Europäische Asylpolitik und Grenzschutz
Mit der Freizügigkeit in Europa schwindet die Bedeutung der Grenzen von Nationalstaaten. Gleichzeitig spielen die Außengrenzen Europas eine immer größere Rolle – auch für Deutschland. Die Ankunft zahlreicher sogenannter "Mittelmeerflüchtlinge", die lebensbedrohliche Überfahrten wagen, steigert den Druck. Die EU reagiert mit immer strengeren Sicherheitsmaßnahmen und einer Reform ihres Migrationsrechts.
Wie viele Asylanträge werden in der EU gestellt?
2023
Im ersten Halbjahr 2023 wurden nach Angaben der Asylagentur der Europäischen Union (EUAA) rund 519.000 Asylanträge in der Europäischen Union gestellt. Das sind etwa 28 Prozent mehr Asylanträge als im Vorjahreszeitraum. In dieser Rechnung sind Geflüchtete aus der Ukraine nicht enthalten, die in der Europäischen Union einen "vorübergehenden Schutz" erhalten haben.
Die meisten Antragsteller*innen kamen aus:
- Syrien (rund 66.600 Asylbewerber*innen),
- Afghanistan (55.000),
- Venezuela (36.500),
- Türkei (34.000)
- und Kolumbien (33.700).Quelle
Die meisten Anträge auf Asyl (einschließlich Folgeanträge) wurden von Januar bis Juni 2023 in folgenden Ländern gestellt:
- Deutschland: rund 162.000 Anträge
- Spanien: 86.800
- Frankreich: 81.100
- Italien: 62.300
- Österreich: 23.000
Im Verhältnis zur Bevölkerung wurden die meisten Asyalnträge pro Tausend Einwohner*innen in folgenden Ländern gestellt:
- Zypern: 4,5 Asylanträge pro 1.000 Einwohner*innen
- Österreich: 2,5
- Estland: 2
- Deutschland: 1,9
- Luxemburg: 1,8
Quelle
Im ersten Halbjahr 2023 lag die durchschnittliche Schutzquote in der Europäischen Union bei rund 41 Prozent (Gesamtschutzquote ohne Gerichtsentscheidungen). Rund 95 Prozent der syrischen Asylbewerber*innen haben einen positiven Bescheid erhalten, so wie rund 58 Prozent der afghanischen Antragsteller*innen. Die Schutzquote für russische Schutzsuchende ist im ersten Halbjahr 2023 auf 35 Prozent gestiegen – für türkische Asylbewerber*innen ist sie hingegen auf rund 28 Prozent zurückgegangen. Rund 682.000 Asylanträge waren zum Stichtag 30. Juni 2023 noch in Bearbeitung.Quelle
2022
2022 wurden nach Angaben der Asylagentur der Europäischen Union (EUAA) rund 966.000 Asylanträge (einschließlich Folgeanträge) in der Europäischen Union gestellt – 50 Prozent mehr als im Vorjahr. Die meisten von ihnen kamen aus: Syrien (rund 132.000 Asylbewerber*innen), Afghanistan (129.000), Türkei (55.000), Venezuela (55.000) und Kolumbien (43.000).Quelle
Die meisten Anträge wurden in folgenden Ländern gestellt: Deutschland: rund (215.000 Anträge), Frankreich (141.000), Spanien (109.000), Österreich (102.000), Italien (76.000).Quelle
2022 wurden rund 632.000 Entscheidungen über Asylanträge getroffen. Davon gingen rund 40 Prozent positiv aus. Die besten Aussichten auf einen positiven Asylbescheid hatten Syrer*innen (94 Prozent), Belarusen und Ukrainier*innen (jeweils 88 und 86 Prozent positive Bescheide), gefolgt von Menschen aus Eritrea, dem Jemen (jeweils 84 Prozent) und Mali (70 prozent). Rund 950.000 Asylanträge waren zum Stichtag 30. November 2022 noch in Bearbeitung.Quelle
Flucht- und Migrationsrouten nach Europa und Deutschland
Ein Blick auf die Flüchtlingszahlen entlang der Hauptrouten, die aus dem Nahen Osten und Afrika nach Europa führen, zeigt: Es ist nahezu unmöglich, genau zu wissen, wer über welche Route in welches Land gekommen ist. Je nach Grenzübergang variieren die Zahlen der irregulären Grenzübertritte sowie die Herkunftsländer der abgefangenen Personen. Auch werden viele irreguläre Einwanderer*innen mehrfach erfasst – etwa, wenn sie wiederholt versuchen, über die Grenzen der Europäischen Union zu gelangen. Hier finden Sie eine Zusammenstellung der Eckdaten für die wichtigsten Migrations- und Fluchtrouten, die in die Europäische Union und nach Deutschland führen.
Ziel- und Transitländer im Überblick:
Deutschland
Die Bundespolizei zählte zwischen Januar und Juli 2023 rund 56.000 "unerlaubte Einreisen" nach Deutschland. Das sind rund 55 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Die Zahl der "unerlaubten Einreisen" ist nur bedingt aussagekräftig, denn nicht alle einreisenden Personen werden von der Bundespolizei im Grenzgebiet aufgegriffen.
Von ihnen kamen rund 10.200 Menschen über die österreichische, etwa 7.400 über die schweizerische und rund 6.400 über die tschechische Grenze. Die meisten von ihnen kommen aus Syrien, der Türkei und Afghanistan.
Etwa 14.800 Menschen wurden zwischen Januar und Juli 2023 an der deutsch-polnischen Grenze aufgegriffen – vor allem Syrer*innen und Afghan*innen. Rund 9.100 von ihnen sollen über Belarus nach Polen und schließlich nach Deutschland gelangt sein.
Polen
Seit 2021 reisen viele Menschen vor allem aus dem Irak, aber auch aus Syrien, Afghanistan, Jemen und Ägypten nach Russland oder Belarus und versuchen anschließend über die belarusisch-polnische Grenze in die Europäische Union zu gelangen.
Zwischen Januar und Juli 2023 zählte die polnische Grenzpolizei rund 18.000 versuchte Grenzübertritte aus Belarus (2022 waren es etwa 15.700). Die belarussische Regierung soll Personen aus Drittstaaten aktiv anwerben und sie zum Teil durch Anwendung von Gewalt dazu zwingen, die EU-Grenzen zu überschreiten.
Die polnische Regierung hat daraufhin die Grenzkontrollen verschärft und einen 186 Kilometer langen Grenzzaun gebaut. Mindestens 49 Personen sind seit 2021 im Grenzgebiet gestorben.
Griechenland
Seit dem Abkommen zwischen der Türkei und den EU-Mitgliedstaaten aus dem Jahr 2016 ist die Zahl der Geflüchteten, die nach Griechenland über die Türkei kommen, relativ gering geblieben. Rund 15.700 Personen haben Griechenland zwischen Januar und August 2023 über den Seeweg erreicht.
