Ungefähr 30.000 Menschen haben nach Schätzungen der Grenzpolizeien von Litauen, Lettland und Polen zwischen Juni und Oktober 2021 versucht, über Belarus in die Europäische Union zu gelangen. Den Schätzungen der Grenzpolizeien und von NGOs zufolge kommen die meisten von ihnen aus dem Norden Iraks. Inzwischen steigt aber auch die Zahl der Personen aus Syrien, Jemen, Iran, Subsahara Afrika (Kongo und Kamerun) und sogar Kuba.
Auch an der deutsch-polnischen Grenze registriert die Bundespolizei derzeit mehr irreguläre Grenzübertritte: Zwischen Januar und Oktober 2021 waren es 8.000. Rund 60 Prozent derjenigen, die im August und September an der Grenze aufgegriffen wurden, kamen aus dem Irak. Etwa 14 Prozent aus Syrien – vier Prozent jeweils aus dem Iran und Jemen.
Die ankommenden Personen werden von der Bundespolizei nach Eisenhüttenstadt gebracht, der zuständigen Erstaufnahmeeinrichtungen für Brandenburg. Derzeit kommen laut Angaben des Landesinnenministeriums täglich 150 Menschen in Eisenhüttenstadt an.
Die Reise kann bis 10.000 Dollar kosten
Investigative Recherchen des polnischen online-Mediums Outriders ergaben, dass viele der Menschen, die derzeit in Polen ankommen, in den letzten Wochen über Dubai oder Istanbul nach Minsk eingereist sind. Private Reisebüros in der Türkei, dem Libanon und dem Irak, sowie private und staatliche Reiseunternehmen aus Belarus bewerben die Reise als touristisches Angebot auf ihren Webseiten und Sozialen Netzwerken.
Das sei Teil einer Strategie der belarusischen Regierung, die im Mai angekündigt hat, keine Migrant*innen mehr aufzuhalten, die in die EU einreisen wollen. Derzeit können Menschen aus 76 Staaten auf diesem Weg nach Belarus reisen. Die Europäische Union hat mit Sanktionen gegen Fluglinien gedroht, die Asylsuchende nach Minsk bringen. Trotzdem sollen Asylsuchende weiterhin die belarusische Hauptstadt erreichen können.
Ein von Outriders zitierter Mitarbeiter eines Reisebüros in Beirut gab an, innerhalb von zwei Wochen eine Einladung für eine Visum-freie Einreise nach Belarus ausstellen zu können. Auch ausländische Staatsbürger*innen, die sich beispielsweise im Libanon aufhalten und einen gültigen Pass besitzen, könnten so aus Beirut über Istanbul nach Minsk reisen. Mitte Oktober zahlten Flüchtlinge aus dem Nahen Osten Outriders zufolge für Flug, Einreise-Erlaubnis für Belarus und Hotel in Minsk rund 3.500 Dollar. Zusammen mit einer Weiterfahrt nach Deutschland berechnen Reisebüros – je nach Abreiseort – zwischen 6.000-10.000 Dollar.
Den Recherchen von Outriders zufolge werden Flugzeuge aus Istanbul oder Dubai am Minsker Flughafen noch auf der Landeplattform aufgehalten. Das belarusische Militär bringe Schutzsuchende direkt zu EU-Grenze.
Noch bis Anfang August wurden sie in der Regel zur Grenze nach Litauen gebracht. Seitdem das litauische Militär die Menschen an der Grenze zu Belarus zurückweist, hat sich die Route teils nach Lettland und teils nach Polen verlagert. Dem MEDIENDENST gegenüber bestätigte der polnische Grenzschutz täglich rund 500 unerlaubte Grenzübertritte aus Belarus.
Seit August hat auch die polnische Regierung die Grenzkontrollen verstärkt. Nach Angaben verschiedener internationaler Organisationen würde die polnische Grenzpolizei einreisende Geflüchtete willkürlich zurückweisen (sogenannte Pushbacks). Das verstößt sowohl gegen die Genfer Flüchtlingskonvention (Artikel 33) als auch gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (Artikel 3).
"Die Situation an der Grenze wird schlimmer"
Das belarusische Militär würde laut Medienberichten die Menschen bei der Wiedereinreise anhalten und wiederum zur Grenze schicken. So sind zunehmend viele Geflüchtete in einem "Niemandsland" in den Wäldern an der Grenze gefangen. Neun Menschen sind dabei an Krankheiten und Unterkühlung gestorben.
"Die Situation an der Grenze wird von Tag zu Tag schlimmer", sagt Kalina Czwarnóg von der polnischen Menschenrechtsorganisation Fundacja Ocalenie, die den Geflüchteten an der Grenze erste Hilfe und rechtliche Beratung anbietet. Es werden täglich mehrere hundert Pushbacks gemeldet. Niemand weiß genau, wie viele Menschen sich in den Wäldern aufhalten. Die Temperatur sinkt. Die Gefahr, dass weitere Menschen an Unterkühlung sterben, steigt.
"Die meisten Menschen, mit denen wir gesprochen haben, wussten nicht, was sie in Belarus erwarten würde. Sie haben weder Ausrüstung noch die richtige Kleidung, um in den Wäldern zu campieren", sagt Czwarnóg. Ihnen sei von den Reiseagenturen gesagt worden, sie würden in Minsk landen, zur Grenze fahren und dort nach wenigen Kilometer Waldwege problemlos in die EU gelangen.
Viele der ankommenden Flüchtlinge wüssten nicht, wohin sie wollen. „Einige von ihnen waren schon mehrere Jahre in Flüchtlingslagern in Jordanien oder Libanon. Sie waren verzweifelt. Die Reise nach Belarus war für sie zwar teuer – dafür aber sicherer als der Weg über das Mittelmeer“, sagt Czwarnóg.
Fundacja Ocalenie hat mehrere Berichte von Geflüchteten gesammelt, die versucht haben sollen, in Polen Asyl zu beantragen. Sie seien trotzdem zurück zur Grenze gebracht worden. Viele von ihnen nehmen deshalb Kontakt mit Schleusern auf, um an die deutsch-polnische Grenze zu gelangen. Outriders zufolge kostet diese Strecke etwa 1.000-2.000 Dollar pro Person. Für eine Weiterfahrt nach Berlin würden zusätzlich 1.750 Euro pro Person verlangt.
Viele würden es aber nicht schaffen, über die polnische Grenze zu kommen – auch nach mehreren Versuchen. Nach sieben Tagen läuft ihr Visum für Belarus ab. Was danach mit ihnen geschieht, weiß niemand.
Von Martha Otwinowski
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