Europäische Asylpolitik und Grenzschutz
Mit der Freizügigkeit in Europa schwindet die Bedeutung der Grenzen von Nationalstaaten. Gleichzeitig spielen die Außengrenzen Europas eine immer größere Rolle – auch für Deutschland. Die Ankunft zahlreicher sogenannter "Mittelmeerflüchtlinge", die lebensbedrohliche Überfahrten wagen, steigert den Druck. Die EU reagiert mit immer strengeren Sicherheitsmaßnahmen und einer Reform ihres Migrationsrechts.
Wie viele Asylanträge werden in der EU gestellt?
2022
2022 wurden nach Angaben der Asylagentur der Europäischen Union (EUAA) rund 966.000 Asylanträge (einschließlich Folgeanträge) in der Europäischen Union gestellt. Das sind rund 50 Prozent mehr Menschen als im Vorjahr.
In dieser Rechnung sind Geflüchtete aus der Ukraine nicht enthalten, die in der Europäischen Union einen "vorübergehenden Schutz" erhalten haben. Die meisten Antragsteller*innen kamen aus Syrien (rund 132.000 Asylbewerber*innen), Afghanistan (129.000), Türkei (55.000), Venezuela (55.000) und Kolumbien (43.000).Quelle
Die meisten Anträge auf Asyl (einschließlich Folgeanträge) wurden von Januar bis November 2022 in folgenden Ländern gestellt:
- Deutschland: rund 215.000 Anträge
- Frankreich: 141.000
- Spanien: 109.000
- Österreich: 102.000
- Italien: 76.000
Quelle
2022 wurden rund 632.000 Entscheidungen über Asylanträge getroffen. Davon gingen rund 40 Prozent positiv aus. Die besten Aussichten auf einen positiven Asylbescheid hatten Syrer*innen (94 Prozent), Belarusen und Ukrainier*innen (jeweils 88 und 86 Prozent positive Bescheide), gefolgt von Menschen aus Eritrea, dem Jemen (jeweils 84 Prozent) und Mali (70 prozent). Rund 950.000 Asylanträge waren zum Stichtag 30. November 2022 noch in Bearbeitung.Quelle
2021
Im Jahr 2021 haben nach Angaben der EUAA rund 648.000 Menschen einen Asylantrag in der Europäischen Union gestellt – rund ein Drittel mehr als im Vorjahr. Die meisten von ihnen kamen aus Syrien (rund 117.000 Personen), Afghanistan (etwa 102.000) und Irak (30.000).Quelle
Die Asylbehörden der Schengen-Staaten haben in dieser Zeit rund 535.000 Entscheidungen in Asylverfahren getroffen. Etwa 34 Prozent von ihnen ging positiv aus. Ende Dezember 2021 stand bei rund 767.000 Anträgen eine rechtskräftige Entscheidung noch aus – davon rund 267.000 in Deutschland.Quelle
Die meisten Asylanträge gab es in folgenden Ländern (Zahlen aufgerundet):
- Deutschland: 190.500
- Frankreich: 120.700
- Spanien: 65.300
- Italien: 53.100
- Österreich: 38.600
Im Verhältnis zur Einwohnerzahl war die Zahl der Antragsteller 2021 am höchsten in:
- Zypern: etwa 11,3 Antragsteller*innen pro Tausend Einwohner
- Österreich: 4,3
- Malta: 3
- Griechenland: 2,7
- Luxemburg: 2,2
Quelle
Wie viele Geflüchtete kommen über das Mittelmeer?
Rund 114.500 Menschen erreichten im Jahr 2022 (Januar-Oktober) die Grenzen der Europäischen Union über das Mittelmeer.
- Rund 74.200 Personen kamen nach Italien über die sogenannte zentrale Mittelmeer-Route. Sie kamen vor allem aus Tunesien (22 Prozent), Ägypten (21 Prozent) und Bangladesh (16 Prozent). Weitere 314 die Insel Malta.
- Rund 24.500 Menschen erreichten Spanien über die westliche Mittelmeer-Route. Von ihnen kamen rund 22.800 Menschen über eine der verschiedenen Seerouten (sowohl nach Spanien als auch zu den Kanarischen Inseln) und etwa 1.700 Personen über die Landesroute zu den Exklaven Ceuta und Melilla.
- 12.300 Personen erreichten Griechenland über die sogenannte östliche Mittelmeer-Route (etwa 7.400 über Seewege und 4.900 über Landeswege). Sie kamen vor allem aus Palästina (18 Prozent), Afghanistan (16 prozent) und Somalia (15 Prozent). Weitere 3.300 Personen erreichten die Insel Zypern.Quelle
2021 kamen rund 123.300 Menschen als Flüchtlinge über das Mittelmeer nach Europa. Von ihnen erreichten etwa 9.200 Griechenland, 43.200 Spanien und 67.500 Italien.Quelle
Seenotrettung im Mittelmeer
Das Mittelmeer – insbesondere das Gebiet zwischen der libyschen und italienischen Küste – gilt nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) als eine der gefährlichsten Grenze der Welt: Viele Menschen kommen bei der Überfahrt ums Leben.Quelle
Wer für die Seenotrettung von Geflüchteten zuständig ist, hängt von der Region im Mittelmeer ab:
Im westlichen Mittelmeer kümmert sich vor allem die staatliche "Sociedad de Salvamento y Seguridad Marítima" aus Spanien um die Rettung von Geflüchteten. Dabei wird sie von der spanischen "Guardia Civil" unterstützt. Seit Februar 2019 arbeitet sie auch mit der marokkanischen Küstenwache zusammen. Laut Medienberichten werden Geflüchtete seitdem verstärkt in Marokko oder Algerien an Land gebracht.Quelle
Im östlichen Mittelmeer sind Einheiten der griechischen und türkischen Küstenwache sowie die europäische Frontex-Operation "Poseidon" für die Seenotrettung zuständig. Von den Menschen, die 2021 die Seereise über die östliche Mittelmeer-Route unternommen haben, kamen etwa 18.000 in Griechenland und Zypern an. Etwa 31.100 Personen wurden von der türkischen Küstenwache aufgegriffen und zurück in die Türkei gebracht. Seit dem EU-Türkei-Abkommen werden alle Geflüchtete, die von der türkischen Küstenwache aufgegriffen werden, zurück in die Türkei gebracht.Quelle
Im zentralen Mittelmeer werden mehr als 43 Prozent der Menschen, die die Überfahrt versuchen, von der libyschen und tunesischen Küstenwache aufgegriffen. Die libysche Küstenwache bringt die Schutzsuchenden wieder nach Libyen, wo sie wegen "illegaler Zuwanderung" inhaftiert werden. Zudem patrouillieren die italienische Küstenwache sowie vereinzelt Nichtregierungsorganisationen in diesem Gebiet.Quelle