Die überwiegende Mehrheit der Menschen, die versuchen, die griechischen Inseln zu erreichen, werden von der türkischen Küstenwache aufgegriffen – 2022 waren es mehr als zwei Drittel aller versuchten Überfahrten. Es gibt zahlreiche Belege dafür, dass die griechische Küstenwache Boote mit Geflüchteten auf hoher See zurückschiebt (Pushbacks).
Von den Geflüchteten, die in diesem Jahr Griechenland erreicht haben, waren die meisten Palästinenser*innen und Afghan*innen. Rund 3.700 Personen schafften es zudem über die Landesgrenzen in der Nähe des Flusses Evros. Seit 2012 gibt es an der griechisch-türkischen Grenze einen ca. 35 Kilometer langen Grenzzaun. Auch hier wurden gewaltsame Pushbacks festgestellt.
Serbien und Westbalkan
Die sogenannte Westbalkan-Route gilt als die Hauptroute für Personen, die aus dem Nahen Osten in Richtung Mitteleuropa flüchten. Es ist sehr schwierig festzustellen, wie viele Personen über die "Westbalkan-Route" aus Griechenland oder Bulgarien nach Mitteleuropa gelangen. Allein in Serbien sollen nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR zwischen Januar und Juli 2023 knapp 51.500 Personen angekommen sein. Das waren rund sieben Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum.
Da jedoch viele der Personen, die durch die Westbalkan-Region reisen, wiederholt an verschiedenen Grenzen zurückgeschoben und mehrfach registriert werden, schätzt das UNHCR, dass die reale Zahl der Personen, die 2023 durch die Region gereist sind, bei ungefähr 14.700 liegt. Zum Teil gewaltsame Zurückschiebungen von Migrant*innen und Geflüchteten wurden an der ungarischen, rumänischen, kroatischen, albanischen und nordmazedonischen Grenze dokumentiert.
Italien
Italien ist das europäische Land, das aktuell die meisten Migrant*innen und Geflüchtete aus Afrika zuerst erreichen. In der Regel fahren sie von Libyen oder Tunesien aus entlang der sogenannten zentralen Mittelmeer-Route. Zwischen Januar und August 2023 kamen in Italien rund 113.000 Menschen an – das sind etwa zwei Mal so viele wie im Vorjahreszeitraum. Die meisten Geflüchteten und Migrant*innen, die Italien erreichen, kommen aus Guinea, der Elfenbeinküste (beide rund 13 Prozent) und Ägypten (neun Prozent).
Grund für den Anstieg der Flüchtlingszahlen sind die vielen Migrant*innen aus Afrika südlich der Sahara, die aus Tunesien aufgrund von rassistischer Gewalt fliehen mussten. 2023 hat Tunesien mit rund 34.300 versuchten Überfahrten Libyen als Startpunkt für die Überfahrt im zentralen Mittelmeer abgelöst.
Viele Migrant*innen und Geflüchtete auf der zentralen Mittelmeer-Route werden von libyschen und tunesischen Kräften aufgegriffen – zwischen Januar und Mai 2023 waren es mehr als ein Drittel aller Menschen, die die Überfahrt versucht haben. Zahlreiche Berichte werfen den libyschen Milizen, die im Mittelmeer patrouillieren, vor, sie würden Migrant*innen gewaltsam festnehmen und foltern. Die zentrale Mittelmeer-Route ist auch die gefährlichste Route im Mittelmeer: Allein zwischen Januar und August 2023 wurden auf dieser Route mehr als 2.000 Todesfälle dokumentiert.
Es ist nicht klar, wie viele der Geflüchtete und Migrant*innen, die Italien erreichen, später einen Asylantrag in Deutschland stellen. Im ersten Halbjahr 2023 wurden in Italien rund 62.300 Asylanträge gestellt. Es scheint unwahrscheinlich, dass viele der Personen, die in Italien angekommen sind, nach Deutschland weitergereist sind – wie ein Vergleich der Ankunftszahlen nach Herkunftsländern mit den Flüchtlingszahlen in Deutschland zeigt.
Spanien
Die Zahl der Personen, die aus Westafrika Spanien erreichen, ist 2023 zurückgegangen und lag zwischen Januar und August bei rund 19.600 Personen. Etwa die Hälfte von ihnen kam auf den Kanarischen Inseln im Atlantischen Ozean an.
Die Route zu den Kanarischen Inseln gilt als eine der gefährlichsten Routen weltweit. Zwischen Januar und August 2023 wurden hier etwa 140 Todesfälle dokumentiert. Die Dunkelziffer ist jedoch viel höher. Rund 1.000 Personen haben die Grenzen der spanischen Exklaven Ceuta und Melilla überquert. Der Grenzzaun um die Exklaven wurde in den 90er Jahren fertiggestellt.
Wie viele Geflüchtete kommen über das Mittelmeer?
Rund 179.000 Menschen erreichten zwischen Januar und September 2023 die Grenzen der Europäischen Union über das Mittelmeer (Stand: 19.9.2023). Das sind rund 62 Prozent mehr Ankünfte als im Vorjahreszeitraum.
- Rund 128.600 Personen kamen nach Italien über die sogenannte zentrale Mittelmeer-Route. Sie kamen vor allem aus Guinea, der Elfenbeinküste (jeweils 13 Prozent) und Ägypten (neun Prozent). Weitere 231 Personen haben die Insel Malta erreicht.
- Rund 24.400 Menschen erreichten Spanien über die westliche Mittelmeer-Route. Von ihnen erreichten rund 13.700 Menschen die kanarischen Inseln. 1.126 Personen kamen über die Landesroute zu den Exklaven Ceuta und Melilla.
- 22.900 Personen erreichten Griechenland über die sogenannte östliche Mittelmeer-Route (etwa 18.600 über Seewege und 4.300 über Landeswege). Sie kamen vor allem aus Palästina (22 Prozent), Afghanistan (13 prozent) und Somalia (11 Prozent). Weitere 3.100 Personen erreichten die Insel Zypern.Quelle
2022
Im Gesamtjahr 2022 erreichten 159.000 Menschen die die Europäischen Union über das Mittelmeer.
- Zentrale Mittelmeer Route (Italien und Malta): etwa 105.100 Personen – aus Tunesien (22 Prozent), Ägypten (21 Prozent) und Bangladesh (16 Prozent).
- Westliche Mittelmeer-Route: rund 32.000 Menschen – 29.900 Menschen über Seerouten und etwa 1.900 Personen über die Landesroute.
