Antisemitismus ein Phänomen aus Zeiten des Zweiten Weltkriegs ist, das überwunden wurde und nichts mit ihnen zu tun hat.
Woran liegt das?
Der Umgang mit Antisemitismus ist nicht Teil der Lehrerausbildung. Lehrerinnen und Lehrer erkennen Antisemitismus eher, wenn zum Beispiel Vernichtungsphantasien geäußert oder Nazi-Anspielungen gemacht werden. Verschwörungstheorien, die etwa von einer jüdischen Weltherrschaft sprechen – solche Theorien kursieren gerade wieder zur Corona-Pandemie – werden seltener als Antisemitismus identifiziert. Denn die funktionieren oft über Codes, die man kennen muss. Und natürlich gibt es auch unter Lehrerinnen und Lehrern antisemitische Einstellungen. Das größte Problem ist aber, dass im Unterricht selten über Antisemitismus gesprochen wird. Lehrerinnen und Lehrer haben Angst, die Büchse der Pandora zu öffnen und Antisemitismus hervorzuholen. Das ist ein großer Fehler. Denn Lehrkräfte können und müssen präventiv wirken.
PROF. DR. JULIA BERNSTEIN ist Professorin für Diskriminierung und Inklusion in der Einwanderungsgesellschaft an der Frankfurt University of Applied Sciences. Vergangene Woche erschien Ihr neues Buch "Antisemitismus an Schulen in Deutschland. Befunde – Analysen – Handlungsoptionen." mit Online-Materialien bei der Verlagsgruppe Beltz. Foto: Frankfurt UAS
Gibt es ein ausreichendes Bewusstsein dafür, dass Antisemitismus ein Problem an Schulen ist?
Lehrkräfte und betroffene Schülerinnen und Schüler nehmen das sehr unterschiedlich wahr. Schülerinnen und Schüler, die antisemitisch angefeindet werden, müssen täglich Angst vor weiteren Beleidigungen und Angriffen haben. Auf der anderen Seite kommt es häufig vor, dass Lehrerinnen und Lehrer antisemitische Äußerungen relativieren oder bagatellisieren. Zum Beispiel wird der Ausdruck "Du Jude" auf Schulhöfen häufig als Schimpfwort benutzt. Das ist für jüdische Jugendliche sehr verletzend. Es wird aber von Lehrkräften oft als Jugendsprache abgetan. Das kann zu einer Isolation und auch einer hohen Frustration bei den Betroffenen führen.
Interview: Andrea Pürckhauer
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