Dieser Artikel erschien zuerst am 16. August 2023.
Seit 2020 erfassen das Bundeskriminalamt (BKA) sowie die Mehrheit der Landeskriminalämter "Messerangriffe" im Rahmen der polizeilichen Kriminalstatistiken. Als Messerangriffe gelten "Tathandlungen, bei denen der Angriff mit einem Messer unmittelbar gegen eine Person angedroht oder ausgeführt wird." Ein Blick in die Statistiken zeigt: Die Zahl der „Messerangriffe“ in Deutschland hat 2023 zugenommen.Quelle
Absolute Zahl der "Messerkriminalität" steigt – relative nicht
Absolut ist die Zahl der "Messerangriffe" 2022 auf 2023 gestiegen (siehe Grafik): um 9,7 Prozent in der Kategorie "gefährliche und schwere Körperverletzungen" und um 16,6 Prozent bei Raubdelikten. Allerdings ist auch die Zahl der Körperverletzungen und Raubdelikte insgesamt gestiegen (plus 6,8 Prozent und plus 17,4 Prozent). Schaut man sich die beiden Anstiege im Verhältnis an – also, wie sich der Anteil der "Messerangriffe" innerhalb des jeweiligen Straftatbereichs verändert hat – ergibt sich folgendes Bild: Bei Körperverletzungen stieg der Anteil 2023 im Vergleich zum Vorjahr um 0,2 Prozentpunkte, bei Raubdelikten gab es einen leichten Rückgang um 0,1 Prozentpunkte.Quelle
Laut Bundeskriminalamt könnten die steigenden Fallzahlen bei Körperverletzung und Raubdelikten eine Folge der weggefallenen Corona-Beschränkungen sein, wodurch es wieder mehr Tatgelegenheiten gegeben habe. Als weitere Faktoren nennt das BKA die inflationsbedingt angespanntere wirtschaftliche Lage, sowie das Migrationsgeschehen (mehr dazu siehe unten). Quelle
Ähnliches Bild in den Bundesländern
Die Daten der polizeilichen Kriminalstatistiken der Bundesländer bestätigen die Tendenz. In fast allen Bundesländern (mit Ausnahme des Saarlands) gab es 2023 mehr „Messerangriffe“ als im Vorjahr. Im Durchschnitt nahm die Fallzahl um rund 15 Prozent zu. In allen Bundesländern stieg die Zahl der „Messerangriffe“ parallel zur Zahl der Körperverletzungen und anderer Rohheitsdelikte.Quelle
Die Tatverdächtigen sind in der Regel Männer (in knapp 90 Prozent der Fälle) und überwiegend Erwachsene über 21 Jahre. In den Bundesländern, die die Nationalität der Tatverdächtigen in der polizeilichen Kriminalstatistik erfassen, sind zwischen einem Drittel und der Hälfte von ihnen nicht deutsch (Baden-Württemberg: ca. 55 Prozent, Hessen: ca. 50 Prozent, Mecklenburg-Vorpommern: 35 Prozent, Niedersachsen: 41 Prozent, Nordrhein-Westfalen: 47,4 Prozent, Sachsen: 49,2 Prozent, Sachsen-Anhalt: 35 Prozent, Thüringen: 41 Prozent). Ausländer*innen sind unter den Tatverdächtigen also überrepräsentiert – sowohl im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung als auch zur männlichen Bevölkerung zwischen 14 und 60 Jahren.Quelle
"Messerkriminalität" ist kein einheitliches Phänomen
Unter "Messerkriminalität" fallen unterschiedliche Konstellationen, etwa
- Situationen, in denen gezielt ein Messer mitgeführt wird, um ein bestimmtes Delikt zu begehen: zum Beispiel einen Raub, eine Nötigung oder eine Körperverletzung im häuslichen Bereich
- Psychische Ausnahmesituationen: wenn etwa eine psychisch kranke Person auf eine oder mehrere Personen einsticht
- Situationen, in denen Personen zwar ein Messer dabeihaben, der Einsatz des Messers aber nicht konkret geplant ist. Im Falle eines Konflikts oder einer Eskalation kommt es dann schneller zum Einsatz eines Messers, da es gerade verfügbar ist.
Der Kriminologe Prof. Dr. Stefan Kersting forscht seit vielen Jahren zu Kriminalität mit einem Schwerpunkt auf Messerkriminalität. Nach seiner Einschätzung macht die letzte Konstellation den größten Teil der sogenannten Messerkriminalität aus.
