Dieser Artikel wurde am 15.7. aktualisiert.
In den vergangenen Monaten haben Medien, Menschenrechtsorganisationen und Institutionen der Europäischen Union schwere Vorwürfe gegen die Grenzagentur Frontex erhoben. Diese reichen vom Betrug bis hin zur Beteiligung an schweren Menschenrechtsverletzungen. Die Agentur wird seit vielen Jahren von zahlreichen Instanzen beaufsichtigt und geprüft, bisher gab es aber keine wirkliche Konsequenzen.
Das Problem – sagen Fachleute – ist, dass Frontex zunehmend Befugnisse erhalten hat, die Pflichten aber unzureichend definiert wurden, vor allem im Hinblick auf Menschenrechte. Zudem sei es oftmals schwer festzustellen, wer die Verantwortung trägt.
Was macht Frontex? Und wer prüft die Aktivitäten der Agentur? Die wichtigsten Fragen und Antworten im Überblick.
Was macht Frontex?
Frontex ist die europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache. Ursprünglich als Koordinierungsstelle für die Grenzpolizeien der EU-Mitgliedstaaten gedacht, hat die Agentur zunehmend operative Funktionen übernommen. Dazu gehören unter anderem:
- Schiffe, Flugzeuge, Ausrüstung und Personal zur Überwachung der EU-Außengrenzen bereitstellen,
- Grenzpolizist*innen aus allen Mitgliedstaaten trainieren und bei gemeinsamen Operationen koordinieren,
- Grenz- und Küstenwachebeamte sowie Ausrüstung in EU-Mitgliedstaaten für Soforteinsätze senden,
- EU-Mitgliedstaaten bei Abschiebungen unterstützen,
- Grenzpolizeien in Drittstaaten unterstützen.
Bis 2027 soll die Agentur weiter ausgebaut werden: Es soll eine ständige Reserve mit 10.000 Einsatzkräften entstehen. Frontex soll außerdem die EU-Mitgliedstaaten stärker bei Abschiebungen und Drittstaaten beim "Grenzenmanagement" unterstützen.
Was wird Frontex vorgeworfen?
Schon seit mehreren Jahren steht Frontex in der Kritik wegen vermeintlicher Menschenrechtsverletzungen bei Grenzoperationen. Die Agentur soll Grenzpolizist*innen der Mitgliedstaaten bei gewaltsamen Festnahmen und Zurückweisungen unterstützt haben. In den vergangenen Monaten wurden zahlreiche Fälle an den Grenzen dokumentiert – vor allem von Medien und NGOs:
- Frontex-Einheiten sollen die griechische Küstenwache dabei unterstützt haben, Bootsflüchtlinge in türkische Gewässer zurückzuschieben,
- Frontex soll die Koordinaten von Geflüchteten in Seenot an die sogenannte libysche Küstenwache vermittelt haben, um ihre Festnahme zu ermöglichen,
- Frontex-Einheiten sollen an verschiedenen Grenzübergängen anwesend gewesen sein, an denen gewaltsame Zurückschiebungen stattgefunden haben (s. Karte).
Der schwerste Vorwurf gegen Frontex ist, dass die Agentur an unrechtmäßigen Zurückweisungen (Pushbacks) beteiligt gewesen sein soll. Geflüchtete zurückzuweisen, deren Leben oder Freiheit bedroht ist (sogenannte Pushbacks), ist unter anderem von der Genfer Flüchtlingskonvention (Artikel 33) verboten. Der "Grundsatz der Nichtzurückweisung" ist auch ausdrücklich in der Frontex-Verordnung festgeschrieben. Allein in den ersten vier Monaten von 2021 soll es laut einer Erhebung europäischer NGOs mehr als 2.000 Pushbacks an den EU-Außengrenzen gegeben haben. An wie vielen dieser Pushbacks Frontex beteiligt war, ist nicht bekannt.
Die Beteiligung an illegalen Pushbacks ist nur einer von mehreren Vorwürfen, die in den vergangenen Monaten gegen Frontex erhoben wurden. So hat der Europäische Rechnungshof festgestellt, dass die Agentur die Mitgliedstaaten nicht im vorgesehenen Maße bei der Grenzüberwachung unterstützt. Noch schwerwiegender sind aber die Vorwürfe der EU-Behörde für Betrugsbekämpfung (Olaf): Laut Medienberichten geht es unter anderem um Fälle von Belästigung und Betrug innerhalb der Agentur.
In einem im Juli 2021 erschienenen Bericht der Kontrollgruppe über die Aktivitäten von Frontex des Europäischen Parlaments heißt es, die Agentur hätte vertrauenswürdige Berichte von internationalen Organisationen über Menschenrechtsverletzungen an den EU-Grenzen systematisch ignoriert.
