Kriminalität in der Einwanderungsgesellschaft
Kriminalität und Herkunft werden in politischen Debatten häufig in Zusammenhang gebracht: Das Stereotyp vom kriminellen Migranten als „jung, männlich, delinquent“ ist weit verbreitet. In jüngster Zeit laufen Debatten jedoch auch um die sogenannte Ausländerkriminalität, die durch Flüchtlinge gestiegen sei. In den meisten Fällen entsprechen die Vorurteile nicht dem Stand der Daten und Forschung.
Gibt es einen Zusammenhang zwischen Kriminalität und Herkunft?
Eine Antwort auf diese Frage wird oft in Kriminalitätsstatistiken gesucht. Die Frage lautet dann etwa: Begehen Menschen mit Migrationshintergrund häufiger Straftaten als Menschen ohne Migrationshintergrund?
Die Kriminalitätsstatistiken enthalten allerdings nicht die Kategorie "Migrationshintergrund". Sie unterscheiden nur zwischen deutschen Staatsangehörigen und Ausländer*innen ("Nichtdeutsche").
Straftaten durch Ausländer
Im Jahr 2022 registrierten die Behörden in der Polizeilichen Kriminalitätsstatistik insgesamt rund 2,1 Millionen Tatverdächtige. Rund ein Drittel davon waren "nichtdeutsche" Tatverdächtige (783.876). "Nichtdeutsche" Tatverdächte sind damit in der Polizeilichen Kriminalitätsstatistik weit überproportional vertreten: Ihr Anteil an der gesamten Wohnbevölkerung in Deutschland liegt nur bei 12,7 Prozent.Quelle
Warum sind Ausländer überproportional in der Polizeilichen Kriminalstatistik vertreten?
Teilweise lässt sich das durch die Statistik selbst begründen:
- Unter Straftaten von "Nichtdeutschen" werden alle Straftaten von Ausländer*innen erfasst – auch von solchen, die etwa nur nach Deutschland einreisen, um eine Straftat zu begehen oder von Tourist*innen. Wie viele der ausländischen Tatverdächtigen in Deutschland wohnen, ist nicht bekannt.
- Bei den Straftaten werden auch ausländerrechtliche Verstöße mitgezählt. Diese können gar nicht von Deutschen, sondern nur von nichtdeutschen Tatverdächtigen begangen werden.Quelle
Teilweise lässt sich das durch das Alter, das Geschlecht und die soziale Lage der Tatverdächtigen erklären:
- Junge Männer werden häufiger straffällig als andere Bevölkerungsgruppen. Die ausländische Bevölkerung ist im Schnitt jünger und häufiger männlich. Auch schwierige Lebensbedingungen, wie ein erschwerter Zugang zum Arbeits- und Wohnungsmarkt, erhöhen das statistische Risiko, Straftaten zu begehen.
- Es gibt Hinweise darauf, dass Angehörige von Minderheiten überdurchschnittlich oft von der Polizei kontrolliert werden und öfter von Opfern angezeigt werden als Angehörige der Mehrheitsgesellschaft.Quelle
Jugendliche
Ein Gutachten des Kriminologen Christian Walburg von 2014 zeigt, dass es keine grundsätzlichen Unterschiede im kriminellen Verhalten zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund gibt.Quelle
Jugendliche aus Einwandererfamilien berichten in einigen Befragungsstudien allerdings häufiger davon, Gewaltdelikte begangen zu haben. Das zeigte etwa eine Befragung des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) 2010. Das trifft auf alle größeren Herkunftsgruppen zu, hängt also nicht mit einer bestimmten ethnischen Herkunft oder Religionszugehörigkeit zusammen.
Dass sie häufiger Gewalttaten begehen, scheint eher mit der sozialen Lage zusammenzuhängen. So gibt es beispielsweise kaum Unterschiede bei der Gewalttätigkeit zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund wenn sie die gleichen Bildungschancen haben.Quelle
Was ist "Ausländerkriminalität"?
Der Begriff "Ausländerkriminalität" wird in Medien und Politik unterschiedlich verwendet. Oft sind damit Straftaten gemeint, die von Einwanderer*innen begangen wurden – wobei unklar ist, ob damit Personen mit eigener Einwanderungsgeschichte, Personen ohne deutsche Staatsbürgerschaft oder Deutsche mit Migrationshintergrund gemeint sind.
In den Polizeilichen Kriminalstatistiken gibt es die Kategorie "Ausländerkriminalität" nicht. Was es gibt, sind folgende Kategorien:
- Straftaten durch "Nichtdeutsche": Das sind alle Straftaten, die von Personen, die keine deutsche Staatsbürgerschaft haben, begangen werden.