- Östliche Mittelmeer-Route: rund 18.800 Personen – aus Palästina (18 Prozent), Afghanistan (16 prozent) und Somalia (15 Prozent). Weitere 3.300 Personen erreichten die Insel Zypern.Quelle
Seenotrettung im Mittelmeer
Das Mittelmeer – insbesondere das Gebiet zwischen der libyschen und italienischen Küste – gilt nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) als eine der gefährlichsten Grenze der Welt: Viele Menschen kommen bei der Überfahrt ums Leben.Quelle
Wer für die Seenotrettung von Geflüchteten zuständig ist, hängt von der Region im Mittelmeer ab:
Im westlichen Mittelmeer kümmert sich vor allem die staatliche "Sociedad de Salvamento y Seguridad Marítima" aus Spanien um die Rettung von Geflüchteten. Dabei wird sie von der spanischen "Guardia Civil" unterstützt. Seit Februar 2019 arbeitet sie auch mit der marokkanischen Küstenwache zusammen. Laut Medienberichten werden Geflüchtete seitdem verstärkt in Marokko oder Algerien an Land gebracht.Quelle
Im östlichen Mittelmeer sind Einheiten der griechischen und türkischen Küstenwache sowie die europäische Frontex-Operation "Poseidon" für die Seenotrettung zuständig. Von den Menschen, die in den ersten fünf Monaten von 2023 die Seereise über die östliche Mittelmeer-Route unternommen haben, kamen etwa 6.700 in Griechenland und Zypern an. Etwa 13.400 Personen wurden von der türkischen Küstenwache aufgegriffen und zurück in die Türkei gebracht. Seit dem EU-Türkei-Abkommen werden alle Geflüchtete, die von der türkischen Küstenwache aufgegriffen werden, zurück in die Türkei gebracht.Quelle
Im zentralen Mittelmeer werden etwa ein Drittel der Menschen, die die Überfahrt versuchen, von der libyschen und tunesischen Küstenwache aufgegriffen. Die libysche Küstenwache bringt die Schutzsuchenden wieder nach Libyen, wo sie wegen "illegaler Zuwanderung" inhaftiert werden. Zudem patrouillieren die italienische Küstenwache sowie vereinzelt Nichtregierungsorganisationen in diesem Gebiet.Quelle
IM FOKUS: ZIVILE SEENOTRETTUNG AUF DER ZENTRALEN MITTELMEER-ROUTE
Bis zum Sommer 2018 waren im zentralen Mittelmeer vor allem zivile Organisationen sowie Schiffe der italienischen Küstenwache und der Europäischen Union für die Seenotrettung zuständig. Heute spielen sie bei Rettungsoperationen nur noch eine untergeordnete Rolle.Quelle
Das hat folgende Gründe:
Seit Juni 2017 gibt es eine libysche "Search and Rescue"-Zone (SAR), für die allein die libysche Küstenwache zuständig ist. Das heißt: Sie koordiniert alle Seenotrettungsoperationen in diesem Gebiet und entscheidet, wer an Rettungsoperationen beteiligt ist. Seenotrettungs-Organisationen schließt die libysche Küstenwache von solchen Operationen aus.Quelle
Die italienische Regierung lässt seit Juli 2018 nur vereinzelt Schiffe ziviler Seenotretter ans Land. Das hat zur Folge, dass die NGOs seitdem deutlich weniger Schiffbrüchige in Sicherheit bringen können. Auch die EU-Missionen "Themis" und "Sophia" sind kaum noch an Seenotrettungs-Operationen beteiligt. Die "Themis"-Schiffe patrouillieren seit 2018 in einem viel größeren Gebiet als zuvor – und halten sich deshalb nur noch selten im zentralen Mittelmeer auf. Die Mission "Sophia" ist seit März 2019 nur noch für die Überwachung des Luftraums und für die Ausbildung der libyschen Küstenwache zuständig.Quelle
Entwicklung der Seenotrettung im zentralen Mittelmeer (2013-2020)
⇒ Infolge einer Reihe von tödlichen Schiffsunglücken im zentralen Mittelmeer startete die italienische Regierung im Oktober 2013 die Seenotrettungs- und Grenzschutz-Operation "Mare Nostrum", die in einem Jahr etwa 100.000 Geflüchtete rettete. Nach Abschluss von "Mare Nostrum" übernahm die europäische Operation "Triton" die Überwachung des Gebiets. Kritiker monierten: "Triton" verfüge nur über ein Drittel des Budgets von "Mare Nostrum" und sei qua Einsatzauftrag in erster Linie für die Grenzsicherung zuständig.
⇒ 2014 stieg die Zahl der Menschen, die bei der Überfahrt ihr Leben verloren, auf mehr als 3.000. Daraufhin beschlossen Hilfsorganisationen wie die "Migration Offshore Aid Station", "Sea Watch" und "Ärzte ohne Grenzen", eine private Seenothilfe im zentralen Mittelmeer zu organisieren.
⇒ 2015 wurde die europäische Operation EUNAVFOR MED gestartet, die später in "Sophia" umbenannt wurde. Hauptziele der Mission waren, Schleuser-Boote abzufangen und zu zerstören sowie die libysche Küstenwache zu trainieren.
⇒ 2016 stieg erneut die Zahl der Schiffsunglücke im zentralen Mittelmeer: Rund 4.500 Menschen starben auf der Überfahrt. Weitere Hilfsorganisationen statteten eigene Rettungsschiffe aus: "Save the Children", die niederländische Organisation "Boat Refugee Foundation", die spanische "Proactiva Open Arms" sowie die deutschen Organisationen "SOS Mediterranee", "Sea Eye" und "Jugend Rettet".
⇒ 2017 ging die Zahl der Toten im Mittelmeer zurück. Dass weniger Menschen starben, sei zum Großteil auf die Arbeit der NGOs zurückzuführen, sagte das Forschungsteam "Forensic Oceanography". Rettungsmannschaften der NGOs patrouillierten in der Regel viel näher an der libyschen Küste als die Schiffe der italienischen Küstenwache und der EU-Operationen "Sophia" und "Triton".Quelle
Dennoch standen die NGOs seit dem Sommer 2017 in der Kritik: Wiederholt wurde ihnen vorgeworfen, mit Schleuserbanden zusammenarbeiten. Mehrere Staatsanwaltschaften in Italien und auf Malta haben in diesem Sinne gegen NGOs ermittelt. Sechs Schiffe wurden seitdem beschlagnahmt und zwei wurden gezwungen, im Hafen zu bleiben, weil ihnen die Flagge entzogen wurde. Bis jetzt hat sich kein Verdacht erhärtet.Quelle
Im Zuge der folgenden Debatte führte die italienische Regierung im Juli 2017 einen Verhaltenskodex für NGOs ein, der die Aktivität der Organisationen unter strenge staatliche Kontrolle stellte. Gleichzeitig verstärkte die libysche Küstenwache mit Unterstützung der italienischen Marine die Kontrollen auf der zentralen Mittelmeer-Route. Dabei haben Hilfsorganisationen wiederholt Übergriffe der libyschen Kräfte auf ihre Schiffe sowie auf Flüchtlingsboote gemeldet.
Mehrere NGOs haben daraufhin ihre Beteiligung an Rettungsoperationen im Mittelmeer reduziert.
Was sind Pushbacks?
Mit dem englischen Begriff "Pushbacks" werden rechtswidrige Zurückweisungen von Flüchtlingen bezeichnet – vor allem an den Außengrenzen der Europäischen Union.