IM FOKUS: ZIVILE SEENOTRETTUNG AUF DER ZENTRALEN MITTELMEER-ROUTE
Bis zum Sommer 2018 waren im zentralen Mittelmeer vor allem zivile Organisationen sowie Schiffe der italienischen Küstenwache und der Europäischen Union für die Seenotrettung zuständig. Heute spielen sie bei Rettungsoperationen nur noch eine untergeordnete Rolle.Quelle
Das hat folgende Gründe:
Seit Juni 2017 gibt es eine libysche "Search and Rescue"-Zone (SAR), für die allein die libysche Küstenwache zuständig ist. Das heißt: Sie koordiniert alle Seenotrettungsoperationen in diesem Gebiet und entscheidet, wer an Rettungsoperationen beteiligt ist. Seenotrettungs-Organisationen schließt die libysche Küstenwache von solchen Operationen aus.Quelle
Die italienische Regierung lässt seit Juli 2018 nur vereinzelt Schiffe ziviler Seenotretter ans Land. Das hat zur Folge, dass die NGOs seitdem deutlich weniger Schiffbrüchige in Sicherheit bringen können. Auch die EU-Missionen "Themis" und "Sophia" sind kaum noch an Seenotrettungs-Operationen beteiligt. Die "Themis"-Schiffe patrouillieren seit 2018 in einem viel größeren Gebiet als zuvor – und halten sich deshalb nur noch selten im zentralen Mittelmeer auf. Die Mission "Sophia" ist seit März 2019 nur noch für die Überwachung des Luftraums und für die Ausbildung der libyschen Küstenwache zuständig.Quelle
Entwicklung der Seenotrettung im zentralen Mittelmeer (2013-2020)
⇒ Infolge einer Reihe von tödlichen Schiffsunglücken im zentralen Mittelmeer startete die italienische Regierung im Oktober 2013 die Seenotrettungs- und Grenzschutz-Operation "Mare Nostrum", die in einem Jahr etwa 100.000 Geflüchtete rettete. Nach Abschluss von "Mare Nostrum" übernahm die europäische Operation "Triton" die Überwachung des Gebiets. Kritiker monierten: "Triton" verfüge nur über ein Drittel des Budgets von "Mare Nostrum" und sei qua Einsatzauftrag in erster Linie für die Grenzsicherung zuständig.
⇒ 2014 stieg die Zahl der Menschen, die bei der Überfahrt ihr Leben verloren, auf mehr als 3.000. Daraufhin beschlossen Hilfsorganisationen wie die "Migration Offshore Aid Station", "Sea Watch" und "Ärzte ohne Grenzen", eine private Seenothilfe im zentralen Mittelmeer zu organisieren.
⇒ 2015 wurde die europäische Operation EUNAVFOR MED gestartet, die später in "Sophia" umbenannt wurde. Hauptziele der Mission waren, Schleuser-Boote abzufangen und zu zerstören sowie die libysche Küstenwache zu trainieren.
⇒ 2016 stieg erneut die Zahl der Schiffsunglücke im zentralen Mittelmeer: Rund 4.500 Menschen starben auf der Überfahrt. Weitere Hilfsorganisationen statteten eigene Rettungsschiffe aus: "Save the Children", die niederländische Organisation "Boat Refugee Foundation", die spanische "Proactiva Open Arms" sowie die deutschen Organisationen "SOS Mediterranee", "Sea Eye" und "Jugend Rettet".
⇒ 2017 ging die Zahl der Toten im Mittelmeer zurück. Dass weniger Menschen starben, sei zum Großteil auf die Arbeit der NGOs zurückzuführen, sagte das Forschungsteam "Forensic Oceanography". Rettungsmannschaften der NGOs patrouillierten in der Regel viel näher an der libyschen Küste als die Schiffe der italienischen Küstenwache und der EU-Operationen "Sophia" und "Triton".Quelle
Dennoch standen die NGOs seit dem Sommer 2017 in der Kritik: Wiederholt wurde ihnen vorgeworfen, mit Schleuserbanden zusammenarbeiten. Mehrere Staatsanwaltschaften in Italien und auf Malta haben in diesem Sinne gegen NGOs ermittelt. Sechs Schiffe wurden seitdem beschlagnahmt und zwei wurden gezwungen, im Hafen zu bleiben, weil ihnen die Flagge entzogen wurde. Bis jetzt hat sich kein Verdacht erhärtet.Quelle
Im Zuge der folgenden Debatte führte die italienische Regierung im Juli 2017 einen Verhaltenskodex für NGOs ein, der die Aktivität der Organisationen unter strenge staatliche Kontrolle stellte. Gleichzeitig verstärkte die libysche Küstenwache mit Unterstützung der italienischen Marine die Kontrollen auf der zentralen Mittelmeer-Route. Dabei haben Hilfsorganisationen wiederholt Übergriffe der libyschen Kräfte auf ihre Schiffe sowie auf Flüchtlingsboote gemeldet.
Mehrere NGOs haben daraufhin ihre Beteiligung an Rettungsoperationen im Mittelmeer reduziert.
Was sind Pushbacks?
Mit dem englischen Begriff "Pushbacks" werden rechtswidrige Zurückweisungen von Flüchtlingen bezeichnet – vor allem an den Außengrenzen der Europäischen Union.
Mehrere Mitgliedstaaten der EU führen an den Außengrenzen der EU solche "Pushbacks" durch. Entsprechende Berichte gibt es von den Grenzen zwischen Belarus und Polen, Belarus und Litauen sowie von der serbisch-ungarischen, bosnisch-kroatischen, nordmazedonische-griechischen, albanisch-griechischen, türkisch-griechischen Grenzen sowie auf hoher See vor den Küsten Griechenlands und Italiens.Quelle
An vielen dieser Pushbacks sind laut Investigativrecherchen auch Einheiten der Grenzschutzagentur Frontex beteiligt, obwohl das laut der Frontex-Verordnung verboten ist. Eine Untersuchungskommission des Europäischen Parlaments hat diese Vorwürfe untersucht, konnte jedoch keine abschließende Beweise für eine Beteiligung von Frontex an Pushbacks finden. Eine Übersicht über die Vorwürfe gegen Frontex und die darauffolgenden Untersuchungen finden sich in diesem MEDIENDIENST-Artikel.Quelle
Sind Pushbacks illegal?