- Ausländerrechtliche Verstöße: Das sind Straftaten gegen das Aufenthalts-, das Asyl- und das EU-Freizügigkeitsgesetz. Diese Straftaten können nur von Ausländern begangen werden - wie zum Beispiel die illegale Einreise.
- Ausländische Ideologie: Das ist eine Kategorie im Bericht zur "Politisch Motivierten Kriminalität" (PMK). Mit dieser Kategorie sind nicht bestimmte Personen gemeint, sondern Straftaten, denen "eine im Ausland begründete Ideologie zugrunde liegt". Auch Deutsche können also diese Straftaten begehen. Ein Beispiel sind Straftaten mit PKK-Bezug.Quelle
Alle Zahlen zu Straftaten durch "Nichtdeutsche" finden Sie in unserer Rubrik hier.
Wie viele Straftaten begehen Flüchtlinge?
Straftaten durch Flüchtlinge werden nicht explizit in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) erfasst. Allerdings gibt es sowohl in der PKS als auch im "Bundeslagebericht Kriminalität im Kontext von Zuwanderung" vom Bundeskriminalamt (BKA) die Zahl der tatverdächtigen "Zuwanderinnen/Zuwanderer". Als "Zuwanderer" bezeichnet das BKA Asylbewerber*innen, Schutzberechtigte und Asylberechtigte, Geduldete, Kontingent- und Bürgerkriegsflüchtlinge sowie Menschen, die sich unerlaubt in Deutschland aufhalten. Zur Kategorie "Zuwanderinnen/Zuwanderer" zählt das BKA damit auch Menschen, die gezielt einreisen, um eine Straftat zu begehen.Quelle
Die Zahlen
2022 lag die Zahl der "tatverdächtigen Zuwanderer" nach dieser Definition bei rund 310.062 Menschen. Zählt man ausländerrechtliche Verstöße nicht mit (da diese überhaupt nur von nicht-deutschen Tatverdächtigen begangen werden können), so liegt die Zahl der tatverdächtigen Zuwanderer bei 142.72.Quelle
Wer sind die Tatverdächtigen?
Von den tatverdächtigen Zuwanderer*innen waren 2021 86,4 Prozent männlich. 57,7 Prozent waren jünger als 30 Jahre. Die meisten Zuwanderer*innen kamen 2021 aus Syrien, Afghanistan und dem Irak. Ihr Anteil an den tatverdächtigen Zuwanderer*innen insgesamt ist aber unterproportional, das heißt, Personen aus den Hauptherkunftsländern sind unterdurchschnittlich oft kriminell in Erscheinung getreten. Überproportional vertreten sind hingegen Tatverdächtige etwa aus den Ländern Nigeria, Algerien und Georgien. Quelle
Wie kommt es zu diesen unterschiedlichen Anteilen mit Bezug auf die Herkunftsländer?
- Zum einen lässt es sich aus der übrigen Statistik ableiten: Die meisten Tatverdächtigen sind Männer (86,4 Prozent). Die Länder, aus denen überwiegend Männer nach Deutschland zuwandern, sind daher auch stärker in der Kriminalitätsstatistik wiederzufinden. Ein Land wie etwa Syrien hingegen ist unterproportional stark vertreten. Aus Syrien konnten wegen der hohen Schutzquoten in Deutschland und der daraus resultierenden Möglichkeit der Familienzusammenführung auch viele Kinder und Frauen nach Deutschland einreisen.
- In der Forschung werden daneben laut dem Kriminologen Christian Walburg zwei weitere Erklärungsansätze diskutiert. Zum einen die These, dass aus bestimmten Ländern nicht ein Querschnitt der Bevölkerung auswandert (und nach Deutschland einwandert), sondern tendenziell häufiger Personen, die ein höheres Risiko für Kriminalität haben: Etwa, weil sie tendenziell stärker armutsgefährdet sind oder früher selbst Gewalt erfahren haben.Quelle
- Die andere in der Forschung diskutierte These ist laut Walburg, dass die Menschen, denen in Deutschland weniger Chancen und Perspektiven geboten werden, ein höheres Risiko haben, straffällig zu werden. Personen aus Staaten mit einer hohen Schutzquote in Deutschland – also einer guten Chance, ein Bleiberecht zu erhalten – wie etwa Iraker und Syrer haben damit auch Aussichten auf Integrations- und Arbeitsmöglichkeiten. Personen aus Ländern mit geringer Schutzquote – etwa Algerien, Tunesien, Marokko – bekommen diese Chance oft nicht.Quelle
Wie oft werden Menschen mit Migrationshintergrund Opfer von Straftaten?