Mehrere Mitgliedstaaten der EU führen an den Außengrenzen der EU solche "Pushbacks" durch. Entsprechende Berichte gibt es von den Grenzen zwischen Belarus und Polen, Belarus und Litauen sowie von der serbisch-ungarischen, bosnisch-kroatischen, nordmazedonische-griechischen, albanisch-griechischen, türkisch-griechischen Grenzen sowie auf hoher See vor den Küsten Griechenlands und Italiens.Quelle
An vielen dieser Pushbacks sind laut Investigativrecherchen auch Einheiten der Grenzschutzagentur Frontex beteiligt, obwohl das laut der Frontex-Verordnung verboten ist. Eine Untersuchungskommission des Europäischen Parlaments hat diese Vorwürfe untersucht, konnte jedoch keine abschließende Beweise für eine Beteiligung von Frontex an Pushbacks finden. Eine Übersicht über die Vorwürfe gegen Frontex und die darauffolgenden Untersuchungen finden sich in diesem MEDIENDIENST-Artikel.Quelle
Sind Pushbacks illegal?
Pushbacks sind grundsätzlich illegal. Zwar dürfen EU-Mitgliedstaaten ausländische Staatsbürger*innen daran hindern, unerlaubt ihre Grenzen zu überschreiten. Es gelten aber Einschränkungen, die von verschiedenen europäischen und internationalen Abkommen zum Schutz der Menschenrechte festgelegt wurden:
- Verbot der Kollektivausweisung: Gruppen von ausländischen Staatsbürger*innen dürfen nicht kollektiv abgeschoben beziehungsweise zurückgewiesen werden – unabhängig davon, ob sie Flüchtlinge sind oder nicht. Das bestimmt die Europäische Menschenrechtskonvention (IV. Zusatzprotokoll, Artikel 4).
- Verbot der Folter und der unmenschlichen Behandlung: Niemand darf in einen Staat abgeschoben oder zurückgewiesen werden, in dem ihm oder ihr Folter oder unmenschliche Behandlung droht. Das hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 1989 von Artikel 3 der EMRK (Verbot der Folter) abgeleitet.
- "Non-refoulement"-Gebot: Wenn eine Person als Flüchtling in die Europäische Union kommt, dürfen die Mitgliedstaaten sie in keinen Staat zurückweisen, in dem ihr Leben oder ihre Freiheit aufgrund von "Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen politischen Überzeugung" bedroht sein würden. Das bestimmt die Genfer Flüchtlingskonvention (Artikel 33), die alle EU-Mitgliedstaaten unterschrieben haben. Das nennt man Prinzip der Nicht-Zurückweisung (non-refoulment).
- Selbst dann, wenn Geflüchtete über ein Land einreisen, in denen ihnen keine direkte Verfolgung droht, dürfen sie dorthin nicht ohne weiteres ab- oder zurückgeschoben werden. Denn als sogenannte sichere Drittstaaten gelten nur solche, die das non-refoulment-Prinzip der Genfer Flüchtlingskonvention einhalten (Richtlinie 2013/32/EU, Artikel 38).
- Alle Personen, die in der Europäischen Union Asyl beantragen möchten, haben zudem das Recht auf eine individuelle Prüfung ihres Asylantrags. Das bedeutet, dass bevor eine schutzsuchende Person ab- oder zurückgeschoben wird, eine Behörde ihren Asylgeusch prüfen muss (Richtlinie 2011/95/EU, Artikel 4).
Ob Pushbacks in allen Situationen illegal sind, ist umstritten. Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof (EGMR) hat dazu bislang zwei Grundsatzurteile getroffen:
- 2012 urteile der EGMR, dass der italienische Pushback von Bootsflüchtlingen aus Libyen illegal war. Die italienische Küstenwache hatte das Boot auf das Meer Richtung Libyen zurückgedrängt. Die Flüchtlinge seien auf dem offenem Meer dem Tode schutzlos ausgeliefert, was ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK und gegen das Verbot der Kollektivausweisung (siehe oben) darstelle.
- 2020 urteile der EGMR hingegen im Falle eines spanischen Pushbacks an der Grenze Melilla/Marokko, dass die Zurückweisung von zwei Männern rechtens war. Der Grund: Sie hätten absichtlich mit einer größeren Personengruppe und gewaltvoll die Grenze überquert, statt an regulären Grenzübergängen ihr Asylgesuch zu stellen. Sie konnten sich daher nicht auf ihren Anspruch auf eine individuelle Prüfung des Asylantrags berufen.
Zwar erhielt das Urteil aus 2020 in der Rechtswissenschaft auch Zustimmung, viele Jurist*innen kritisierten das jüngere Urteil aber. Insbesondere, dass das Urteil die tatsächlichen Gegebenheiten vor Ort falsch wiedergebe: So sei es faktisch für die Kläger*innen an dem Grenzübergang zu Spanien nicht möglich gewesen, einen Asylantrag zu stellen. Außerdem betonen einige Rechtswissenschaftler*innen, dass die meisten Schutzsuchenden – nämlich Bootsflüchtlinge – gar nicht die Möglichkeit haben, an einem regulären Grenzübergang einen Asylantrag zu stellen. Für sie finde die Argumentation der EGMR-Urteile daher keine Anwendung.Quelle
Wie viele Flüchtlinge sind im Mittelmeer gestorben?
Es ist unmöglich, die genaue Zahl der Geflüchteten zu ermitteln, die auf der Überfahrt über das Mittelmeer ums Leben gekommen sind. Laut Schätzungen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) waren es zwischen Januar und September 2023 2.300 Menschen – rund 27 Prozent mehr Todesfälle als im Vorjahreszeitraum. Die IOM hat in dieser Zeit rund 208.178 Versuche gezählt, das Mittelmeer zu überqueren. Das heißt: Von 100 Personen, die die Überfahrt versucht haben, ist eine gestorben.
Mehr als 89 Prozent der Todesfälle ereigneten sich 2023 auf der zentralen Mittelmeer-Route (Italien und Malta). Die Dunkelziffer könnte aber viel höher sein. Hinzu kommen 422 Todesfälle (Januar-September) auf der sogenannten westafrikanischen Route zu den Kanarischen Inseln.Quelle
Im Gesamtjahr 2022 gab es bei bei rund 247.000 Versuchen, das Mittelmeer zu überqueren, etwa 2.400 Todesfälle.Quelle
Noch schwieriger ist es festzustellen, wie viele Menschen auf dem Weg zu den Mittelmeer-Küsten gestorben sind. In Nordafrika wurden zwischen 2014 und 2023 (Mai) etwa 5.700 Todesfälle gemeldet. Die IOM geht aber davon aus, dass die tatsächlichen Zahlen deutlich höher liegen könnten.Quelle
Wie viele Geflüchtete kommen über die Belarus-Route?
