Bis heute mindestens 23 Todesfälle: Seit dem vergangenen Sommer sind tausende Migrant*innen im Grenzgebiet zwischen Belarus und der EU in Not geraten. Im August 2021 eskalierte die Lage, als erst Litauen und dann Polen mit illegalen Zurückweisungen an der Grenze begann. Die belarusische Regierung hatte im Mai 2021 angefangen, gezielt Migrant*innen ins Land zu bringen, um Druck auf die EU auszuüben. Zeitweise überquerten mehrere hundert Menschen täglich die Grenzen nach Litauen und Polen. Der MEDIENDIENST hat die wichtigsten Entwicklungen, Zahlen und neue Erkenntnisse zu aktuellen Migrationsrouten zusammengefasst.
Was geschah vor rund einem Jahr? Legalisierte Pushbacks, Sperrzone im Grenzgebiet
Als im Juli täglich über 100 Migrant*innen über Belarus nach Litauen kamen, legalisierte die litauische Regierung am 2. August 2021 in einem Eilverfahren Pushbacks, also rechtswidrige Zurückweisungen an der Grenze, ohne dass die Betroffenen einen Asylantrag stellen konnten.
Ab dem Zeitpunkt wechselte die Migrationsroute abrupt die Richtung: Kamen am 1. August noch 294 Geflüchtete über Belarus nach Litauen, waren es am 4. August schon über 130 Menschen, die stattdessen über die belarusisch-polnische Grenze kamen, am 10. August über 260 täglich. Die Situation erlangte medial Aufmerksamkeit, als die polnische Grenzpolizei ab dem 8. August einige Dutzend Migrant*innen beim Ort Usnarz Górny an der polnisch-belarusischen Grenze für viele Tage am Grenzübertritt hinderte und die Menschen in Not gerieten.Quelle
Von September 2021 bis Juni 2022 errichtete die polnische Regierung entlang der über 400 Kilometer langen Grenze zu Belarus eine knapp 200 Ortschaften umfassende Sperrzone, die Hilfsorganisationen und Medien den Zugang dorthin versperrte.
Menschen in Not an der Grenze
Anfang Juli wurde die polnische Grenzmauer zu Belarus offiziell fertiggestellt und die Sperrzone auf 200 Meter entlang der Grenzmauer beschränkt. Inzwischen sind 23 Todesfälle aus dem Grenzgebiet offiziell dokumentiert, humanitäre Organisationen meldeten Ende Juni 187 Fällen Vermisste. In den zehn Monaten des Bestehens der Sperrzone verzeichnete die Hilfsorganisation Grupa Granica über 11.000 Hilfegesuche von Menschen, die an der polnisch-belarusischen Grenze in Not gerieten. Der polnische Grenzschutz registrierte von Mai 2021 bis Mitte Juli diesen Jahres knapp 42.000 unerlaubte Grenzübertritte aus Belarus.Quelle
Die Zahl der Hilfsgesuche steigt
Im Juni 2022, kurz vor dem Ende der Sperrzone, nahm die Hilfsorganisation Grupa Granica eigenen Angaben zufolge etwa 150 Anrufe wöchentlich von hilfesuchenden Migrant*innen im Grenzgebiet entgegen. In den ersten beiden Juliwochen waren es jeweils doppelt so viele. Das zeige, dass weiterhin Menschen über die Grenze kämen, sagt Monika Matus von Grupa Granica dem MEDIENDIENST. Allerdings könne man daraus nicht ableiten, wie viele Menschen sich weiterhin im Grenzgebiet zwischen Belarus und Polen befänden. Die Grenzmauer, so Matus gegenüber dem MEDIENDIENST, sei jedoch kein Hindernis: "Die Regierung behauptet, die Mauer würde Migrant*innen fernhalten, aber das stimmt nicht. Sie führt nur dazu, dass die Menschen noch größere Not leiden, weil sie sich beispielsweise Brüche zuziehen".Quelle
Können Hilfsorganisationen die Migrant*innen nach dem Ende der Sperrzone besser versorgen? Die Grenzpolizei patrouilliere den Wald nach wie vor und errichte abends wieder Checkpoints, die es auch vor dem 1. Juli gab, berichtet Matus: "Wenn sie wollen, können sie uns an der Arbeit hindern, beispielsweise indem sie uns stundenlang wegen vermeintlich schmutziger Autoplaketten festhalten."
Wie viele Menschen kommen über Belarus in die EU?
Als im Oktober letzten Jahres zeitweise täglich 700 Versuche gezählt wurden, die Grenze zu überqueren, wurden auf Druck der EU-Kommission Fluglinien beispielsweise aus dem Nordirak nach Belarus eingestellt, einige Länder verschärften Einreisebestimmungen für Staatsbürger*innen aus Syrien, dem Irak oder dem Jemen. Doch Woche für Woche kommen weiterhin Menschen über Belarus in die EU. Schätzungen der vor Ort aktiven Organisationen zufolge halten sich derzeit mehrere tausend Migrant*innen in Belarus auf.Quelle
Die Zahlen sind nicht direkt vergleichbar, da Grenzpolizeien möglicherweise anders zählen. Aus den Angaben der Grenzübertritte lässt sich auch nicht auf die Anzahl der Migrant*innen schließen: Es gibt zahlreiche Berichte, in denen Menschen über zehn Mal versuchen, über die Grenze in die EU zu kommen, daher sind Mehrfachzählungen wahrscheinlich. Viele werden im Grenzgebiet direkt am Grenzübertritt gehindert oder beispielsweise vom polnischen Grenzschutz an die Grenze zu Belarus gebracht.
