In einem Punkt sind sich alle einig: Das aktuelle europäische Asylsystem funktioniert nicht. Seit Jahren können sich die EU-Mitgliedsstaaten nicht auf eine Umverteilung von Geflüchteten einigen. Grenzstaaten wie Italien, Griechenland und Spanien werden mit vielen Aufgaben alleine gelassen.
Das soll sich nun ändern, das "Neue Migrations- und Asyl-Paket" sieht einige grundsätzliche Reformen des gemeinsamen europäischen Asylsystems vor. Einiges klingt zumindest auf den ersten Blick gut, doch Fachleute sehen gravierende Probleme.
Wichtige Änderungen:
⇒ Grenzverfahren (border procedure)
- Geflüchtete und Migrant*innen sollen an den EU-Außengrenzen ein "pre-entry"-Verfahren durchlaufen, in dem ihre Identität, Herkunft sowie mögliche Sicherheits- und Gesundheits-Risiken festgestellt werden.Weitere Informationen
- Die Asylgesuche von Menschen, die aus "sicheren" Herkunftsstaaten kommen, sollen im Eilverfahren bearbeitet werden. Als "sichere Herkunftsstaaten" gelten Länder mit einer Schutzquote von unter 20 Prozent. Abgelehnte Asylbewerber*innen sollen umgehend abgeschoben werden.Weitere Informationen
⇒ Solidaritätsmechanismus
- Die anderen Asylbewerber*innen sollen, falls möglich, unter den EU-Mitgliedstaaten verteilt werden. Dabei wird geprüft, ob sie Angehörige in einem Mitgliedstaat beziehungsweise eine Verbindung zu einem bestimmten Staat haben – weil sie etwa dort studiert haben oder bereits ein Visum besaßen.Weitere Informationen
- Mitgliedstaaten, die keine Asylbewerber*innen aufnehmen wollen, müssen sich an Abschiebungen beteiligen. Das heißt: Sie müssen dafür sorgen, dass abgelehnte Asylbewerber*innen die EU verlassen. Wenn das innerhalb von acht Monaten nicht gelingt, müssen sie die ausreisepflichtigen Personen aufnehmen.Weitere Informationen
- Geflüchtete, die im Meer gerettet werden, sollen nach einem speziellen Verteilungsschlüssels auf die Mitgliedstaaten verteilt werden. Auch will die Kommission neue Regeln für private Seenotrettungsorganisationen aufstellen.Weitere Informationen
⇒ Krisen-Mechanismus
- Wenn einzelne Mitgliedstaaten damit konfrontiert sind, besonders viele Geflüchtete aufnehmen zu müssen beziehungsweise eine humanitäre Krise eintritt, können die Mitgliedstaaten einen zusätzlichen "Solidaritätsmechanismus" aktivieren. Dabei sollen Asylverfahren noch schneller abgewickelt werden. Die Mitgliedstaaten hätten außerdem die Verpflichtung, Geflüchtete aus dem betroffenen Staat aufzunehmen beziehungsweise sich an Abschiebemaßnahmen zu beteiligen.Weitere Informationen
⇒ Engere Kooperation zwischen EU-Institutionen und Mitgliedstaaten
- Europäische Agenturen wie Frontex, die Europäische Küstenwache und die geplante Europäische Asyl-Agentur sollen eine aktivere Rolle bei der Aufnahme, Registrierung und Rückführung einnehmen.
- Die Mitgliedstaaten sollen außerdem enger kooperieren, um ihre unterschiedlichen Asyl-Systeme zu harmonisieren: Sie sollen Notfallpläne für die Aufnahme von Geflüchteten entwickeln – und ihnen gegebenenfalls Zugang zu Schule und Arbeit gewähren. Auch sollen sie ihre Schutzkriterien weitestgehend angleichen.Weitere Informationen
"Abkehr von europäischen Grundwerten"
Migrationsforscher*innen sehen die Vorschläge der Kommission sehr kritisch. Vertreter*innen wichtiger Forschungsinstitute sprechen in einer gemeinsamen Pressemitteilung von einer "Abkehr von europäischen Grundwerten und Prinzipien des international verankerten Flüchtlingsschutzes".
Das bestehende System sei nicht optimal – sagt der Rechtswissenschaftler Constantin Hruschka gegenüber dem MEDIENDIENST. Der Migrationspakt würden die Probleme des europäischen Asylsystems sogar noch weiter verschärfen: "Das pre-entry Verfahren ähnelt dem umstrittenen Flughafenverfahren: Antragsteller*innen haben basierend auf ihrer Herkunft lediglich einen verkürzten Rechtsschutz." In der Praxis führe das System zu Diskriminierungen: "Was wenn die Schutzquote unter 20 Prozent liegt, aber eine ethnische oder andere Gruppe verfolgt ist?" sagt Hruschka. "Das kann beispielsweise homosexuelle Antragsteller aus bestimmten Herkunftsländern betreffen. Sollen sie auch im Eilverfahren behandelt und potentiell zurückgeführt werden?"
Für Sabine Hess, die das internationale Forschungsprojekt RESPOND mitkoordiniert, verschiebt der EU-Migrationspakt den Fokus des europäischen Asylsystems: weg von der Aufnahme von Geflüchteten und hin zu Rückführungen. "Die Idee einer 'sponsorship' für Abschiebungen ist schlechthin abenteuerlich", sagt Hess. "Wird Deutschland etwa demnächst abgelehnte afghanische Asylbewerber*innen nach Ungarn schicken – einem Land, das bereits wegen erheblichen Menschenrechtsverletzungen in der Kritik steht – damit sie von dort abgeschoben werden?", fragt Hess.
Franck Düvell vom Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) an der Universität Osnabrück nennt den Migrationspakt einen Kniefall der Europäischen Union vor nationalistischen Regierungen wie der ungarischen und polnischen, die sich bis jetzt selbst in Krisensituationen geweigert haben, Geflüchtete aufzunehmen. Der "Krisenmechanismus", der dafür sorgen soll, dass künftig die Mitgliedstaaten mehr Solidarität im Notfall zeigen, sei nicht mehr als ein leeres Konzept. "Es ist unwahrscheinlich, dass Länder wie Ungarn oder Polen Hilfe bei der Aufnahme von Geflüchteten anbieten würden", sagt Düvell. Was aber passieren soll, wenn Staaten sich weigern, dazu stehe im Migrationspakt kein Wort.
Von Fabio Ghelli
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