MEDIENDIENST: Frau Pohárnok, die ungarische Regierung hat die Transitzentren für Schutzsuchende in Röszke und Tompa nahe der serbischen Grenze am 20. Mai geschlossen. Der Europäische Gerichtshof hatte die Unterbringung dort keine Woche zuvor für unrecht erklärt. Hat sie das schnelle Handeln der Regierung überrascht?
Barbara Pohárnok: Absolut. Wir hatten uns bereits auf die nächste Runde in den Auseinandersetzungen eingestellt. Und dann bekamen wir über Nacht Nachrichten von vielen unserer Klientinnen und Klienten aus den Lagern, die freigelassen wurden. Das haben wir nicht erwartet.
Zwei Familien, eine aus Afghanistan, eine aus dem Iran, hatten vor dem Europäischen Gerichtshof gegen ihre Unterbringung in den Lagern geklagt. Sie haben die Familien gerichtlich vertreten. Worum ging es in den Verfahren?
Die ungarischen Behörden hatten sich geweigert, die Asylanträge der Familien zu prüfen und haben sie umgehend abgelehnt. Als Begründung hieß es, die Antragstellenden seien aus einem vermeintlich sicheren Transitland, Serbien, nach Ungarn gekommen. Das verstößt aber gegen EU-Recht. Denn Ungarn ist verpflichtet, die Anträge zu prüfen. Als sich Serbien weigerte, die Familien zurückzunehmen, sollten sie in ihre Herkunftsländer Afghanistan und Iran abgeschoben werden. Was ebenfalls gegen EU-Recht verstößt. Es ging im Verfahren auch um die Art der Unterbringung. Ungarn hat stets verneint, dass es sich dabei um eine Form der Inhaftierung handelt. Die Menschen, so die Begründung, könnten jederzeit zurück nach Serbien gehen. Der Europäische Gerichtshof stufte die Unterbringung in den Lagern nun als „widerrechtliche Inhaftierung“ ein.
BARBARA POHÁRNOK ist Rechtsanwältin und arbeitet seit 2001 für das Hungarian Helsinki Committee. Die ungarische Nichtregierungsorganisation bietet Schutzsuchenden in den ungarischen Transitzonen kostenlose rechtsstaatliche Unterstützung an. Pohárnok betreute zunächst das Flüchtlingsprogramm der Organisation, seit 2008 vertritt sie Schutzsuchende und ausländische Staatsbürger*innen in Ungarn juristisch.
Was wissen Sie über die Zustände in den Lagern?
Die Lager waren nur von Serbien aus zu erreichen und die einzigen Orte in Ungarn, an denen man Asyl beantragen kann. Seit 2017 mussten sich alle Schutzsuchenden während des Verfahrens dort aufhalten. Einige unserer Klientinnen und Klienten waren bis zu zwei Jahre in den Lagern. Die Menschen haben dort wie in einem Gefängnis gelebt: Sie waren in Schiffscontainern untergebracht, teils zu fünft in Zimmern mit 13 Quadratmetern. Das gesamte Areal war von Stacheldraht umgeben und wurde von bewaffneten Polizisten bewacht. Die Menschen durften die Lager nicht verlassen, etwa um Besorgungen zu machen, und auch keinen Besuch empfangen. Journalistinnen und Journalisten war der Zutritt untersagt, ebenso den meisten Hilfsorganisationen. Besonders schlimm war die Situation für Kinder und Jugendliche. Etwa 60 Prozent der 280 Menschen in den Lagern waren minderjährig. Sie haben keine angemessene Bildung bekommen und es gab keine ausreichende psychologische Betreuung.
Die Lager haben die Gerichte schon mehrfach beschäftigt. Zum Beispiel, weil einigen Menschen dort das Essen verweigert wurde.
Ja. Die Maßnahme richtete sich gegen Menschen, deren Asylantrag abgelehnt wurde. Die ungarische Regierung begründete das damit, dass die Menschen keinen Anspruch auf staatliche Leistungen mehr hätten und jederzeit zurück nach Serbien gehen könnten. Von dort aus aber könnten sie Ungarn, und damit die EU, für mindestens ein Jahr nicht wieder betreten. Unsere Organisation ist in 24 dieser Fälle aktiv geworden. Wir haben den Europäischen Menschengerichtshof angerufen, der hat daraufhin einstweilige Anordnungen erlassen, damit die Menschen wieder Essen erhalten.
Was passiert jetzt, wo die Lager geschlossen sind, mit den Menschen?
Diejenigen, die noch im Asylverfahren sind, werden in ein Lager in Vamosszabadi, eine Kleinstadt im Norden Ungarns, gebracht. Diejenigen, deren Antrag abgelehnt wurde, müssen in ein Lager für Ausreisepflichtige in Balassagyarmat an der Grenze zur Slowakei. Die beiden Lager waren so gut wie unbewohnt, da seit 2017 alle Schutzsuchenden in den Transitzonen untergebracht sind. Die Situation in den Lagern ist mit denen in den Transitzonen nicht vergleichbar: Es gibt Aufenthaltsräume, Sozialarbeiter können hinein, die Menschen können Besuch empfangen. Und doch sind in den Lagern die Regeln strenger geworden. Bis vor kurzem konnten die Bewohnerinnen und Bewohner des Heims für Ausreisepflichtige das Lager noch für 24 Stunden verlassen. Inzwischen wurde der Ausgang auf zwei Stunden pro Tag begrenzt.
Die Transitzonen waren die einzigen Orte in Ungarn, in denen Menschen Asyl beantragen konnten. Was bedeutet die Schließung für das ungarische Asylsystem?
Ein Regierungssprecher sagte nach dem Urteil, dass Menschen jetzt nur noch in ungarischen Botschaften außerhalb des Landes Asyl beantragen können. Was wiederum gegen geltendes Recht verstößt. Deswegen ist die aktuelle Entwicklung positiv und negativ zugleich. Es ist gut, dass die ungarische Regierung die Menschen aus den Transitzonen freigelassen hat. Zugleich begeht sie mit der Auslagerung des Asylverfahrens ins Ausland den nächsten Rechtsbruch.
Welche Auswirkungen wird das Ihrer Meinung nach haben?
Viele Menschen werden vermutlich versuchen, trotzdem ins Land zu kommen, um in die EU zu gelangen. Vermutlich werden sie dann von den Behörden zurückgeschickt werden, durch sogenannte Pushbacks. Es wird also weitere Rechtsverstöße geben. Und weitere Gerichtsverfahren.
Interview: Sascha Lübbe
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