Genaue Zahlen, wie oft Menschen mit Migrationshintergrund Opfer von Straftaten werden, gibt es nicht. Eine Annäherung bieten aber folgende Statistiken:
- Die jährliche "Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS)": Im Jahr 2022 registrierte das BKA rund 1,2 Millionen Personen, die Opfer von Straftaten wurden. Rund 270.000 Betroffene waren Ausländer. Von ihnen waren 55.929 Zuwander*innenQuelle
-
Bericht des Bundeskriminalamts zur "Politisch motivierten Kriminalität 2022": Im Jahr 2022 registrierte das BKA 10.038 rassistische Straftaten.Quelle
- Die Amadeu Antonio Stiftung und Pro Asyl führen eine "Chronik flüchtlingsfeindlicher Vorfälle". 2021 gab es demnach 21 Übergriffe gegen Asylsuchende und ihre Unterkünfte (Stand: Juli 2022; es gibt regelmäßig Nachmeldungen).Quelle
- Zahlen zu rassistischen Gewalttaten veröffentlicht auch der "Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt" (VBRG). Erfasst sind hier aber nur Taten in Berlin, Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und den fünf ostdeutschen Bundesländern. 2021 zählte der VBRG 816 rassistische Gewalttaten.Quelle
Angriffe gegen Flüchtlinge
Angriffe gegen Flüchtlinge
Im ersten Halbjahr 2023 gab es vorläufigen Angaben zufolge 704 Angriffe gegen Geflüchtete und 80 Angriffe auf Unterkünfte. Das ist ein deutlicher Anstieg im Vergleich zum Vorjahreszeitraum: Im ersten Halbjahr 2022 waren es 544 Angriffe auf Geflüchtete und 52 Angriffe auf ihre Unterkünfte.Quelle
Insgesamt gab es 2022 nach Angaben der Bundesregierung 1.420 politisch motivierte Angriffe auf Asylsuchende und Geflüchtete. Die meisten dieser Straftaten (83 Prozent) waren politisch rechts motiviert. Mit einem Zuwachs um 69 Prozent ist die Zahl der Straftaten gegen Asylunterkünfte (120) im Vergleich zum Vorjahr deutlich gestiegen. Auch die Zahl der Gewaltdelikte gegen Geflüchtete nahm zu, sie stieg um 22 Prozent auf 278.Quelle
Im Jahr 2021 gab es 1.254 solcher politisch motivierten Delikte, so die Angaben der Bundesregierung. Bei einem Großteil handelte es sich um Delikte gegen Geflüchtete außerhalb ihrer Unterkünfte (1.184). Bei allen Straftaten wurden insgesamt 165 Personen verletzt, unter ihnen befanden sich auch 10 Kinder. Die meisten dieser Straftaten (mehr als 90 Prozent) zählen die Behörden in den Bereich der politisch rechts motivierten Kriminalität (PMK-rechts).Quelle
Eine Langzeitauswertung der Amadeu Antonio Stiftung zeigt, dass Angriffe gegen Flüchtlinge nur unzureichend von den Behörden registriert werden. Das Problem werde dadurch verharmlost.Quelle
Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte
Eine Recherche des Südwestrundfunks und Bayerischen Rundfunks zeigt, dass Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte nur selten gerichtlich geahndet werden. Zwischen 2015 und 2018 hätten die Innenministerien der Bundesländer insgesamt 2.558 politisch motivierte Übergriffe auf Asylunterkünfte registriert, jedoch kam es in nur 206 Fällen zu Verurteilungen. Die Aufklärungsquote liege daher bei unter zehn Prozent.Quelle
Wie oft nennen Medien die Herkunft von Tatverdächtigen?
Medien berichten weit häufiger über Gewalt-Delikte von Ausländer*innen, als es ihrem tatsächen Anteil in der Polizeilichen Kriminalitätsstatistik entspricht. Das zeigen mehrere Studien des Medienforschers Thomas Hestermann, die der MEDIENDIENST in Expertisen (2023, 2022 und 2019) veröffentlicht hat.
Die neusten Zahlen aus 2023 zeigen bei Gewalt-Delikten:
- In rund einem Drittel der Berichte wird die Herkunft des/der Tatverdächtigen genannt.
