Am 23. Dezember 2020 ist im Flüchtlingslager Lipa in Westbosnien ein Feuer ausgebrochen. Seitdem kampieren hunderte Männer und Jungen bei Minus-Temperaturen in den Ruinen der Einrichtung – ohne Obdach, Wasser, Duschen oder Toiletten. Laut der Hilfsorganisation "Danish Refugee Council" (DRC) lebten zum Stichtag 5. Januar 2021 zwischen 400 und 800 Menschen in der Ruine. Das bosnische Militär hat inzwischen einige Zelte mit Betten und Matratzen eingerichtet.
Der Zwischenfall in Lipa war absehbar, sagt Nicola Bay, DRC-Direktor in Bosnien-Herzegowina: "Jedes Jahr im Winter das Gleiche: Tausende Geflüchtete ohne Unterkunft stehen kurz davor, zu erfrieren. Bislang konnte immer eine Notlösung in letzter Minute gefunden werden. Bis jetzt." Die Flüchtlinge von Lipa hätten in ein anderes Lager 30 Kilometer entfernt umziehen sollen. Doch sowohl die regionale Regierung als auch die Lokalbevölkerung hätten sich quergestellt.
Nach Schätzungen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) leben derzeit etwa 3.000 Geflüchtete in Bosnien-Herzegowina auf der Straße – unter ihnen Familien mit Kindern. Darüber hinaus leben etwa 6.500 Personen in Flüchtlingslagern (letzte Erhebung: August 2020). Die meisten Geflüchteten kommen aus Afghanistan, Bangladesh (jeweils etwa ein Drittel) und Pakistan (etwa 15 Prozent).
Bosnien-Herzegowina liegt auf der sogenannten Westbalkan-Route. Die Route verläuft über verschiedene Länder: Albanien, Montenegro, Bosnien-Herzegowina, Serbien, Kosovo und Nord-Mazedonien. Über diese Route kamen allein im Jahr 2015 etwa eine Millionen Menschen nach Europa. Im Frühjahr 2016 ist die Zahl der Geflüchteten auf der Route eingebrochen. Das lag unter anderem am sogenannten EU-Türkei-Deal, aber auch an der strengen Grenzpolitik Ungarns, Bulgariens und Kroatiens. Seit 2017 steigt die Zahl der Migrant*innen und Geflüchteten auf der Route jedoch wieder. Die meisten von ihnen wollen nach Zentral- oder Nordeuropa weiterreisen.
Es ist aber sehr schwer, das Gebiet der Europäischen Union zu betreten. An der Grenze zwischen Serbien und Rumänien werden Geflüchtete in der Regel festgenommen und umgehend zurückgeschoben. 2019 gab es nach Angaben der rumänischen Polizei mehr als 6.000 Zurückschiebungen (pushbacks) – dabei soll es laut Medienberichten auch zu gewaltsamen Festnahmen gekommen sein. Die Grenze zwischen Serbien und Ungarn konnte lange Zeit nur durch zwei "Transitzonen" überschritten werden. Die Flüchtlingslager in den Transitzonen wurden aufgrund eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs im Mai 2020 geschlossen. Seitdem müssen Asylsuchende zunächst eine "Absichtserklärung" bei einer ungarischen Botschaft einreichen, um die Grenze zu überschreiten.
Deshalb versuchen viele, über Bosnien-Herzegowina nach Kroatien, und damit in die EU zu gelangen. Doch auch an dieser Grenze finden regelmäßig Zurückschiebungen statt – oftmals unter Gewalteinsatz. Dem "Danish Refugee Council" zufolge gab es im Jahr 2020 rund 13.000 Zurückschiebungen – davon etwa 60 Prozent unter Gewalteinsatz. "Der Spiegel" hat die brutalen Polizeieinsätze an der kroatischen Grenze in einem Video dokumentiert.
In allen diesen Fällen handelt es sich offensichtlich um eindeutige Verstöße gegen die "Genfer Flüchtlingskonvention" sowie gegen die "Europäische Menschenrechtskonvention", sagt Maddalena Avon vom kroatischen "Centre for Peace Studies" (CMS): "Es wäre allerdings ein Fehler, die einzelnen Länder allein für diese eklatante Verletzungen der Menschenrechte verantwortlich zu machen", sagt Avon. Denn die Pushback-Politik werden schon seit mindestens vier Jahren von den europäischen Institutionen weitestgehend toleriert.
Die Flüchtlinge in Bosnien und Serbien versuchen weiterhin verzweifelt, über die Grenzen zu kommen. Dabei finden sie zunehmend riskante Wege: Im Juli 2020 stiegen sieben Geflüchtete in einem serbischen Bahnhof in einen Container ein, um nach Italien zu gelangen. Ihre Leichen wurden Monate später in Paraguay gefunden.
"Nach dem Brand in Lipa hat die Europäische Union wie gewohnt reagiert: Ein bisschen mehr Geld versprochen. Mehr nicht", sagt Avon. Nach der Schließung des Flüchtlingslagers hat die Europäische Union die humanitäre Hilfe für Bosnien-Herzegowina um 3,5 Millionen Euro aufgestockt. Dabei wären langfristige, strukturelle Maßnahmen nötig – wie etwa Resettlement-Programme und ein unabhängiges Menschenrechte-Monitoring an den Grenzen, so die Politikwissenschaftlerin.
Von Fabio Ghelli
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