Pushbacks sind grundsätzlich illegal. Zwar dürfen EU-Mitgliedstaaten ausländische Staatsbürger*innen daran hindern, unerlaubt ihre Grenzen zu überschreiten. Es gelten aber Einschränkungen, die von verschiedenen europäischen und internationalen Abkommen zum Schutz der Menschenrechte festgelegt wurden:
- Verbot der Kollektivausweisung: Gruppen von ausländischen Staatsbürger*innen dürfen nicht kollektiv abgeschoben beziehungsweise zurückgewiesen werden – unabhängig davon, ob sie Flüchtlinge sind oder nicht. Das bestimmt die Europäische Menschenrechtskonvention (IV. Zusatzprotokoll, Artikel 4).
- Verbot der Folter und der unmenschlichen Behandlung: Niemand darf in einen Staat abgeschoben oder zurückgewiesen werden, in dem ihm oder ihr Folter oder unmenschliche Behandlung droht. Das hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 1989 von Artikel 3 der EMRK (Verbot der Folter) abgeleitet.
- "Non-refoulement"-Gebot: Wenn eine Person als Flüchtling in die Europäische Union kommt, dürfen die Mitgliedstaaten sie in keinen Staat zurückweisen, in dem ihr Leben oder ihre Freiheit aufgrund von "Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen politischen Überzeugung" bedroht sein würden. Das bestimmt die Genfer Flüchtlingskonvention (Artikel 33), die alle EU-Mitgliedstaaten unterschrieben haben. Das nennt man Prinzip der Nicht-Zurückweisung (non-refoulment).
- Selbst dann, wenn Geflüchtete über ein Land einreisen, in denen ihnen keine direkte Verfolgung droht, dürfen sie dorthin nicht ohne weiteres ab- oder zurückgeschoben werden. Denn als sogenannte sichere Drittstaaten gelten nur solche, die das non-refoulment-Prinzip der Genfer Flüchtlingskonvention einhalten (Richtlinie 2013/32/EU, Artikel 38).
- Alle Personen, die in der Europäischen Union Asyl beantragen möchten, haben zudem das Recht auf eine individuelle Prüfung ihres Asylantrags. Das bedeutet, dass bevor eine schutzsuchende Person ab- oder zurückgeschoben wird, eine Behörde ihren Asylgeusch prüfen muss (Richtlinie 2011/95/EU, Artikel 4).
Ob Pushbacks in allen Situationen illegal sind, ist umstritten. Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof (EGMR) hat dazu bislang zwei Grundsatzurteile getroffen:
- 2012 urteile der EGMR, dass der italienische Pushback von Bootsflüchtlingen aus Libyen illegal war. Die italienische Küstenwache hatte das Boot auf das Meer Richtung Libyen zurückgedrängt. Die Flüchtlinge seien auf dem offenem Meer dem Tode schutzlos ausgeliefert, was ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK und gegen das Verbot der Kollektivausweisung (siehe oben) darstelle.
- 2020 urteile der EGMR hingegen im Falle eines spanischen Pushbacks an der Grenze Melilla/Marokko, dass die Zurückweisung von zwei Männern rechtens war. Der Grund: Sie hätten absichtlich mit einer größeren Personengruppe und gewaltvoll die Grenze überquert, statt an regulären Grenzübergängen ihr Asylgesuch zu stellen. Sie konnten sich daher nicht auf ihren Anspruch auf eine individuelle Prüfung des Asylantrags berufen.
Zwar erhielt das Urteil aus 2020 in der Rechtswissenschaft auch Zustimmung, viele Jurist*innen kritisierten das jüngere Urteil aber. Insbesondere, dass das Urteil die tatsächlichen Gegebenheiten vor Ort falsch wiedergebe: So sei es faktisch für die Kläger*innen an dem Grenzübergang zu Spanien nicht möglich gewesen, einen Asylantrag zu stellen. Außerdem betonen einige Rechtswissenschaftler*innen, dass die meisten Schutzsuchenden – nämlich Bootsflüchtlinge – gar nicht die Möglichkeit haben, an einem regulären Grenzübergang einen Asylantrag zu stellen. Für sie finde die Argumentation der EGMR-Urteile daher keine Anwendung.Quelle
Wie viele Flüchtlinge sind im Mittelmeer gestorben?
Es ist unmöglich, die genaue Zahl der Geflüchteten zu ermitteln, die auf der Überfahrt über das Mittelmeer ums Leben gekommen sind. Laut Schätzungen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) waren es zwischen Januar und August 2022 mehr als 1.600 Menschen. Die IOM hat in dieser Zeit rund 109.500 Versuche gezählt, das Mittelmeer zu überqueren. Das heißt: Von 100 Personen, die die Überfahrt versucht haben, ist eine gestorben.
Mehr als 71 Prozent der Todesfälle ereigneten sich 2022 auf der zentralen Mittelmeer-Route (Italien und Malta). Die Dunkelziffer könnte aber viel höher sein. Hinzu kommen mehr als 380 Todesfälle auf der sogenannten westafrikanischen Route zu den Kanarischen Inseln.Quelle
Im Gesamtjahr 2021 gab es bei bei rund 194.500 Versuchen, das Mittelmeer zu überqueren, etwa 2.000 Todesfälle.Quelle
Die Zahl der dokumentierten Todesfälle im Mittelmeer ist in den vergangenen Jahren gesunken. Das liegt vor allem daran, dass weniger Menschen versuchen, über das Meer nach Europa zu gelangen.
Noch schwieriger ist es festzustellen, wie viele Menschen auf dem Weg zu den Mittelmeer-Küsten gestorben sind. In Nordafrika wurden zwischen 2014 und 2022 (Oktober) etwa 5.600 Todesfälle gemeldet. Die IOM geht aber davon aus, dass die tatsächlichen Zahlen deutlich höher liegen könnten.Quelle
Wie viele Geflüchtete kommen über die Balkanroute?