Etwas mehr Jugendliche führen ein Messer bei sich als früher
Repräsentative Dunkelfeldstudien unter Schüler und Schülerinnen in Niedersachsen über mehrere Jahre hinweg (2013 – 2022) zeigen: Etwas mehr Jugendliche haben gelegentlich ein Messer dabei. "Dadurch kann es schneller zum Einsatz des Messers in Konfliktsituationen kommen – auch wenn dieser Einsatz nicht geplant war, als man morgens das Haus mit dem Messer in der Tasche verließ", so der Kriminologe Kersting. Derartige Langzeit- Studien in Bezug auf Erwachsene gibt es nicht.Quelle
Warum etwas mehr Jugendliche sich bewaffnen, ist laut Kriminologen in Deutschland nicht hinreichend erforscht. Die Kriminologin Gina Wollinger vermutet, dass Angst und Männlichkeitsnormen zentrale Faktoren sein könnten: "Möglicherweise haben sie den Eindruck, das Messer zur Selbstverteidigung in ihrem Alltag zu brauchen. Es könnte zudem eine Zelebrierung von vermeintlicher Männlichkeit sein: Schaut her, ich bin stark, ich habe eine Waffe."
Der Kriminologe Kersting vermutet als weiteren Grund, dass Jugendliche immer schlechter darin seien, Konflikte gewaltfrei zu lösen. Außerdem gebe es eine Dynamik, die in anderen Ländern wie England schon vor einigen Jahren beobachtet werden konnte: „Je mehr Leute um einen herum bewaffnet sind, desto eher bewaffnet man sich auch selbst“, so Kersting.
Welche Rolle spielt die Nationalität?
Wie oben dargelegt, sind ausländische Tatverdächtige sowohl in der Kriminalstatistik generell, als auch im Bereich der Messerkriminalität, überrepräsentiert. Warum das so ist, haben wir hier aufgeschlüsselt: Es gibt zahlreiche verzerrende Faktoren, die dazu führen, dass Ausländer eher in der Kriminalstatistik landen als Deutsche. Aber: Auch abseits der Verzerrung bleibt ein überproportionaler Anteil von Ausländern in der Kriminalstatistik übrig. Grund dafür ist allerdings ist nicht die Nationalität an sich, sondern Faktoren, die auch bei Deutschen Kriminalität befördern: Armut, geringe Bildung, kriminelle Freundeskreise, eigenes Gewalterleben und gewaltverherrlichende Männlichkeitsnormen. Diese Faktoren liegen bei Ausländern und Migranten öfter vor als bei Deutschen.Quelle
Dasselbe gilt auch für Jugendliche: Nicht die eigene oder familiäre Migrationserfahrung ist Ursache für Kriminalität, sondern die damit oft einhergehenden ungünstigeren Bedingungen. So ist zum Beispiel die Armutsgefährdung bei unter 15- bis 17-Jährigen mit Migrationshintergrund fast dreimal so hoch wie unter Personen ohne Migrationshintergrund (2021: 13,8 zu 37,4 Prozent).Quelle
Konkret zum Thema Messer ergab die jüngste repräsentative Dunkelfeldstudie unter Schülern und Schülerinnen in Niedersachsen (2022), dass die befragten Jugendlichen mit Migrationshintergrund etwas seltener als Jugendliche ohne Migrationshintergrund ein Messer bei sich führen. Allerdings setzten die Jugendlichen mit Migrationshintergrund etwas eher eine Waffe ein als die befragten Jugendlichen ohne Migrationshintergrund. Leonie Dreißigacker, Mit-Autorin der Studie, erklärt: „Die Unterschiede zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund sind minimal, statistisch sind sie kaum relevant. Die Studie zeigt, zusammengefasst, dass der Umgang mit Messern bei den befragten Jugendlichen ungefähr gleich ist, egal ob ein Migrationshintergrund vorliegt oder nicht."Quelle
Der Kriminologe Christian Walburg arbeitet zu dem Schwerpunkt Migration und Kriminalität. Er gibt zu bedenken: „Die Studie gibt ein gutes Bild zu Schülern, kann aber über ältere Jugendliche oder junge Erwachsene, die zum Beispiel als Geflüchtete in einer Massenunterkunft untergebracht sind, keine Aussagen treffen.“ Der erhöhte Ausländeranteil an der Messerkriminalität habe dieselben Gründe wie der erhöhte Ausländeranteil an der Kriminalität generell: „Es ist damit zu erklären, dass es unter Migranten und speziell unter Geflüchteten anteilig etwas mehr junge Männer gibt, die sozial nicht gut eingebunden sind, Gewalterfahrungen oder psychische Belastungen haben“, so Walburg.Quelle
Von Fabio Ghelli und Donata Hasselmann
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