- In den Berichten, die die Herkunft nennen, werden Ausländer weit überproportional oft benannt: In Fernsehberichten in 83,9 Prozent und in Zeitungsberichten in 82 Prozent der Fälle, obwohl ihr tatsächlicher Anteil an Straftaten in der Polizeilichen Kriminalstatistik nur rund einem Dritttel entspricht.
- Deutsche Tatverdächtige werden hingegen unterproportional oft dargestellt: Ihr Anteil an Gewalt-Delikten beträgt in Fernsehberichten 16,1 Prozent, in Zeitungsberichten 18,0 Prozent – in der Polizeilichen Kriminalstatistik hingegen 68,5 Prozent.
Zur Expertise und Zahlen zur Herkunftsnennung hier (Studie 2023), hier (Studie 2022) und hier (Studie 2019). Zur Expert*innen-Diskussion über die Forschungsergebnisse hier.
Wann sollten Medien die Herkunft nennen, wann nicht?
Wann spielt die Herkunft von Tatverdächtigen eine Rolle? Wann nicht? In einer Expertise für den MEDIENDIENST zeigen die Kriminologen Tobias Singelnstein und Christian Walburg den aktuellen Forschungsstand zu dieser schwierigen Frage. Sie soll es Journalist*innen erleichtern, die Abwägung zu treffen.
Die vollständige Expertise finden Sie hier.
Ein kurzes How To finden Sie hier.
- Herkunft und Zuwanderungsgeschichte sind "nicht entscheidend" für Kriminalität, so die Forscher. Kriminalität ist Folge einer Vielzahl von Faktoren, insbesondere der Lebensumstände. Staatsbürgerschaft oder Migrationshintergrund können eine indirekte Rolle spielen. Ob das der Fall ist, lässt sich nur im Einzelfall beurteilen.
- Journalist*innen sollten die Herkunft nur dann nennen, wenn die Herkunft zum Verständnis des Geschehens wichtig ist ("Erklärungswert") und das schwerer wiegt als die negativen Folgen der Nennung ("Stigmatisierungsgefahr").
- Ein Beispiel sind die Ausschreitungen in Stuttgart im Juni 2020. Die Mehrheit der ermittelten Tatverdächtigen dürfte in Deutschland aufgewachsen sein: Unter den 100 ermittelten Tatverdächtigen waren 66 Deutsche, darunter 49 Deutsche mit Migrationshintergrund (Quelle). Nach bisherigem Kenntnisstand war das nicht von zentraler Bedeutung für die Erklärung der Vorkommnisse, sagen die Forscher. Wenn Tatverdächtige in Deutschland aufgewachsen sind, gebe es oftmals keinen Grund, den Migrationshintergrund oder die Staatsbürgerschaft zu nennen.
- Ein weiteres Beispiel sind Partner*innentötungen, über die in Medien immer wieder sehr ausführlich berichtet wird. In solchen Verbrechen zeigen sich häufig Besitz- und Kontrollansprüche, die bei Einheimischen und Zugewanderten vorkommen. 2019 waren knapp zwei Drittel der ermittelten Tatverdächtigen in diesem Bereich Deutsche. Wenn im Einzelfall überholte Vorstellungen wie die "Verteidigung der Ehre der Familie" eine Rolle gespielt haben, kann dies dafür sprechen, dass Medien die Herkunft von Tatverdächtigen erwähnen und diese Bezüge erklären.Quelle
Regelung zur Herkunftsnennung im Pressekodex
Geregelt ist die Herkunftsnennung in Richtlinie 12.1 des Pressekodex. Der Deutsche Presserat änderte sie 2017 mit einer umstrittenen Entscheidung. Zuvor sollte die Herkunft nur dann genannt werden, wenn es einen Zusammenhang zur Tat gab. Seit 2017 steht im Kodex, die Zugehörigkeit eines Verdächtigen oder Täters zu einer ethnischen, religiösen oder anderen Minderheit sei nur dann zu nennen, wenn „ein begründetes öffentliches Interesse“ bestehe. Das sei etwa der Fall, wenn es sich um besonders schwere oder außergewöhnliche Straftaten wie Terrorismus handelt oder wenn Straftaten aus einer größeren Gruppe begangen wurde, in der viele ein gemeinsames Merkmal wie die Zugehörigkeit zu einer nationalen Gruppe teilen (Beispiel: Kölner Silvesternacht).
Expert*innen warnen davor, dass die Nennung der Herkunft eines Einzelnen zu einer Stigmatisierung ganzer Bevölkerungsgruppen führen kann. Die Herkunft sollte daher nur dann genannt werden, wenn im Bericht erklärt wird, warum diese für die Tat relevant ist.