Östliches Mittelmeer
Im Jahr 2015 sind fast eine Million (vor allem syrische, afghanische und irakische) Geflüchtete aus der Türkei über Griechenland in die Europäische Union eingereist. Nachdem die Staaten der Europäischen Union im März 2016 mit der Türkei ein Flüchtlings-Abkommen geschlossen hatten, sank die Zahl der Geflüchteten, die aus der Türkei nach Griechenland kamen, stark. Bis heute ist sie weit unter den damaligen Werten geblieben: Zwischen Januar und September 2022 sind nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR lediglich 11.200 Geflüchtete aus der Türkei nach Griechenland eingereist. Im Gesamtjahr 2021 waren es knapp 9.200 Menschen. Rund ein Viertel von ihnen kam aus Afghanistan.
Im Sommer 2022 ist die Zahl der Personen, die versucht haben, über das östliche Mittelmeer nach Europa zu gelangen, gestiegen (s. Grafik). Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International verweisen dabei auf zunehmende Gewalt und Menschenrechtsverletzungen gegen Flüchtlinge in der Türkei.
Inzwischen versuchen Geflüchtete eher die Insel Zypern zu erreichen. Eine überwiegende Mehrheit der Geflüchteten, die die Seefahrt über die östliche Mittelmeer-Route versuchen, werden aber von der türkischen Küstenwache aufgegriffen. In vielen Fällen wurden Zurückweisungen von Geflüchteten auf hoher See dokumentiert (sogenannte Pushbacks).
Bulgarien
Viele Geflüchtete versuchen inzwischen auch, über die Landgrenzen der Türkei in die Europäische Union zu gelangen. Das ist sehr schwierig und gefährlich: Sowohl entlang der türkisch-bulgarischen als auch der türkisch-griechischen Grenze wurden Grenzmauern errichtet. Es wurden auch zahlreiche gewaltsame Zurückweisungen und andere Menschenrechtsverletzungen dokumentiert – sowohl von der griechischen als auch der bulgarischen Grenzpolizei.
Sehr wenige Menschen schaffen es, die türkisch-griechische Grenze in der Nähe des Evros-Flusses zu überqueren: Zwischen Januar und September 2022 waren es weniger als 5.000 Personen. Deutlich mehr Geflüchtete konnten über die türkisch-bulgarische Grenze in die EU gelangen: Zwischen Januar und August waren es rund 10.000 Personen. Mehr als die Hälfte von ihnen kommt aus Afghanistan, etwa 35 Pozent aus Syrien. Bereits im Sommer 2021 kamen deutlich mehr Geflüchtete über die türkisch-bulgarische Grenze – wahrscheinlich aufgrund der erschwerten Lebensbedingungen in der Türkei.
Serbien
Geflüchtete, die es zum griechischen Festland oder nach Bulgarien schaffen, reisen weiter über eine der zahlreichen Routen, die durch die Balkanhalbinsel führen – in der Regel nach Serbien. Auch auf dieser Route wurden vor allem afghanische und syrische Geflüchtete registriert: Ihr Anteil liegt bei jeweils 29 und 14 Prozent. Es ist schwierig, die genauen Routen zu rekonstruieren. Dem UNHCR zufolge reist die Mehrheit der Geflüchteten durch Nordmazedonien. Hier hat das UN-Flüchtlingshilfwerk zwischen Januar und Juli 2022 rund 12.500 Grenzübertritte registriert.
Wenige Geflüchtete bleiben lange in Serbien: Im August 2022 waren es laut Angaben des UNHCR etwa 8.000 Menschen – 2.000 von ihnen leben in improvisierten Camps und Unterkünften in der Nähe der EU-Grenzen. Die meisten Geflüchteten versuchen direkt weiter in die Europäische Union zu reisen – entweder nach Ungarn oder nach Kroatien. Sie werden aber sehr oft zurückgewiesen: Im Gesamtjahr 2021 wurden alleine an der serbisch-ungarischen Grenze rund 71.000 "Pushbacks" dokumentiert. Gewaltsame Zurückweisungen finden nicht nur an der serbisch-ungarischen Grenze statt, sondern auch an der Grenze zu Kroatien. Viele Geflüchtete versuchen über Bosnien-Herzegowina in die EU-Länder Kroatien oder Slowenien zu gelangen. Auch hier wurden zahlreiche gewaltsame Zurückweisungen festgestellt.
Wie viele Geflüchtete kommen über die Belarus-Route?
Belarus-Route: Von Mai 2021 bis Mitte Juli 2022 kam es auf der Belarus-Route (vor allem über Litauen und Polen) nach Schätzungen der polnischen, litauischen und lettischen Grenzpolizeien zu über 50.000 versuchten Grenzübertritten in die EU (Stand: Mitte Juli 2022). Den Schätzungen der Grenzpolizeien und von NGOs zufolge kommen die meisten Menschen aus dem Irak, Syrien, Afghanistan, Iran und Jemen - aber auch aus Ghana, Indien oder Kuba.Quelle
Grenze Belarus-Polen: Nach Angaben des polnischen Grenzschutzes gegenüber dem MEDIENDIENST gab es bislang insgesamt rund 42.000 versuchte Grenzübertritte von Belarus nach Polen (bis Mitte Juli 2022). Von September 2021 bis Juni 2022 errichtete die polnische Regierung entlang der Grenze zu Belarus eine knapp 200 Ortschaften umfassende Sperrzone, die Hilfsorganisationen und Medien den Zugang dorthin versperrte. Die polnische Grenzpolizei hinderte Migrant*innen am Grenzübertritt oder führte Pushbacks durch. Das verstößt sowohl gegen die Genfer Flüchtlingskonvention (Artikel 33) als auch gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (Artikel 3), da die Menschen so keinen Asylantrag stellen können. Das belarusische Militär hält die Menschen bei der Wiedereinreise an und zwingt sie zurück zur Grenze. So gerieten viele Geflüchtete in ein "Niemandsland" in den Wäldern an der Grenze.Quelle
Anfang Juli wurde die polnische Grenzmauer zu Belarus offiziell fertiggestellt und die Sperrzone auf 200 Meter entlang der Grenzmauer beschränkt. Inzwischen sind 23 Todesfälle aus dem Grenzgebiet offiziell dokumentiert, humanitäre Organisationen gehen von 187 Vermissten aus (Stand: Ende Juni 2022) Es kommen aber weiterhin Menschen über Belarus in die EU.Quelle
Deutsch-polnische Grenze:
Insgesamt kamen von Mai 2021 bis Mitte Juli diesen Jahres knapp 14.000 Migrant*innen mit "Belarus-Bezug" nach Deutschland, so die Bundespolizei gegenüber dem MEDIENDIENST. Auch wenn die Zahl der Migrant*innen seit Herbst 2021 deutlich abgenommen hat, kamen im März über 500, von April bis Juni jeweils über 300 Menschen monatlich über Belarus und Polen nach Deutschland, die meisten aus dem Irak oder Syrien.Quelle
Wie kommen die Migrant*innen nach Belarus?