Seit rund zwei Jahren versuchen vermehrt Migrant*innen, über Belarus in die EU zu kommen, unterstützt von der belarusischen Regierung. Zivilgesellschaftliche Organisationen und Medien in Polen gehen von inzwischen 45 Todesfällen im Grenzgebiet aus (Stand: Mai 2023).Quelle
Eine Übersicht:
- Frühjahr 2021, Einreisen vor allem nach Litauen: Im Mai 2021 kündigt der belarusische Präsident Lukashenko an, Migrant*innen nicht mehr an der Ausreise in die EU zu hindern. Das belarusische Militär bringt Migrant*innen gezielt an die EU-Grenze, vor allem zu Litauen. Im Frühsommer überqueren mehrere Tausend Personen die Grenze nach Litauen und Lettland. Ende Juli 2021 registriert der litauische Grenzschutz täglich über 100 unerlaubte Einreisen. Litauen beginnt im Juli mit dem Bau eines Grenzzauns und kündigt an, ab August Migrant*innen an der Einreise zu hindern.Quelle
- Sommer und Frühherbst 2021, Route wechselt Richtung Polen: Nachdem am 1. August noch knapp 300 unerlaubte Einreisen von Belarus nach Litauen festgestellt werden, wechselt die Route die Richtung. Seitdem bringt das belarusische Militär die Migrant*innen vor allem an die EU-Grenze zu Polen. Die polnische Regierung erklärt das gesamte, mehrere hundert Kilometer lange Grenzgebiet zu Belarus zur Sperrzone. Der polnische Grenzschutz versucht, Migrant*innen daran zu hindern, die Grenze zu überqueren oder führt Pushbacks durch. Das belarusische Militär fängt die Menschen bei der Wiedereinreise ab und zwingt sie zurück zur Grenze. Viele Personen bleiben so im 'Niemandsland' im polnisch-belarusischen Grenzgebiet gefangen. Hilfsorganisationen wird der Zutritt zu den Geflüchteten verwehrt, erste Berichte über Todesfälle werden bekannt. Im Oktober 2021 steigt die Zahl der versuchten, unerlaubten Einreisen zeitweise auf über 700 pro Tag.Quelle
- November und Dezember 2021, Zahl der Einreisen geht zurück: Im November 2021 kündigt die EU Sanktionen für Fluglinien an, die Migrant*innen nach Belarus einfliegen. Zuvor war die Zahl der Flüge aus verschiedenen Regionen im Nahen Osten nach Belarus, vor allem dem Nordirak, der Türkei oder Dubai nach Minsk immer weiter gestiegen. Belarus förderte gezielt Einreisen ins Land. Viele Kurd*innen im Nordirak, sowie Syrer*innen und Afghan*innen, die zuvor als Geflüchtete im Libanon waren, nutzen die Möglichkeit. Nachdem einige Flugrouten nach Minsk eingestellt wurden, geht die Zahl der Migrant*innen, die über die Route in die EU kommen, deutlich zurück.Quelle
- Juli 2022: Die polnische Grenzmauer zu Belarus wird offiziell fertiggestellt und gleichzeitig die Sperrzone auf 200 Meter im unmittelbaren Gebiet an der Grenze beschränkt.
Dennoch versuchen weiterhin viele Menschen, vor allem zunächst über Polen in EU zu gelangen, einige von ihnen kommen auch nach Deutschland. Von April bis Juni 2023 registrierte die Bundespolizei jeweils rund 2.000 Geflüchtete mit Belarus-Bezug, im Juli waren es rund 1.200. Viele der Geflüchteten kommen aus Syrien und Afghanistan, zuletzt auch aus Indien, dem Jemen und dem Iran. 2022 wurden in den meisten Monaten mehr als 500 Einreisen mit Belarus-Bezug festgestellt, teilweise über 1.000.Quelle
Hält die Mauer an der polnisch-belarusischen Grenze Geflüchtete auf?
Die Zahlen der Einreisen nach Deutschland widerlegen diese Annahme. Der polnische Grenzschutz zählte eigenen Angaben zufolge von Januar bis Mai 2023 rund 11.500 versuchte Grenzübertritte von Belarus nach Polen (Stand: Mai 2023). Vergangenes Jahr registrierte er rund 15.700 Versuche. Von Belarus nach Litauen wurden Angaben des dortigen Statistikamts zufolge rund 11.200 Migrant*innen an der Einreise gehindert.Quelle
Wie kommen die Migrant*innen nach Belarus?
Es gibt weiterhin Reisebüros, die in verschiedenen Ländern vermeintlich touristische Angebote nach Belarus bewerben, mehrere Anbieter in Dubai, im Sommer 2022 beispielsweise im Sudan oder Ghana. Auch staatliche Reiseunternehmen aus Belarus bewarben touristische Angebote, wie Medien in Polen berichteten.Quelle
Einreise über Russland: Die meisten Flüge in Minsk kommen Stand Juni 2023 aus der Türkei oder Russland. Zivilgesellschaftliche Organisationen berichten seit Sommer 2022, dass immer mehr Migrant*innen, die über Belarus nach Polen kommen zuvor ein Studierenden-Visum in Russland hatten, darunter beispielsweise Menschen aus Ägypten, dem Jemen und der Demokratischen Republik Kongo. Ob es sich dabei um geflüchtete Studierende handelt, die sich bereits länger in Russland aufhalten, oder Menschen, die vor Kurzem über ein Studierenden-Visum eingereist sind, sei nicht klar.Quelle
Umverteilung von Geflüchteten in der Europäischen Union
Eine faire Verteilung von Geflüchteten in der Europäischen Union ist seit Jahren ein kontroverses Thema. Derzeit ist nach der Dublin-III-Verordnung für Schutzsuchende das Land zuständig, in dem sie zuerst in die Europäische Union einreisen ("First country of entry"-Prinzip). Dadurch hätten EU-Staaten an den Außengrenzen der Europäischen Union wie Italien, Griechenland und Spanien einen Großteil der Asylbewerber*innen aufnehmen müssen.
Im Juni 2022 haben sich die Innenministerien der Europäischen Union darüber geeinigt, einen "Solidaritätsmechanismus" für die Verteilung von Geflüchteten einzuführen. Demnach sollen die EU-Mitgliedstaaten auf freiwillige Basis aus Seenot gerettete Geflüchtete aufnehmen können.Quelle
Ähnliche Verteilungsmechanismen hat es bereits in der Vergangenheit gegeben. Tatsächlich umverteilt wurden allerdings nur wenige Geflüchtete.
2019 haben sich die EU-Mitgliedstaaten auf einen Mechanismus geeinigt, um Bootsflüchtlinge, die im zentralen Mittelmeer gerettet wurden, auf andere Mitgliedstaaten zu verteilen. Nach Deutschland sind im Rahmen dieses Mechanismus insgesamt weniger als 500 Menschen eingereist. Daten für andere Länder sind nicht vorhanden.Quelle
2015 hatte die Europäische Kommission beschlossen, bis 2017 rund 160.000 Geflüchtete aus Italien und Griechenland auf andere EU-Mitgliedstaaten zu verteilen. Überstellt sollten vor allem Asylsuchende mit guter Bleibeperspektive werden, wie etwa Syrer*innen und Eritreer*innen und besonders Schutzbedürftige (Familien mit Kindern, Frauen, Kranke). Das Programm ist 2017 ausgelaufen. Lediglich 34.700 Menschen wurden in seinem Rahmen überstellt – etwa 12.700 aus Italien und rund 22.000 aus Griechenland. Die meisten von ihnen gingen nach Deutschland (ca. 11.000 Menschen), Frankreich (5.000) und nach Schweden (3.000). Ungarn und Polen haben hingegen keinen einzigen Asylsuchenden aus Italien und Griechenland aufgenommen.Quelle
Was ist das EU-Türkei-Abkommen?