Ob Medien über die Nationalität von Tatverdächtigen berichten, kann auch davon abhängen, ob die Polizeibehörde in der jeweiligen Polizeimeldung die Nationalität erwähnt. Eine NDR-Recherche 2021 zeigte: Unter den Bundesländern gibt es keine einheitliche Linie, wie die Polizei mit der Nennung von Nationalitäten umgeht. Selbst innerhalb der Länder gibt es Unterschiede: Einige Polizeidienststellen nennen die Staatsangehörigkeit fast in jeder vierten Meldung, andere fast nie.Quelle
Wie viele "Ehrenmorde" gibt es?
Bundesweit werden immer wieder "Ehrenmorde" debattiert, unter anderem 2005 nach dem Mord an Hatun Sürücü. In einer Schätzung von 2011 gingen Forscher*innen von etwa 12 Fällen pro Jahr aus. In drei Fällen pro Jahr handelte es sich um "Ehrenmorde" im engeren Sinne (siehe Definition unten). Grundlage für diese Schätzung ist die Untersuchung von 78 "Ehrenmorden" zwischen 1996 und 2005, zu denen Gerichtsakten vorlagen.Quelle
Die Täter waren fast alle ausländische Staatsbürger, die selbst nach Deutschland zugewandert sind. Auch wenn viele Taten von Muslimen begangen wurden, seien auch Christen unter den Tätern, betonen die Forscher*innen. Entscheidend sei nicht die Religion, sondern die Herkunft aus agrarisch geprägten Regionen mit geringem staatlichen Gewaltmonopol.Quelle
Viel häufiger als die sogenannten Ehrenmorde sind Partner*innentötungen aus anderen Motiven (darunter viele "Femizide"): 2019 gab es rund 400 Fälle von (vollendeter oder versuchter) Partner*innentötung, 140 Partner*innen starben. Knapp zwei Drittel der ermittelten Tatverdächtigen hatten die deutsche Staatsangehörigkeit. Die dahinterstehenden "Besitz- und Kontrollansprüche" von Männern seien im Grundsatz universell, sagen die Kriminologen Walburg und Singelnstein.Quelle
Dass es eine Art "Kultur-Rabatt" für "Ehrenmorde" vor Gericht gebe, ist ein Mythos, erklärt die Juristin und Kriminologin Julia Kasselt in einem MEDIENDIENST-Interview 2014. Im Gegenteil: Deutsche Gerichte sehen in der Verteidigung der Ehre einen "niedrigen Beweggrund" – "Ehrenmorde" werden also in der Regel härter bestraft als vergleichbare Delikte.Quelle
Umstrittener Begriff "Ehrenmord"
Der Begriff "Ehrenmord" ist umstritten, unter anderem weil er die Sicht der Täter wiedergibt. Bei vielen Fällen handelt es sich um Grenzfälle zur sogenannten "Blutrache" oder "Partner*innentötung". Zwei Jurist*innen vom "Max Planck Institut für ausländisches und internationales Strafrecht" haben 2011 eine Studie im Auftrag des Bundeskriminalamts verfasst und die Tatbestände folgendermaßen definiert:
- Ehrenmord im engeren Sinn ist die Tötung eines Mädchens oder einer Frau durch ihre Blutsverwandten zur vermeintlichen Wiederherstellung der kollektiven Familienehre.
- Grenzfälle zur Partner*innentötung: Die gewaltsame Reaktion eines (Ex-) Partners auf das Unabhängigkeitsstreben, Trennung bzw. Trennungsabsicht oder (vermutete) Untreue einer Ehefrau oder Partnerin.
- Blutrache: Ist die Tötung eines Mitglieds aus einer Familie, um damit die vermeintliche Ehrverletzung an einem Mitglied der eigenen Familie zu rächen.Quelle
Clankriminalität: Wer sind die "Clans"?
Sogenannte arabisch-türkische Großfamilien stehen seit Jahren im Zentrum politischer und medialer Debatten. Der Politikwissenschaftler Mahmoud Jaraba forscht seit mehreren Jahren im Milieu der arabisch-türkischen beziehungsweise kurdischen Großfamilien (sogenannte Mḥallamīya). Er hat Mitglieder der Familien über mehrere Jahre hinweg begleitet und interviewt. Ebenso sprach er mit Sicherheitsbehörden und Sozialarbeiter*innen. In einer Expertise (2021) für den MEDIENDIENST stellt er die Ergebnisse seiner Forschung vor und zeichnet die Geschichte der Familien nach. In einer weiteren Expertise (2023) beschreibt Jaraba die Familienstrukturen und wo dort Kriminalität stattfindet. Zudem geht er Diskriminierungserfahrungen der Familienmitglieder ein.
