Seit September ist die Zahl der Menschen, die auf den Kanarischen Inseln ankommen, stark gestiegen. Knapp 18.000 Menschen haben nach Angaben des UN-Flüchtlingswerks UNHCR die Inseln seit Anfang dieses Jahres erreicht (Stand: November 2020). Das sind ungefähr zehnmal so viele Menschen wie im vergangenen Jahr. Die meisten von ihnen kommen aus Marokko und Algerien, so die "Internationale Organisation für Migration" (IOM) auf Anfrage des MEDIENDIENSTES. Es gibt aber auch viele junge Migrant*innen aus dem Senegal, Mali und Guinea.
Die spanischen Kanarischen Inseln liegen zirka 120 Kilometer von der westafrikanischen Küste entfernt. Trotz ihrer Nähe zum Kontinent wagten bisher wenige Geflüchtete die Überfahrt zur Inselgruppe, um nach Europa zu gelangen. Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen gehen die Küstenstaaten Marokko, Mauretanien und der Senegal sehr streng gegen Migrat*innen vor. Dabei erhalten sie Hilfe von Spanien. Zum anderen ist der Seeweg über den atlantischen Ozean extrem gefährlich.
Etwa 500 Menschen sollen zwischen Januar und November 2020 bei der Überfahrt ums Leben gekommen sein – mehr als zweimal so viele wie im Gesamtjahr 2019, meldete die IOM. Nach Recherchen der Tageszeitung "El País" starb auf der Route jede zwanzigste Person, die die Überfahrt versucht hat. Zum Vergleich: Im zentralen Mittelmeer lag die Quote bei einem von 54 Menschen (Stand: August 2020). Die IOM geht davon aus, dass viele Schiffbrüche nicht gemeldet werden. Die Opferzahl könnte deshalb viel höher sein.
Flüchtlingsorganisationen warnen vor einem neuen Lesbos
Da immer mehr Menschen kommen, hat die spanische Regierung angekündigt, die Geflüchteten in temporären Aufnahmeeinrichtungen auf den Inseln Gran Canaria, Teneriffa und Fuerteventura unterzubringen. Diese haben eine Gesamtkapazität von 7.000 Plätzen. Derzeit sind mehr als 5.000 Geflüchtete vorübergehend in Hotels untergebracht. Hunderte Menschen mussten im November mehrere Tage unter freiem Himmel am Hafen von Arguineguín auf Gran Canaria übernachten.
Die meisten Geflüchteten bleiben derzeit auf den Inseln: Nur besonders schutzbedürftige Geflüchtete wie Minderjährige und Familien mit Kindern dürfen auf das Festland überstellt werden, berichtet die spanische Tageszeitung "El Pais": Seit Anfang des Jahres waren das rund 1.800 Personen – etwa ein Zehntel der Menschen, die angekommen sind. Migrant*innen, die die Kanarischen Inseln erreichten, wurden in der Regel im Rahmen der bestehenden Abkommen mit Marokko, Mauretanien und Senegal abgeschoben. Aufgrund der Covid-19-Pandemie finden Abschiebungen jedoch derzeit nur vereinzelt statt.
Die spanische Flüchtlingsorganisation CEAR warnt vor einer Verschlechterung der Lebensbedingungen in den Aufnahmeeinrichtungen – ähnlich wie in Griechenland: "Die Kanarischen Inseln dürfen nicht wie die griechischen Inseln zu einem Ort werden, an dem Menschenrechte nicht beachtet werden", sagt CEAR-Sprecher Juan Carlos Lorenzo.
Warum kommen so viele Menschen auf die Inseln?
Es ist derzeit unklar, warum die Zahl der Ankünfte so plötzlich gestiegen ist, sagt Ryan Schroeder, Sprecher der "Internationalen Organisation für Migration" (IOM) in Brüssel gegenüber dem MEDIENDIENST. Ein Grund könnte die Wirtschaftskrise sein, die Teile Nord-und Westafrikas als Folge der Covid-19-Pandemie erwischt hat. Laut der Weltbank erlebt Marokko etwa die heftigste Wirtschaftskrise der letzten 25 Jahre.
Einer neuen Studie des "Italian Institute for International Political Studies" (ISPI) zufolge hat die Pandemie außerdem die Lebensbedingungen von afrikanischen Binnenmigrant*innen in Westafrika deutlich verschlechtert. Schleuser-Netzwerke hätten diese Notlage genutzt, um ihre Aktivität auszuweiten. Auch die Schleuser entlang der westafrikanischen Küste hätten in den vergangenen Monaten ihre Netzwerke ausgebaut, bestätigt IOM-Sprecher Schroeder. Migrant*innen, die vor der Krise flüchten, würden verstärkt über diese Netzwerke nach Europa kommen.
Es ist nicht das erste Mal, dass viele Geflüchtete in kurzer Zeit auf den Kanarischen Inseln ankommen. Infolge einer heftigen Krise der Fischerei kamen 2005 und 2006 mehr als 31.000 Menschen auf die Inseln. Spanien unterzeichnete damals eine Reihe von Kooperationsabkommen mit dem Senegal und Mauretanien, die Entwicklungshilfe an die Abwehr von Migranten*innen koppelten. Außerdem verstärkten die Küstenstaaten mit Spaniens Hilfe die Grenzkontrollen. Daraufhin ging die Zahl der Ankünfte auf den Inseln zurück, doch die Grenzkontrollen führten zu massiven Menschenrechtsverletzungen.
Von Fabio Ghelli
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