Investigative Recherchen des polnischen Online-Mediums Outriders über den Sommer und Herbst 2021 ergaben, dass viele Menschen zu der Zeit über Dubai oder Istanbul nach Minsk eingereist sind. Private Reisebüros in der Türkei, dem Libanon und dem Irak, sowie private und staatliche Reiseunternehmen aus Belarus bewerben die Reise als touristisches Angebot auf ihren Webseiten und Sozialen Netzwerken.
Ähnliche Anbieter gibt es derzeit im Sudan oder in Ghana: Allein in der ghanaischen Hauptstadtregion bewarben mehrere Reisebüros Reisen nach Belarus (Stand: Mitte Juli 2022).
Einreise über Russland: Unter den derzeit in der EU ankommenden Migrant*innen sind zunehmend Menschen, die über Russland nach Belarus einreisen, entweder zu Fuß, mit dem Bus oder Taxi. Einige waren zuvor mit Studierenden-Visum in Russland. Grupa Granica und Hope and Humanity zufolge sind das zum Beispiel Menschen aus Ägypten, dem Jemen und der Demokratischen Republik Kongo. Ob es sich dabei um geflüchtete Studierende handelt, die sich bereits länger in Russland aufhalten, oder Menschen, die vor Kurzem über ein Studierenden-Visum eingereist sind, ist nicht festzustellen.Quelle
Umverteilung von Geflüchteten in der Europäischen Union
Eine faire Verteilung von Geflüchteten in der Europäischen Union ist seit Jahren ein kontroverses Thema. Derzeit ist nach der Dublin-III-Verordnung für Schutzsuchende das Land zuständig, in dem sie zuerst in die Europäische Union einreisen ("First country of entry"-Prinzip). Dadurch hätten EU-Staaten an den Außengrenzen der Europäischen Union wie Italien, Griechenland und Spanien einen Großteil der Asylbewerber*innen aufnehmen müssen.
Im Juni 2022 haben sich die Innenministerien der Europäischen Union darüber geeinigt, einen "Solidaritätsmechanismus" für die Verteilung von Geflüchteten einzuführen. Demnach sollen die EU-Mitgliedstaaten auf freiwillige Basis aus Seenot gerettete Geflüchtete aufnehmen können.Quelle
Ähnliche Verteilungsmechanismen hat es bereits in der Vergangenheit gegeben. Tatsächlich umverteilt wurden allerdings nur wenige Geflüchtete.
2019 haben sich die EU-Mitgliedstaaten auf einen Mechanismus geeinigt, um Bootsflüchtlinge, die im zentralen Mittelmeer gerettet wurden, auf andere Mitgliedstaaten zu verteilen. Nach Deutschland sind im Rahmen dieses Mechanismus insgesamt weniger als 500 Menschen eingereist. Daten für andere Länder sind nicht vorhanden.Quelle
2015 hatte die Europäische Kommission beschlossen, bis 2017 rund 160.000 Geflüchtete aus Italien und Griechenland auf andere EU-Mitgliedstaaten zu verteilen. Überstellt sollten vor allem Asylsuchende mit guter Bleibeperspektive werden, wie etwa Syrer*innen und Eritreer*innen und besonders Schutzbedürftige (Familien mit Kindern, Frauen, Kranke). Das Programm ist 2017 ausgelaufen. Lediglich 34.700 Menschen wurden in seinem Rahmen überstellt – etwa 12.700 aus Italien und rund 22.000 aus Griechenland. Die meisten von ihnen gingen nach Deutschland (ca. 11.000 Menschen), Frankreich (5.000) und nach Schweden (3.000). Ungarn und Polen haben hingegen keinen einzigen Asylsuchenden aus Italien und Griechenland aufgenommen.Quelle
Was ist das EU-Türkei-Abkommen?
Am 18. März 2016 einigten sich die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union (EU) auf ein Abkommen mit der Türkei. Es soll verhindern, dass Geflüchtete "illegal" in die EU einreisen. Das Abkommen trat am 20. März 2016 in Kraft. Aus Sicht der EU ist eines der wichtigsten Ziele in Erfüllung gegangen: Die Flüchtlingszahlen sind deutlich zurückgegangen. Das Abkommen stößt jedoch vielfach auf Kritik.
Was wurde beschlossen?
- Um "irreguläre" Einreisen in die EU zu verhindern, soll die Türkei ihre Grenzkontrollen verschärfen und stärker gegen Schlepper vorgehen.
- Flüchtlinge, die über die Türkei nach Griechenland eingereist sind und keinen Anspruch auf Asyl haben, sollen in die Türkei zurückgeführt werden.
- Für jeden Syrer, der in die Türkei zurückgeschickt wird, soll ein anderer Syrer legal in die EU einreisen dürfen ("Eins-zu-eins-Mechanismus").
- Bis Ende 2017 hat die EU der Türkei drei Milliarden Euro zugesagt, um Geflüchtete im Land besser versorgen zu können. Im Juni 2018 wurden weitere drei Milliarden Euro bis Ende 2019 bereitgestellt.
- Die EU hat der Türkei in Aussicht gestellt, die Verhandlungen zum EU-Beitritt zu beschleunigen und die Visumpflicht für türkische Bürger abzuschaffen.Quelle
Wie ist die Bilanz?
Die EU-Kommission veröffentlicht in regelmäßigen Abständen Zahlen zur Umsetzung des Abkommens. Aus den aktuellen Berichten und weiteren Quellen geht hervor (Stand: März 2019):
- Einreisen in die EU: Die Zahl der Flüchtlinge, die irregulär aus der Türkei nach Griechenland einreisen, ist deutlich gesunken. Im Jahr 2018 kamen durchschnittlich rund 92 Geflüchtete pro Tag auf den griechischen Inseln an. Im Oktober 2015 waren es über 6.000 Geflüchtete pro Tag. Laut Experten liegt der Rückgang nicht allein am Abkommen mit der Türkei, sondern auch an der Schließung der sogenannten Balkanroute. Zudem wüssten viele Flüchtlinge, wie prekär die Situation auf den griechischen Inseln ist, und blieben deshalb in der Türkei.