Die zentralen Ergebnisse:
- Die Großfamilien sind keineswegs eine homogene Gruppe unter der Führung eines Clan-Chefs. Im Gegenteil: Es gibt Meinungsdifferenzen und Spaltungen unter den Familienmitgliedern. Viele Familienangehörige kennen sich gar nicht.
- Anders als medial und polizeilich dargestellt findet Kriminalität nicht innerhalb der Großfamilie statt, sondern innerhalb von "Sub-Sub-Clans". Auf dieser Ebene gibt es starke Solidaritäts- und Zusammengehörigkeitsgedanken und auch zentrale Führungspersonen.
- Nur wenige Angehörige der Großfamilien sind kriminell, aber sie erhalten überproportional viel Aufmerksamkeit von Medien und Politik und suchen diese oft auch aktiv. Es gibt viel interne Kritik an straffälligen Familienmitgliedern.
- In Deutschland erleben die Familienmitglieder Ausgrenzung und Diskriminierung im Alltag, in der Schule, auf dem Arbeits-, Ausbildungs- und Wohnungsmarkt sowie durch die Polizei.
Jaraba schätzt, dass heute zwischen 35.000 und 50.000 Personen in Deutschland den Familien angehören.
Ein Leben in Unsicherheit
Die Geschichte der Familien geht zurück in die Provinz Mardin im Südosten der Türkei. Aufgrund schwieriger Lebensbedingungen und politischer Unterdrückung sind viele von ihnen schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von dort in den Libanon umgesiedelt. Hier haben sie Diskriminierung und Marginalisierung erlebt – bis der Bürgerkrieg sie Ende der 70er Jahre zwang, das Land in Richtung Europa zu verlassen. Sie kamen als staatenlose Flüchtlinge nach Deutschland, ihre Asylanträge wurden in der Regel abgelehnt. Seitdem lebten viele von ihnen als Geduldete. Sie stießen deshalb immer wieder auf bürokratischen Hürden – etwa bei der Arbeitssuche oder Amtsbesuchen – und konnten sich so kein stabiles Leben aufbauen.
Familienstruktur: Kein einheitlicher "Clan" und kein "Clan"-Oberhaupt
Die "Clans" haben sich im Verlauf der Zeit stark verändert. Vor hundert Jahren waren die "Clans" noch überschaubar und hatten eine zentrale Führung. Mittlerweile haben die einzelnen "Clans" zahlreiche Sub-Gruppen und Sub-Sub-Gruppen (sogenannte bayt). Was unter "Clans" in öffentlichen Debatten verstanden wird, sind oft Gruppen von mehreren hundert oder tausend Personen. Die haben zwar denselben Nachnamen, viele Angehörige kennen sich aber nicht, arbeiten nicht zusammen und halten auch nicht zusammen. Es gebe deswegen auch kein Oberhaupt, welches zentrale Autorität innehabe, so Jaraba. Wenn es Strukturen des Zusammenhalts gebe – in denen teilweise auch Kriminalität stattfindet – passiert das laut Jaraba auf der Ebene der Sub-Sub-Gruppen.
Kritik an straffälligen Familienangehörigen
Manche Angehörige der Großfamilien protzen öffentlich mit kriminellen Aktivitäten. Die meisten Familienmitglieder distanzieren sich Jaraba zufolge aber intern von den kriminellen Verwandten. Einige haben sogar Gruppen und Initiativen gegründet, um die Aktivitäten der straffälligen Mitglieder öffentlich zu verurteilen.
In der Regel wollen Angehörige aber nicht mit der Polizei zusammenarbeiten, so Jarabas Erkenntnis. Sie haben wenig Vertrauen in staatliche Institutionen. Das liegt laut Jaraba unter anderem daran, dass sie sich aufgrund ihres Familiennamens unter Generalverdacht gestellt fühlen. "Um die Menschen für sich zu gewinnen, muss die Polizei Vertrauen zu diesen Gruppen aufbauen und Brücken schlagen", schreibt Jaraba.