Wie viele Geflüchtete kommen derzeit über Belarus nach Deutschland?
Insgesamt kamen von Mai 2021 bis Mitte Juli diesen Jahres knapp 14.000 Migrant*innen mit Belarus-Bezug nach Deutschland. Auch wenn die Zahl der Migrant*innen seit Herbst 2021 deutlich abgenommen hat, kamen von April bis Juni dieses Jahres jeweils über 300 Menschen monatlich über Belarus nach Deutschland, die meisten aus dem Irak oder Syrien. Im gleichen Zeitraum war auch ein Anstieg von ägyptischen Staatsbürger*innen zu beobachten.Quelle
Wie gelangen die Menschen nach Belarus?
Es kommen weiterhin viele Menschen aus dem Irak und Syrien über Belarus. Hilfs-Organisationen, die vor allem an der polnisch-belarusischen Grenze aktiv sind, berichten dem MEDIENDIENST, dass sich Migrations-Routen und wie Herkunftsregionen der Menschen teilweise verändert haben.
Einreise nach Belarus: Mitte Oktober 2021 führte die belarusische Regierung eine 30-tägige Visums-freie Einreise für eine Reihe von Ländern ein. Beispielsweise ist für die kurzzeitige Einreise aus Indien kein Visum mehr erforderlich. Seit diesem Frühjahr sei zu beobachten, dass mehr Menschen aus Indien nach Belarus kommen, so Matus gegenüber dem MEDIENDIENST.
Auch aus anderen Weltregionen werden Reisen nach Belarus organisiert: Letztes Jahr hatte die polnische Medienorganisation Outriders verdeckt von Reisebüros aus dem Libanon berichtet, die gezielt vermeintlich touristische Reisen nach Belarus organisierten. Ähnliche Anbieter gibt es derzeit im Sudan oder in Ghana: Allein in der ghanaischen Hauptstadtregion beispielsweise bewarben Mitte Juli mindestens vier Reisebüros Reisen nach Belarus; eines gab am 08. Juli bekannt, Reisedokumente für ernsthaft Interessierte innerhalb von zwei Wochen bereitstellen zu können.
Einreise über Russland
Unter den derzeit in der EU ankommenden Migrant*innen sind zunehmend Menschen, die über Russland nach Belarus einreisen. Diese Menschen haben häufig kein Visum für Belarus und kommen entweder zu Fuß oder mit dem Taxi aus Russland, da es Aussagen von der Hilfsorganisation Help and Humanity Poland zufolge an der russisch-belarusischen Grenze keine strengen Kontrollen gibt. Unter den Menschen, die diese Route nehmen, sind einige Kubaner*innen: Seit dem Frühjahr berichten unabhängige kubanische Medien vermehrt über Fälle, in denen Kubaner*innen im polnisch-belarusischen Grenzgebiet in Not gerieten. Help and Humanity Poland hatte Ende Juli eigenen Angaben zufolge Kontakt mit mindestens sechs verschiedenen Gruppen von Kubaner*innen, die sich entweder noch in Belarus oder im polnisch-belarusischen Grenzgebiet aufhielten.
Einige Migrant*innen, die über Russland nach Belarus kommen, waren zuvor mit Studierenden-Visum dort. Dazu gibt es auch vereinzelte Medienberichte. Grupa Granica und Hope and Humanity zufolge sind das zum Beispiel Menschen aus Ägypten, dem Jemen und der Demokratischen Republik Kongo. Ob es sich dabei um geflüchtete Studierende handelt, die sich bereits länger in Russland aufhalten, oder Menschen, die vor Kurzem über ein Studierenden-Visum eingereist sind, ist nicht festzustellen.Quelle
Die Zahl der internationalen Studierenden in Russland nahm vor dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine in den letzten Jahren stetig zu. 2020 waren es über 300.000 internationale Studierende, knapp sechs Prozent kamen aus Indien, rund vier Prozent aus Ägypten. Im Jahr 2019 kamen 6.620 von 282.922 internationalen Studierenden aus Sub-Sahara Afrika.Quelle
Weshalb kommen die Menschen aktuell nach Belarus? Medienberichten zufolge liegt das an der wirtschaftlichen Situation in Russland, die sich seit Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine auch für Student*innen deutlich verschlechtert hat. Zum anderen, so Monika Matus von der polnischen Hilfsorganisation Grupa Granica, nehmen die Menschen schlicht eine neue Migrationsroute wahr, da sie in Russland langfristig keine Bleibeperspektive hätten.
Martha Otwinowski
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