Am 18. März 2016 einigten sich die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union (EU) auf ein Abkommen mit der Türkei. Es soll verhindern, dass Geflüchtete "illegal" in die EU einreisen. Das Abkommen trat am 20. März 2016 in Kraft. Aus Sicht der EU ist eines der wichtigsten Ziele in Erfüllung gegangen: Die Flüchtlingszahlen sind deutlich zurückgegangen. Das Abkommen stößt jedoch vielfach auf Kritik.
Was wurde beschlossen?
- Um "irreguläre" Einreisen in die EU zu verhindern, soll die Türkei ihre Grenzkontrollen verschärfen und stärker gegen Schlepper vorgehen.
- Flüchtlinge, die über die Türkei nach Griechenland eingereist sind und keinen Anspruch auf Asyl haben, sollen in die Türkei zurückgeführt werden.
- Für jeden Syrer, der in die Türkei zurückgeschickt wird, soll ein anderer Syrer legal in die EU einreisen dürfen ("Eins-zu-eins-Mechanismus").
- Bis Ende 2017 hat die EU der Türkei drei Milliarden Euro zugesagt, um Geflüchtete im Land besser versorgen zu können. Im Juni 2018 wurden weitere drei Milliarden Euro bis Ende 2019 bereitgestellt.
- Die EU hat der Türkei in Aussicht gestellt, die Verhandlungen zum EU-Beitritt zu beschleunigen und die Visumpflicht für türkische Bürger abzuschaffen.Quelle
Wie ist die Bilanz?
Die EU-Kommission veröffentlicht in regelmäßigen Abständen Zahlen zur Umsetzung des Abkommens. Aus den aktuellen Berichten und weiteren Quellen geht hervor (Stand: März 2019):
- Einreisen in die EU: Die Zahl der Flüchtlinge, die irregulär aus der Türkei nach Griechenland einreisen, ist deutlich gesunken. Im Jahr 2018 kamen durchschnittlich rund 92 Geflüchtete pro Tag auf den griechischen Inseln an. Im Oktober 2015 waren es über 6.000 Geflüchtete pro Tag. Laut Experten liegt der Rückgang nicht allein am Abkommen mit der Türkei, sondern auch an der Schließung der sogenannten Balkanroute. Zudem wüssten viele Flüchtlinge, wie prekär die Situation auf den griechischen Inseln ist, und blieben deshalb in der Türkei.
- Rückführungen in die Türkei: Seit Inkrafttreten des Abkommens wurden 2.437 Flüchtlinge aus Griechenland in die Türkei zurückgebracht. Auf den griechischen Inseln halten sich aktuell rund 12.000 Geflüchtete auf.
- Aufnahme von Syrern in die EU: Im Rahmen des "Eins-zu-eins-Austauschs" haben die EU-Mitgliedstaaten etwa 20.300 syrische Flüchtlinge aus der Türkei aufgenommen.
- Finanzhilfen für die Türkei: Die erste Tranche betrug drei Milliarden Euro, im Juni 2018 wurde eine weitere Tranche genehmigt, bevor die erste aufgebraucht war. Zwei Milliarden Euro kommen davon aus dem EU-Haushalt, eine Milliarde Euro übernehmen die Mitgliedsstaaten.
- Die Verhandlungen zum EU-Beitritt der Türkei sowie zu den Visaerleichterungen für türkische Bürger sind nur schleppend vorangekommen. Grund dafür sind auch die aktuellen politischen Entwicklungen in der Türkei.
- Todesopfer und Vermisste: Die Zahl der Todesopfer und Vermissten in der Ägäis ist seit dem Inkrafttreten des Abkommens gesunken. 2015 sind laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) noch 803 Menschen gestorben oder gelten als vermisst, 2017 waren es 62 Menschen, 2018 174.Quelle
Was wird kritisiert?
Wissenschaftler und Menschenrechtsorganisationen kritisieren das Abkommen:
- Die EU habe mit dem "Deal" die Verantwortung für Flüchtlinge ausgelagert und sich in Abhängigkeit des umstrittenen türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan (AKP) begeben.Quelle
- Die türkische Republik habe weltweit zwar die meisten Flüchtlinge aufgenommen, viele von ihnen hätten jedoch einen unsicheren Rechtsstatus und lebten in prekären Verhältnissen.Quelle
Zudem habe das Abkommen dazu geführt, dass sich die Lage der Flüchtlinge deutlich verschlechtert habe:
- Auf den griechischen Inseln seien mehrere Tausend Flüchtlinge gestrandet, ohne Zugang zu fairen Asylverfahren.
- Die Unterkünfte auf den Inseln seien massiv überbelegt, sodass Geflüchtete unter teils katastrophalen Bedingungen dort leben müssten.
- Schutzsuchende, die in die Türkei zurückgeführt wurden, seien dort nicht sicher, sondern würden inhaftiert und zum Teil in ihre Herkunftsländer abgeschoben. Zivilgesellschaftliche Initiativen und das UN-Flüchtlingshilfswerk in der Türkei hätten kaum Zugang zu den Geflüchteten.Quelle
Angesichts der prekären Umstände fordern viele Experten, den umstrittenen "EU-Türkei-Deal" aufzugeben. Welche Alternativen es zum Abkommen gäbe, haben Migrationsforscher in einem Artikel des MEDIENDIENSTES erklärt.
Warum kommen Menschen "illegal" über die EU-Grenzen?
Um einen Asylantrag in Europa zu stellen, müssen Flüchtlinge laut EU-Aufnahmerichtlinie zunächst nach Europa einreisen. Um das auf legalem Weg zu tun, brauchen sie ein Visum.
Doch Menschen in Krisengebieten haben meist keine Chance auf ein Visum. Das hat mehrere Gründe: Zum einen werden die diplomatischen Vertretungen in Kriegsregionen häufig geschlossen. Zum anderen ist die Vergabe eines Visums nach EU-Visakodex an strenge Bedingungen geknüpft, wie etwa dem Nachweis von ausreichenden finanziellen Mitteln.
Die Agentur der Europäischen Union für Menschenrechte (FRA) hat die Zahl der Schengen-Visa verglichen, die in Syrien vor und nach Beginn des Bürgerkriegs ausgestellten wurden: Während 2010 in Syrien noch rund 35.000 Schengen-Visa ausgestellt wurden, lag die Zahl 2013 fast bei Null.