Der Begriff "Clans" und "Clankriminalität"
Eine Studie (2023) der Hochschule für Polizei, der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin und der Universität Bielefeld stellt fest: Die Begriffe "Clan" und „Clankriminalität“ sind unscharf und als analytische Kategorien problematisch; sie werden wie selbstverständlich verwendet, obwohl ihre Bedeutung ständig wechselt. Oft werde eine Nähe von „Clankriminalität“ zu Organisierter Kriminalität hergestellt. Die meisten Straftaten, die unter „Clankriminalität“ zusammengefasst werden, hätten aber keinerlei Nähe zu Organisierter Kriminalität und seien häufig sogar nur Ordnungswidrigkeiten. Die Berichterstattung zu „Clankriminalität“ geht laut der Studie vorrangig auf das Handeln von Polizei, Politik und Justiz zurück. Das Handeln von „Clans“ oder „Clanmitgliedern“ selber sei selten der Ausgangspunkt für die Berichterstattung.Quelle
Zur Expertise: "Arabisch-türkische Großfamilien: Familienstruktur und 'Clankriminalität'" (2023)
Zur Expertise "Arabische Großfamilien und die "Clankriminalität" (20211)
Zum HowTo für Journalist*innen: "Wie über Clankriminalität berichten?"
Clankriminalität: Polizeiarbeit und Lageberichte
Die Landeskriminalämter (LKAs) Berlin, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen sowie das Bundeskriminalamt (BKA) erstellen seit einigen Jahren Lageberichte zum Thema "Clankriminalität". Dieser Fokus entstand in der ersten Hälfte der 2000er Jahre: Damals gründeten die LKAs Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Bremen und Berlin eine Projektgruppe zu kriminellen Aktivitäten von Angehörigen von Familien "türkisch-arabischer Herkunft" aus der türkischen Provinz Mardin (sogenannte Mhallamiye-Kurden). Die Projektgruppe erarbeitete eine Liste von "Clan-Namen". Diese Namensliste wurde die Grundlage für spätere Lagebilder. Seit 2018 haben die LKAs Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Berlin ihre Polizeiarbeit in Bezug auf "Clankriminalität" über die Gruppe der "Mhallamiye-Kurden" hinaus erweitert und erfassen auch Personen anderer Nationalitäten.
Zum Factsheet "Clankriminalität: Polizeiarbeit und Lageberichte hier. Das Factsheet ist Teil der MEDIENDIENST-Expertise "Arabische Großfamilien und die 'Clankriminalität".
Was fällt unter "Clankriminalität"?
"Clankriminalität" wird in den Lageberichten als Unterkategorie von „Organisierter Kriminalität“ (OK) aufgeführt. Auch die für "Clankriminalität" zuständigen Dezernate sind in der Regel Dezernate in der Abteilung OK. In der Praxis allerdings wird "Clankriminalität" von den Kriminalämtern nicht unbedingt als Teil von OK angesehen.
Ein Blick auf die Straftaten, die im Bundeslagebild und in den Lageberichten der Länder unter "Clankriminalität" aufgelistet werden, verdeutlicht das: Es werden nicht nur Delikte erfasst, die zur Organisierten Kriminalität gehören (z.B. Geldwäsche oder Rauschgifthandel), sondern auch Allgemeinkriminalität (z.B. Körperverletzungen, Verkehrsstraftaten oder Verstöße gegen das Corona-Infektionsschutz-Gesetz).
"Clankriminalität" stellt daher keinen Unterbereich von organisierter Kriminalität dar, sondern ist ein Überbegriff für verschiedenartige Straftaten.
Wessen Straftaten werden als "Clankriminalität" bezeichnet?
Eine einheitliche, bundesweite Definition von „Clankriminalität“ gibt es bisher nicht. Die LKAs und das BKA arbeiten bislang mit (zum Teil sehr) unterschiedlichen Definitionen und Erfassungsmethoden. So heißt es im Lagebild des Landeskriminalamts Niedersachsen: "Der Begriff der 'Clankriminalität' ist weder gesetzlich verankert noch allgemeinsprachlich definiert". Im Lagebericht "Organisiert Kriminalität" des LKA Bayern aus dem Jahr 2019 steht: "Der öffentlich dadurch strapazierte Begriff 'Clankriminalität' ist bisher bundesweit polizeilich nicht abschließend und einheitlich definiert".
Gemeinsame Definitionspunkte umfassen:
- Als "Clan" verstehen die Kriminalämter eine Gruppe, die durch verwandtschaftliche Beziehungen und eine gemeinsame ethnische Herkunft verbunden ist.
- Dem "Clan" läge eine patriarchalisch-hierarchische Familienstruktur zugrunde.