Wer prüft die Aktivitäten von Frontex?
Die Aktivitäten von Frontex werden von verschiedenen Instanzen beaufsichtigt.
- An erster Stelle steht der Verwaltungsrat. Dieser besteht aus Vertreter*innen der Grenzbehörden der Schengen-Staaten plus Großbritannien und Irland und Vertreter*innen der Europäischen Kommission.
- Für die Wahrung der Grundrechte ist das "Consultative Forum" zuständig. Dazu gehören Vertreter*innen von 13 internationalen Institutionen und Menschenrechts-Organisationen. In seinem jüngsten Bericht aus dem Jahr 2020 hat das "Consultative Forum" die Vorwürfe über Menschenrechtsverletzungen als äußerst besorgniserregend bezeichnet.
- Hinzu kommt der Menschenrechtsbeauftragte, dessen Aufgabe ist, Grenzschutzoperationen zu bewerten, Operationgebiete zu besuchen und Berichte von Menschenrechtsverletzungen zu prüfen.
- Im März 2021 hat das Europäische Parlament zudem eine 14-köpfige Kontrollgruppe einberufen mit dem Auftrag, die Vorwürfe gegen Frontex zu prüfen. Die Kontrollgruppe hat im Juli 2021 einen Bericht veröffentlicht, in dem sie Frontex explizit vorwirft, Berichte über Menschenrechtsverletzungen bewusst ignoriert zu haben.
Welche Folgen haben die Kontrollen?
Bis jetzt hatten die Überprüfung und Ermittlungen gegen Frontex fast keine Konsequenzen: Lediglich das Europäische Parlament hat die Entlastung des Frontex-Budgets 2019 aufgrund mangelnder Transparenz verweigert.
"Obwohl es Zahlreiche Beweise für Menschenrechtsverletzungen bei Grenzschutz-Operationen gibt, konnte bis jetzt so gut wie niemand zur Rechenschaft gezogen werden", sagt die Rechtswissenschaftlerin Melanie Fink von der Universität Leiden. Das liege in erster Linie daran, dass es bei den Operationen selten klar ist, wer die Verantwortung trägt. In der Regel sind viele verschiedene Akteur*innen beteiligt – Küstenwache, Grenzpolizei, Beamt*innen aus verschiedenen Ländern: "Wenn ein rumänisches Schiff im Rahmen einer Frontex Operation ein Flüchtlingsboot in der Ägäis abfängt und zurück in Richtung Türkei bringt, wer ist verantwortlich? Rumänien? Griechenland? Frontex?" fragt Fink.
Beamt*innen, die an Frontex-Operationen teilnehmen, zeigen illegale Zurückweisungen und Menschenrechtsverletzungen nur selten an, sagt Fink: "Die Beamt*innen sind oftmals schon lange mit den Kolleg*innen der lokalen Grenzpolizei unterwegs. Sie sehen sich als Teil einer gemeinsamen Struktur und würden nur sehr ungern ihre Kolleg*innen verpfeifen."
Das wäre aber für die Ermittlungen besonders wichtig: Oft sind Beamt*innen die einzigen Augenzeugen von Pushbacks. Laut Frontex-Verordnung müssen sie überwachen, dass bei allen ihren Tätigkeiten an den Außengrenzen die Grundrechte eingehalten werden.
Auch Geflüchtete, die zurückgewiesen wurden, können das theoretisch der Agentur melden. "Es kommt sehr selten vor, dass Geflüchtete, die zurückgewiesen wurden, in der Lage sind, eine Beschwerde gegen Frontex zu erheben", sagt Fink. Selbst wenn sie das tun sollten, würde es lediglich eine interne Ermittlung geben. Für das Fehlverhalten einzelner Beamt*innen sind außerdem die einzelnen Mitgliedstaaten zuständig.
Laut Grenzforscher Bernd Kasparek, Autor von "Europa als Grenze – Eine Ethnographie der Grenzschutz-Agentur Frontex" hat das ganze System: "Die Mitgliedstaaten haben offenbar kein Interesse daran, die aktuelle Struktur von Frontex zu verändern oder ein System zu erschaffen, in dem bestimmte Institutionen eine bestimmte Verantwortung tragen." Trotz der dramatischen Medienberichten und schwerwiegender Vorwürfen scheint Frontex derzeit unantastbar – "und das wird vermutlich so bleiben", sagt Kasparek. "Zumindest solange Frontex die Mitgliedstaaten dabei unterstützen wird, Geflüchtete fernzuhalten – unabhängig von den menschlichen Kosten."
Von Fabio Ghelli
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