Ohne ein Visum ist es auch nicht möglich, ein Flugzeug zu besteigen, um nach Europa zu gelangen. Denn nach einer EU-Richtlinie von 2001 gilt in dem Fall die Fluggesellschaft als "Beförderungsunternehmen", das sich als solches strafbar macht und eine entsprechende Geldstrafe zahlen muss.
Gemeinsames Europäisches Asylsystem
Das Grundkonzept eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) wurde 1999 im sogenannten Tampere Programm definiert und 2004 durch das sogenannte Haager Programm bestätigt. Ziel war es, europaweit einheitliche Standards für die Asylverfahren und die möglichen Rechtsstatus für Geflüchtete zu etablieren.
Im Juni 2013 verabschiedete das Europäische Parlament die neuen Vorschriften, die 2015 von allen Mitgliedstaaten übernommen wurden. Den Kern bilden zwei Verordnungen und mehrere Richtlinien, unter anderem:
- Die Dublin III - Verordnung regelt die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten und die Möglichkeit der Inhaftierung von Flüchtlingen.
- Die EURODAC-Verordnung regelt den Aufbau eines Fingerabdruck-Systems zur Kontrolle der Umsetzung der Dublin-Verordnungen.
- Die Qualifikations-Richtlinie regelt, wer als Flüchtling gilt.
- Die Aufnahme-Richtlinie regelt, wie die Aufnahme und Behandlung von Asylsuchenden zu erfolgen hat.
- Die Asylverfahrens-Richtlinie regelt die Grundlagen der Asylverfahren.
Nach jahrelangen Verhandlungen gibt es aktuell einen neuen Kompromissvorschlag zur Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. Der Vorschlag wird derzeit noch zwischen EU-Kommission, Rat und EU-Parlament verhandelt. Inhaltlich geht es vor allem um die Einführung von Grenzverfahren an den EU-Außengrenzen sowie um die Ausweitung der Kooperation mit Drittstaaten. Mehr zum aktuellen Stand des Reformvorschlags lesen Sie hier.
Was ist FRONTEX?
Frontex ist die europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache. Ursprünglich als Koordinierungsstelle für die Grenzpolizeien der EU-Mitgliedstaaten gedacht, hat die Agentur zunehmend operative Funktionen übernommen. Dazu gehören unter anderem:
- Schiffe, Flugzeuge, Ausrüstung und Personal zur Überwachung der EU-Außengrenzen bereitstellen,
- Grenzpolizist*innen aus allen Mitgliedstaaten trainieren und bei gemeinsamen Operationen koordinieren,
- Grenz- und Küstenwachebeamte sowie Ausrüstung in EU-Mitgliedstaaten für Soforteinsätze senden,
- EU-Mitgliedstaaten bei Abschiebungen unterstützen,
- Grenzpolizeien in Drittstaaten unterstützen.
Bis 2027 soll die Agentur weiter ausgebaut werden: Es soll eine ständige Reserve mit 10.000 Einsatzkräften entstehen. Frontex soll außerdem die EU-Mitgliedstaaten stärker bei Abschiebungen und Drittstaaten beim "Grenzenmanagement" unterstützen.
Vorwürfe gegen Frontex
Schon seit mehreren Jahren steht Frontex in der Kritik wegen vermeintlicher Menschenrechtsverletzungen bei Grenzoperationen. Die Agentur soll Grenzpolizist*innen der Mitgliedstaaten bei gewaltsamen Festnahmen und Zurückweisungen unterstützt haben. In den vergangenen Monaten wurden zahlreiche Fälle an den Grenzen dokumentiert – vor allem von Medien und NGOs:
- Frontex-Einheiten sollen die griechische Küstenwache dabei unterstützt haben, Bootsflüchtlinge in türkische Gewässer zurückzuschieben,
- Frontex soll die Koordinaten von Geflüchteten in Seenot an die sogenannte libysche Küstenwache vermittelt haben, um ihre Festnahme zu ermöglichen,
- Frontex-Einheiten sollen an verschiedenen Grenzübergängen anwesend gewesen sein, an denen gewaltsame Zurückschiebungen stattgefunden haben (s. Karte).
Der schwerste Vorwurf gegen Frontex ist, dass die Agentur an unrechtmäßigen Zurückweisungen (Pushbacks) beteiligt gewesen sein soll – siehe hierzu: Was sind Pushbacks?.
Die Beteiligung an illegalen Pushbacks ist nur einer von mehreren Vorwürfen, die in den vergangenen Monaten gegen Frontex erhoben wurden. So hat der Europäische Rechnungshof festgestellt, dass die Agentur die Mitgliedstaaten nicht im vorgesehenen Maße bei der Grenzüberwachung unterstützt. Noch schwerwiegender sind aber die Vorwürfe der EU-Behörde für Betrugsbekämpfung (Olaf): Laut Medienberichten geht es unter anderem um Fälle von Belästigung und Betrug innerhalb der Agentur.
In einem im Juli 2021 erschienenen Bericht der Kontrollgruppe über die Aktivitäten von Frontex des Europäischen Parlaments heißt es, die Agentur hätte vertrauenswürdige Berichte von internationalen Organisationen über Menschenrechtsverletzungen an den EU-Grenzen systematisch ignoriert.
Wer prüft die Aktivitäten von Frontex?
Die Aktivitäten von Frontex werden von verschiedenen Instanzen beaufsichtigt.
- An erster Stelle steht der Verwaltungsrat. Dieser besteht aus Vertreter*innen der Grenzbehörden der Schengen-Staaten plus Großbritannien und Irland und Vertreter*innen der Europäischen Kommission.
- Für die Wahrung der Grundrechte ist das "Consultative Forum" zuständig. Dazu gehören Vertreter*innen von 13 internationalen Institutionen und Menschenrechts-Organisationen. In seinem jüngsten Bericht aus dem Jahr 2020 hat das "Consultative Forum" die Vorwürfe über Menschenrechtsverletzungen als äußerst besorgniserregend bezeichnet.
- Hinzu kommt der Menschenrechtsbeauftragte, dessen Aufgabe ist, Grenzschutzoperationen zu bewerten, Operationgebiete zu besuchen und Berichte von Menschenrechtsverletzungen zu prüfen.
- Im März 2021 hat das Europäische Parlament zudem eine 14-köpfige Kontrollgruppe einberufen mit dem Auftrag, die Vorwürfe gegen Frontex zu prüfen. Die Kontrollgruppe hat im Juli 2021 einen Bericht veröffentlicht, in dem sie Frontex explizit vorwirft, Berichte über Menschenrechtsverletzungen bewusst ignoriert zu haben.
Migrationspolitik EU-Afrika
Die EU und einzelne europäische Staaten haben in der Vergangenheit mehrere umstrittene Abkommen mit afrikanischen Staaten geschlossen, um Migrationsbewegungen zu reduzieren. Spanien begann schon in den 1990er Jahren seine Migrationskontrolle nach Westafrika zu verschieben. 1998 legte die österreichische Präsidentschaft dem Europäischen Parlament ein "Strategiepapier zur EU-Migrations- und Asylpolitik" vor, in dem es unter anderem darum ging, Drittstaaten in das europäische Grenzsystem miteinzubeziehen.