- Innerhalb der "Clans" würden Konflikte von den Familienoberhäuptern geschlichtet.
- Die "Clan-Mitglieder" verweigerten tendenziell die Integration in der Mehrheitsgesellschaft, provozierten Eskalationen und wiesen eine hohe Gewaltbereitschaft auf.
Eine bundesweite Definition von "Clankriminalität" wird derzeit im Rahmen der Bund-Länder Initiative zur Bekämpfung der Clankriminalität erarbeitet.
Auf die Frage, wann konkret ein Delikt als "Clan"-Delikt gilt, geben die verschiedenen Kriminalämter unterschiedliche Antworten:
- Das LKA-Niedersachsen fasst ein Delikt unter "Clankriminalität", wenn bestimmte Auffälligkeiten vorhanden sind – z.B. wenn sich eine "Tumultlage" bildet, also, wenn Polizeibeamt*innen in ihrer Arbeit von großen Gruppen von Angehörigen behindert werden.
- Das LKA-NRW führt eine Namensliste für die Familien, deren Angehörige (bzw. deren Name) am häufigsten im Kontext von "Clankriminalität" aufgefallen sind.
- Das LKA-Berlin zählt Delikte als "Clankriminalität", die von einer oder mehreren Personen verübt wurden, die bereits im Kontext von Ermittlungen zu "Clan"-Aktivitäten aufgefallen sind.
Insbesondere an der Methode, "Clankriminalität" mithilfe von Namenslisten bestimmter Großfamilien zu fassen, gibt es Kritik. Zusammengefasst bedeutet diese Methode, dass eine Straftat von einer Person, die einen entsprechenden Familiennachnamen trägt, als "Clankriminalität" zählt – z.B. Bahnfahren ohne Ticket, ein Verstoß gegen die Corona-Verordnung oder eine Körperverletzung. Die gleiche Straftat zählt bei einer Person ohne einen gelisteten Nachnamen als Allgemeinkriminalität.
Dazu kommt, dass dort, wo aktiv gesucht wird, auch mehr gefunden werden kann. Dies wird etwa im Berliner Lagebericht zu "Clankriminalität" auch explizit erwähnt: "Im Hinblick auf Fallzahlen zu Verkehrsstraftaten, Verstößen gegen das Betäubungsmittel-/ Arzneimittel- sowie das Infektionsschutzgesetz wird darauf hingewiesen, dass es sich dabei um Kontrolldelikte handelt. Insofern geht mit der Erhöhung des Verfolgungsdrucks auch eine Zunahme von Fallzahlen in diesen Kriminalitätsbereichen einher."
Ist "Clankriminalität" ein arabisch-türkisches Phänomen?
Lange galt "Clankriminalität" als arabisch-türkisches Phänomen. Dabei ist zu beachten, dass die Kategorie "Clankriminalität" überhaupt nur für Straftaten von Angehörigen arabisch-türkischer Großfamilien geschaffen worden war. Seit 2018 haben die LKAs Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Berlin ihre Polizeiarbeit in Bezug auf "Clankriminalität" über die Gruppe der "Mḥallamīya-Kurden" hinaus erweitert und erfassen auch Personen anderer Nationalitäten.
Mediale Aufmerksamkeit für die Lageberichte
Eine Analyse der Berichterstattung in Printmedien zeigt, dass die mediale Aufmerksamkeit für "Clankriminalität" immer dann besonders groß ist, wenn die neuen Lageberichte der Bundesländer oder des BKA veröffentlicht werden:
News Zum Thema: Kriminalität
How To Wie berichten über Clankriminalität
Arabisch-türkische Großfamilien stehen seit Jahren im Zentrum politischer und medialer Debatten. Die Familien werden oft als "kriminelle Clans" beschrieben. Wie kann man angemessen über Angehörige der Großfamilien und das Thema "Clankriminalität" berichten?
Kriminalität Messerangriffe: Statistik und Berichterstattung
Hat die Zahl der "Messerangriffe" in Deutschland zugenommen? Sind Tatverdächtige bei "Messerangriffen" fast ausschließlich Ausländer? Eine Übersicht über die Zahlen und eine Analyse der Medienberichte zum Thema.
Debatte über die Silvesternacht "Was sagt ein Vorname über eine Person aus?"
Nach der Debatte über die Ausschreitungen in der Silvesternacht wird erneut über die Forderung diskutiert, die Vornamen von Straftäter*innen abzufragen. Rassismusforscher Cihan Sinanoğlu sieht darin ein Versuch, das Thema zu "ethnisieren".