- Rückführungen in die Türkei: Seit Inkrafttreten des Abkommens wurden 2.437 Flüchtlinge aus Griechenland in die Türkei zurückgebracht. Auf den griechischen Inseln halten sich aktuell rund 12.000 Geflüchtete auf.
- Aufnahme von Syrern in die EU: Im Rahmen des "Eins-zu-eins-Austauschs" haben die EU-Mitgliedstaaten etwa 20.300 syrische Flüchtlinge aus der Türkei aufgenommen.
- Finanzhilfen für die Türkei: Die erste Tranche betrug drei Milliarden Euro, im Juni 2018 wurde eine weitere Tranche genehmigt, bevor die erste aufgebraucht war. Zwei Milliarden Euro kommen davon aus dem EU-Haushalt, eine Milliarde Euro übernehmen die Mitgliedsstaaten.
- Die Verhandlungen zum EU-Beitritt der Türkei sowie zu den Visaerleichterungen für türkische Bürger sind nur schleppend vorangekommen. Grund dafür sind auch die aktuellen politischen Entwicklungen in der Türkei.
- Todesopfer und Vermisste: Die Zahl der Todesopfer und Vermissten in der Ägäis ist seit dem Inkrafttreten des Abkommens gesunken. 2015 sind laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) noch 803 Menschen gestorben oder gelten als vermisst, 2017 waren es 62 Menschen, 2018 174.Quelle
Was wird kritisiert?
Wissenschaftler und Menschenrechtsorganisationen kritisieren das Abkommen:
- Die EU habe mit dem "Deal" die Verantwortung für Flüchtlinge ausgelagert und sich in Abhängigkeit des umstrittenen türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan (AKP) begeben.Quelle
- Die türkische Republik habe weltweit zwar die meisten Flüchtlinge aufgenommen, viele von ihnen hätten jedoch einen unsicheren Rechtsstatus und lebten in prekären Verhältnissen.Quelle
Zudem habe das Abkommen dazu geführt, dass sich die Lage der Flüchtlinge deutlich verschlechtert habe:
- Auf den griechischen Inseln seien mehrere Tausend Flüchtlinge gestrandet, ohne Zugang zu fairen Asylverfahren.
- Die Unterkünfte auf den Inseln seien massiv überbelegt, sodass Geflüchtete unter teils katastrophalen Bedingungen dort leben müssten.
- Schutzsuchende, die in die Türkei zurückgeführt wurden, seien dort nicht sicher, sondern würden inhaftiert und zum Teil in ihre Herkunftsländer abgeschoben. Zivilgesellschaftliche Initiativen und das UN-Flüchtlingshilfswerk in der Türkei hätten kaum Zugang zu den Geflüchteten.Quelle
Angesichts der prekären Umstände fordern viele Experten, den umstrittenen "EU-Türkei-Deal" aufzugeben. Welche Alternativen es zum Abkommen gäbe, haben Migrationsforscher in einem Artikel des MEDIENDIENSTES erklärt.
Warum kommen Menschen "illegal" über die EU-Grenzen?
Um einen Asylantrag in Europa zu stellen, müssen Flüchtlinge laut EU-Aufnahmerichtlinie zunächst nach Europa einreisen. Um das auf legalem Weg zu tun, brauchen sie ein Visum.
Doch Menschen in Krisengebieten haben meist keine Chance auf ein Visum. Das hat mehrere Gründe: Zum einen werden die diplomatischen Vertretungen in Kriegsregionen häufig geschlossen. Zum anderen ist die Vergabe eines Visums nach EU-Visakodex an strenge Bedingungen geknüpft, wie etwa dem Nachweis von ausreichenden finanziellen Mitteln.
Die Agentur der Europäischen Union für Menschenrechte (FRA) hat die Zahl der Schengen-Visa verglichen, die in Syrien vor und nach Beginn des Bürgerkriegs ausgestellten wurden: Während 2010 in Syrien noch rund 35.000 Schengen-Visa ausgestellt wurden, lag die Zahl 2013 fast bei Null.
Ohne ein Visum ist es auch nicht möglich, ein Flugzeug zu besteigen, um nach Europa zu gelangen. Denn nach einer EU-Richtlinie von 2001 gilt in dem Fall die Fluggesellschaft als "Beförderungsunternehmen", das sich als solches strafbar macht und eine entsprechende Geldstrafe zahlen muss.
Gemeinsames europäisches Asylsystem
Das Grundkonzept eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) wurde 1999 im Tampere-Programm definiert und durch das Haager Programm (2004) bestätigt. Ziel sei es, "ein einheitliches Asylverfahren und einen einheitlichen, unionsweit gültigen Rechtsstatus" zu etablieren. Damit sollte vor allem die sogenannte Schutzlotterie beseitigt werden: Denn Flüchtlinge trafen bislang in den verschiedenen Mitgliedsstaaten auf sehr unterschiedliche Standards bei der Aufnahme und den Asylverfahren.
Im Juni 2013 hat das Europäische Parlament neue Vorschriften für gemeinsame Verfahren und Fristen für die Bearbeitung von Asylanträgen verabschiedet. Diese wurden 2015 von allen Mitgliedstaaten übernommen. Ein Gutachten der Friedrich-Ebert-Stiftung hält einige wichtige Verbesserungen fest: So seien die Schutzstandards für Personen mit subsidiärem Schutz und minderjährige Flüchtlinge angehoben worden. Kritisiert werden die Möglichkeit, Asylsuchende zu inhaftieren, und die Möglichkeit zu beschleunigten Verfahren. Insgesamt gebe es "beachtliche Spielräume bei der Umsetzung von Normen, insbesondere in der Ausgestaltung der Asylverfahren".
Den Kern bilden zwei Verordnungen und mehrere Richtlinien, unter anderem:
- Die Dublin III - Verordnung regelt die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten und die Möglichkeit der Inhaftierung von Flüchtlingen.