Die spanische Regierung schloss 2005 im Rahmen des "Plan África" mehrere Abkommen mit westafrikanischen Staaten, unter anderem Marokko, Mauretanien, Mali und Senegal. Dabei ging es darum, irreguläre Einwanderer zurückzuführen und Migrationsrouten enger zu überwachen – auch mithilfe des spanischen Militärs. Im Gegenzug bekamen die afrikanischen Staaten mehr Entwicklungshilfe. Nach einem ähnlichen Muster ging die italienische Regierung 2008 ein „Freundschaftsabkommen“ mit dem libyschen Diktator Muammar al-Gaddafi ein.
Die Flüchtlingszahlen gingen zurück – doch gleichzeitig dokumentierten spanische und italienische Menschenrechtsorganisationen sowohl in Mauretanien als auch in Libyen willkürliche Inhaftierungen, Folter und andere Menschenrechtsverletzungen. Trotzdem bildeten diese Abkommen die Blaupause für zukünftige Vereinbarungen zwischen europäischen und afrikanischen Staaten.
Innerhalb von fast 20 Jahren gab es zahlreiche Gipfel und Prozesse, in denen – neben wirtschaftlicher Kooperation und Entwicklungshilfe – Migrationskontrolle eine zentrale Rolle spielte:
Wichtigste Ereignisse in der EU-Afrika-Migrationspolitik
• 2000 – Abkommen von Cotonou
2000 beschloss die EU gemeinsam mit 79 afrikanischen, karibischen und pazifischen Staaten im „Abkommen von Cotonou“ die erste supranationale Vereinbarung zur Migrationskontrolle. Die Vertragspartner sicherten sich die gegenseitige Rücknahme von irregulären Migranten zu.Quelle
• 2006 – Rabat-Prozess
Seit 2006 beteiligten sich 23 westafrikanische Staaten sowie weitere zentral- und nordafrikanische Staaten an dem „Rabat-Prozess“, der durch die EU initiiert wurde. Sie verfolgten das Ziel, irreguläre Migration vor allem aus Westafrika zu bekämpfen. Der „Rabat-Prozess“ leitete die stärkere Grenzkontrolle zwischen afrikanischen Staaten ein. Die Binnenmigration innerhalb Afrikas sollte so reduziert werden. Im Rahmen des Prozesses hat sich die EU zudem dazu verpflichtet, legale Migration zu fördern und die Synergie zwischen Migration und Entwicklung zu stärken.Quelle
• 2007 – Gemeinsame Strategie Afrika-EU
Die „Gemeinsame Strategie Afrika-EU“ wurde 2007 zwischen den 55 Mitgliedsstaaten der Afrikanischen Union und den Mitgliedstaaten der EU vereinbart. Beide Staatengemeinschaften beschlossen die „Bekämpfung illegaler Migration“ und entschieden, bei der Grenzkontrolle und Rücknahme von Migranten zu kooperieren.Quelle
• 2012 – Kooperation EU-Niger
Im Rahmen der zivilen Mission EUCAP Sahel-Niger haben der Europäische Rat und die nigrinische Regierung 2012 vereinbart, gemeinsame Maßnahmen zur „Verhinderung der irregulären Einwanderung und Bekämpfung damit verbundener Kriminalität“ einzuführen. Der westafrikanische Staat gilt als einer der wichtigsten Umschlagplätze für irreguläre Migration südlich der Sahara.
• 2014 – Karthoum-Prozess
Im Khartoum-Prozess fokussierte die EU die Zusammenarbeit mit elf ostafrikanischen Herkunfts- und Transitländern im Horn von Afrika. Die Verhandlungspartner verständigten sich zur Zusammenarbeit beim „Grenzmanagement“ und begründeten dies mit dem Ziel, „Menschenhandel und Schleuser einzudämmen“.Quelle
• 2015 – Valletta-Aktionsplan
Anders als von der EU erwartet, wurden nicht mehr ausreisepflichtige afrikanische Migranten zurückgeführt. Deshalb versuchte die Europäische Union, ihre vergangenen Vereinbarungen im Valetta-Prozess von 2015 zusammenzubringen. An ihm beteiligten sich die Regierungschefs von 66 Ländern aus Afrika und Europa sowie die Vorsitzenden zahlreicher internationaler Organisationen. Die EU-Politiker strebten danach, „Laissez-Passers“-Papiere – selbstausgestellte Abschiebepapiere – einzuführen. Sie scheiterten jedoch mit ihrem Vorhaben.Quelle
• 2015 – EU-Nothilfe-Treuhandfonds für Afrika
Im Rahmen des Valletta-Aktionsplans hat die EU einen Nothilfe-Treuhandfonds eingerichtet, der das Ziel hat, Fluchtursachen in den Herkunftsstaaten zu bekämpfen und irreguläre Migration zu unterbinden. Der Fonds hat bislang 177 Projekte in Ost-, Nord- und Westafrika (Sahel) finanziert und verfügt über ein Budget von 3,4 Milliarden Euro (Stand: März 2018).Quelle
• 2017 – Gipfeltreffen der Europäischen und Afrikanischen Union in Abidjan
Im Rahmen der "Gemeinsamen Strategie Afrika-EU" (siehe oben) haben die Mitglieder der Europäischen und Afrikanischen Union in der ivorischen Hauptstadt vereinbart, eine gemeinsame Arbeitsgruppe "Migration" einzurichten. Dabei geht es in erster Linie um die Bekämpfung der irregulären Migration – insbesondere von und nach Libyen.
News Zum Thema: EU-Asylpolitik
Landtagswahl in Hessen Etwa 19 Prozent dürfen nicht wählen
Am 8. Oktober wird in Hessen ein neuer Landtag gewählt. Knapp 19 Prozent der Volljährigen können nicht an der Wahl teilnehmen, da sie eine ausländische Staatsbürgerschaft haben. Mehr zum Thema Migration, Flucht und Teilhabe in Hessen im Factsheet.
Obergrenze für Flüchtlinge Kann Deutschland das individuelle Asylrecht aussetzen?
Aktuell wird wieder einmal über eine Obergrenze für Flüchtlinge diskutiert. Ist eine Obergrenze mit dem individuellen Asylrecht vereinbar? Oder müsste Deutschland dafür das individuelle Asylrecht aussetzen – und wenn ja, wie? Ein Interview mit der Völkerrechtlerin Nora Markard.
Zentrales Mittelmeer Warum Migrant*innen Lampedusa ansteuern
Innerhalb weniger Tage haben mehrere Tausend Geflüchtete die Insel Lampedusa erreicht. Die italienische Regierung und die EU wollen die Kontrollen weiter verschärfen. Warum kommen so viele Menschen über das zentrale Mittelmeer nach Italien? Und wo gehen sie hin?