- Die EURODAC-Verordnung regelt den Aufbau eines Fingerabdruck-Systems zur Kontrolle der Umsetzung der Dublin-Verordnungen.
- Die Qualifikations-Richtlinie regelt, wer als Flüchtling gilt.
- Die Aufnahme-Richtlinie regelt, wie die Aufnahme und Behandlung von Asylsuchenden zu erfolgen hat.
- Die Asylverfahrens-Richtlinie regelt die Grundlagen der Asylverfahren.
Einen verständlichen Überblick zur europäischen Asylgesetzgebung bietet ein Artikel des Rechtswissenschaftlers Jürgen Bast von Januar 2016.
Was ist FRONTEX?
Frontex ist die europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache. Ursprünglich als Koordinierungsstelle für die Grenzpolizeien der EU-Mitgliedstaaten gedacht, hat die Agentur zunehmend operative Funktionen übernommen. Dazu gehören unter anderem:
- Schiffe, Flugzeuge, Ausrüstung und Personal zur Überwachung der EU-Außengrenzen bereitstellen,
- Grenzpolizist*innen aus allen Mitgliedstaaten trainieren und bei gemeinsamen Operationen koordinieren,
- Grenz- und Küstenwachebeamte sowie Ausrüstung in EU-Mitgliedstaaten für Soforteinsätze senden,
- EU-Mitgliedstaaten bei Abschiebungen unterstützen,
- Grenzpolizeien in Drittstaaten unterstützen.
Bis 2027 soll die Agentur weiter ausgebaut werden: Es soll eine ständige Reserve mit 10.000 Einsatzkräften entstehen. Frontex soll außerdem die EU-Mitgliedstaaten stärker bei Abschiebungen und Drittstaaten beim "Grenzenmanagement" unterstützen.
Vorwürfe gegen Frontex
Schon seit mehreren Jahren steht Frontex in der Kritik wegen vermeintlicher Menschenrechtsverletzungen bei Grenzoperationen. Die Agentur soll Grenzpolizist*innen der Mitgliedstaaten bei gewaltsamen Festnahmen und Zurückweisungen unterstützt haben. In den vergangenen Monaten wurden zahlreiche Fälle an den Grenzen dokumentiert – vor allem von Medien und NGOs:
- Frontex-Einheiten sollen die griechische Küstenwache dabei unterstützt haben, Bootsflüchtlinge in türkische Gewässer zurückzuschieben,
- Frontex soll die Koordinaten von Geflüchteten in Seenot an die sogenannte libysche Küstenwache vermittelt haben, um ihre Festnahme zu ermöglichen,
- Frontex-Einheiten sollen an verschiedenen Grenzübergängen anwesend gewesen sein, an denen gewaltsame Zurückschiebungen stattgefunden haben (s. Karte).
Der schwerste Vorwurf gegen Frontex ist, dass die Agentur an unrechtmäßigen Zurückweisungen (Pushbacks) beteiligt gewesen sein soll – siehe hierzu: Was sind Pushbacks?.
Die Beteiligung an illegalen Pushbacks ist nur einer von mehreren Vorwürfen, die in den vergangenen Monaten gegen Frontex erhoben wurden. So hat der Europäische Rechnungshof festgestellt, dass die Agentur die Mitgliedstaaten nicht im vorgesehenen Maße bei der Grenzüberwachung unterstützt. Noch schwerwiegender sind aber die Vorwürfe der EU-Behörde für Betrugsbekämpfung (Olaf): Laut Medienberichten geht es unter anderem um Fälle von Belästigung und Betrug innerhalb der Agentur.
In einem im Juli 2021 erschienenen Bericht der Kontrollgruppe über die Aktivitäten von Frontex des Europäischen Parlaments heißt es, die Agentur hätte vertrauenswürdige Berichte von internationalen Organisationen über Menschenrechtsverletzungen an den EU-Grenzen systematisch ignoriert.
Wer prüft die Aktivitäten von Frontex?
Die Aktivitäten von Frontex werden von verschiedenen Instanzen beaufsichtigt.
- An erster Stelle steht der Verwaltungsrat. Dieser besteht aus Vertreter*innen der Grenzbehörden der Schengen-Staaten plus Großbritannien und Irland und Vertreter*innen der Europäischen Kommission.
- Für die Wahrung der Grundrechte ist das "Consultative Forum" zuständig. Dazu gehören Vertreter*innen von 13 internationalen Institutionen und Menschenrechts-Organisationen. In seinem jüngsten Bericht aus dem Jahr 2020 hat das "Consultative Forum" die Vorwürfe über Menschenrechtsverletzungen als äußerst besorgniserregend bezeichnet.
- Hinzu kommt der Menschenrechtsbeauftragte, dessen Aufgabe ist, Grenzschutzoperationen zu bewerten, Operationgebiete zu besuchen und Berichte von Menschenrechtsverletzungen zu prüfen.
- Im März 2021 hat das Europäische Parlament zudem eine 14-köpfige Kontrollgruppe einberufen mit dem Auftrag, die Vorwürfe gegen Frontex zu prüfen. Die Kontrollgruppe hat im Juli 2021 einen Bericht veröffentlicht, in dem sie Frontex explizit vorwirft, Berichte über Menschenrechtsverletzungen bewusst ignoriert zu haben.
Migrationspolitik EU-Afrika
Die EU und einzelne europäische Staaten haben in der Vergangenheit mehrere umstrittene Abkommen mit afrikanischen Staaten geschlossen, um Migrationsbewegungen zu reduzieren. Spanien begann schon in den 1990er Jahren seine Migrationskontrolle nach Westafrika zu verschieben. 1998 legte die österreichische Präsidentschaft dem Europäischen Parlament ein "Strategiepapier zur EU-Migrations- und Asylpolitik" vor, in dem es unter anderem darum ging, Drittstaaten in das europäische Grenzsystem miteinzubeziehen.
Die spanische Regierung schloss 2005 im Rahmen des "Plan África" mehrere Abkommen mit westafrikanischen Staaten, unter anderem Marokko, Mauretanien, Mali und Senegal. Dabei ging es darum, irreguläre Einwanderer zurückzuführen und Migrationsrouten enger zu überwachen – auch mithilfe des spanischen Militärs. Im Gegenzug bekamen die afrikanischen Staaten mehr Entwicklungshilfe. Nach einem ähnlichen Muster ging die italienische Regierung 2008 ein „Freundschaftsabkommen“ mit dem libyschen Diktator Muammar al-Gaddafi ein.
Die Flüchtlingszahlen gingen zurück – doch gleichzeitig dokumentierten spanische und italienische Menschenrechtsorganisationen sowohl in Mauretanien als auch in Libyen willkürliche Inhaftierungen, Folter und andere Menschenrechtsverletzungen. Trotzdem bildeten diese Abkommen die Blaupause für zukünftige Vereinbarungen zwischen europäischen und afrikanischen Staaten.
Innerhalb von fast 20 Jahren gab es zahlreiche Gipfel und Prozesse, in denen – neben wirtschaftlicher Kooperation und Entwicklungshilfe – Migrationskontrolle eine zentrale Rolle spielte:
Wichtigste Ereignisse in der EU-Afrika-Migrationspolitik
• 2000 – Abkommen von Cotonou
2000 beschloss die EU gemeinsam mit 79 afrikanischen, karibischen und pazifischen Staaten im „Abkommen von Cotonou“ die erste supranationale Vereinbarung zur Migrationskontrolle. Die Vertragspartner sicherten sich die gegenseitige Rücknahme von irregulären Migranten zu.Quelle
• 2006 – Rabat-Prozess
Seit 2006 beteiligten sich 23 westafrikanische Staaten sowie weitere zentral- und nordafrikanische Staaten an dem „Rabat-Prozess“, der durch die EU initiiert wurde. Sie verfolgten das Ziel, irreguläre Migration vor allem aus Westafrika zu bekämpfen. Der „Rabat-Prozess“ leitete die stärkere Grenzkontrolle zwischen afrikanischen Staaten ein. Die Binnenmigration innerhalb Afrikas sollte so reduziert werden. Im Rahmen des Prozesses hat sich die EU zudem dazu verpflichtet, legale Migration zu fördern und die Synergie zwischen Migration und Entwicklung zu stärken.Quelle
• 2007 – Gemeinsame Strategie Afrika-EU
Die „Gemeinsame Strategie Afrika-EU“ wurde 2007 zwischen den 55 Mitgliedsstaaten der Afrikanischen Union und den Mitgliedstaaten der EU vereinbart. Beide Staatengemeinschaften beschlossen die „Bekämpfung illegaler Migration“ und entschieden, bei der Grenzkontrolle und Rücknahme von Migranten zu kooperieren.Quelle
• 2012 – Kooperation EU-Niger
Im Rahmen der zivilen Mission EUCAP Sahel-Niger haben der Europäische Rat und die nigrinische Regierung 2012 vereinbart, gemeinsame Maßnahmen zur „Verhinderung der irregulären Einwanderung und Bekämpfung damit verbundener Kriminalität“ einzuführen. Der westafrikanische Staat gilt als einer der wichtigsten Umschlagplätze für irreguläre Migration südlich der Sahara.
• 2014 – Karthoum-Prozess
Im Khartoum-Prozess fokussierte die EU die Zusammenarbeit mit elf ostafrikanischen Herkunfts- und Transitländern im Horn von Afrika. Die Verhandlungspartner verständigten sich zur Zusammenarbeit beim „Grenzmanagement“ und begründeten dies mit dem Ziel, „Menschenhandel und Schleuser einzudämmen“.Quelle
• 2015 – Valletta-Aktionsplan
Anders als von der EU erwartet, wurden nicht mehr ausreisepflichtige afrikanische Migranten zurückgeführt. Deshalb versuchte die Europäische Union, ihre vergangenen Vereinbarungen im Valetta-Prozess von 2015 zusammenzubringen. An ihm beteiligten sich die Regierungschefs von 66 Ländern aus Afrika und Europa sowie die Vorsitzenden zahlreicher internationaler Organisationen. Die EU-Politiker strebten danach, „Laissez-Passers“-Papiere – selbstausgestellte Abschiebepapiere – einzuführen. Sie scheiterten jedoch mit ihrem Vorhaben.Quelle
• 2015 – EU-Nothilfe-Treuhandfonds für Afrika
Im Rahmen des Valletta-Aktionsplans hat die EU einen Nothilfe-Treuhandfonds eingerichtet, der das Ziel hat, Fluchtursachen in den Herkunftsstaaten zu bekämpfen und irreguläre Migration zu unterbinden. Der Fonds hat bislang 177 Projekte in Ost-, Nord- und Westafrika (Sahel) finanziert und verfügt über ein Budget von 3,4 Milliarden Euro (Stand: März 2018).Quelle
• 2017 – Gipfeltreffen der Europäischen und Afrikanischen Union in Abidjan
Im Rahmen der "Gemeinsamen Strategie Afrika-EU" (siehe oben) haben die Mitglieder der Europäischen und Afrikanischen Union in der ivorischen Hauptstadt vereinbart, eine gemeinsame Arbeitsgruppe "Migration" einzurichten. Dabei geht es in erster Linie um die Bekämpfung der irregulären Migration – insbesondere von und nach Libyen.
News Zum Thema: EU-Asylpolitik
Ukrainische Geflüchtete 1,07 Millionen Kriegsflüchtlinge vorläufig in Deutschland registriert
15 Monate dauert der Krieg in der Ukraine an. Derzeit sind über eine Million Kriegsflüchtlinge vorläufig in Deutschland registriert. Ukrainer*innen steht humanitärer Schutz unter der Massenzustromrichtlinie zu - für Kriegsflüchtlinge ohne ukrainische Staatsbürgerschaft gelten zumeist andere Regeln.
Aufnahme von Geflüchteten "Wir haben viel von 2015-2016 gelernt"
Etliche Länder und Kommunen schlagen zum "Flüchtlingsgipfel" Alarm: Sie fordern mehr Geld, mehr Grenzschutz und mehr Abschiebungen. Es gibt aber Kommunen, in denen die Aufnahme von Geflüchteten funktioniert. Wie das geht, erklärt Miriam Koch, Beigeordnete für Kultur und Integration in Düsseldorf.
Fluchtrouten Zentrales Mittelmeer wird gefährlicher
Tunesien ist seit Ende 2022 das nordafrikanische Land, aus dem die meisten Geflüchteten in Richtung Europa in See stechen. Gründe dafür sind die Wirtschaftskrise und rassistische Übergriffe gegen Einwanderer*innen. Die Situation könnte weiter eskalieren, sagen Expert*innen vor Ort.