Die Zahl der Migrant*innen und Geflüchteten, die Italien erreichen, steigt. Die italienische Regierung fordert eine "Seeblockade". Die Europäische Union hat einen "Zehn-Punkte-Plan" zur Bekämpfung von irregulärer Migration im Mittelmeer versprochen. Was sagen uns die Daten über die Situation im zentralen Mittelmeer?
Gibt es einen Rekord der Flüchtlingszahlen in Italien?
Nein. Zum Stichtag 17.9.2023 haben rund 128.600 Migrant*innen und Geflüchtete Italien über die sogenannte zentrale Mittelmeer Route erreicht. Die Zahl der Ankünfte ist vergleichbar mit der Situation 2017, bevor die italienische Regierung ein Abkommen mit der libyschen Regierung in Tripolis abschloss, das zu verstärkten Kontrollen im zentralen Mittelmeer führte.
Viele Migrant*innen und Geflüchtete auf der zentralen Mittelmeer-Route werden von libyschen und tunesischen Kräften aufgegriffen – zwischen Januar und Mai 2023 waren es mehr als ein Drittel aller Menschen, die die Überfahrt versucht haben. Zahlreiche Berichte werfen den libyschen Milizen, die im Mittelmeer patrouillieren, vor, sie würden Migrant*innen gewaltsam festnehmen und foltern. Die zentrale Mittelmeer-Route ist auch die gefährlichste Route im Mittelmeer: Allein zwischen Januar und September 2023 wurden auf dieser Route mehr als 2.000 Todesfälle dokumentiert.
Warum landen so viele Geflüchtete auf Lampedusa?
Anders als 2017 konzentrieren sich im Moment die meisten Ankünfte auf die Insel Lampedusa – wie ein Vergleich der "Ausschiffungshäfen" 2017 und 2023 zeigt.
Die Insel befindet sich weniger als 200 Kilometer vor der tunesischen Küste. Tunesien ist 2023 das Land geworden, aus dem die meisten Migrant*innen Italien erreicht haben. Das liegt unter anderem daran, dass Migrant*innen aus Afrika südlich der Sahara seit Ende 2022 in Tunesien zunehmend Opfer rassistischer Gewalt sind.
Nach Auffassung von Matteo Villa, Forscher beim italienischen "Institute for International Political Studies" hat die Zunahme der Ankünfte auf der Insel auch damit zu tun, dass es weniger aktive Rettungsschiffe im zentralen Mittelmeer gibt – und Migrant*innen und Geflüchtete deshalb direkt Lampedusa ansteuern. "2015 bis 2017 sind lediglich neun Prozent aller ankommende Geflüchteten in Lampedusa ans Land gegangen. In den vergangenen 12 Monaten waren es etwa 66 Prozent", sagt Villa. Nach einer neuen Regelung der italienischen Regierung müssen NGO-Rettungsschiffe Routen nehmen, die bis zu drei Mal länger sind als zuvor, um gerettete Bootsflüchtlinge an Land zu bringen.
Was passiert mit den Geflüchteten, die Italien erreichen?
Migrant*innen und Geflüchtete, die Italien erreichen, kommen derzeit vor allem aus Guinea, der Elfenbeinküste (jeweils 13 Prozent) und Ägypten (neun Prozent). Nur ein Teil von ihnen stellt einen Asylantrag in Italien: Im ersten Halbjahr 2023 wurden in Italien rund 62.300 Asylanträge gestellt – bei etwa 105.000 registrierten Ankünften. Die Schutzquote lag im vergangenen Jahr bei rund 44 Prozent.
Es ist unklar, was mit den anderen Migrant*innen und Geflüchteten geschieht. Viele von ihnen reisen weiter in Richtung Nordeuropa – vor allem nach Frankreich. Im vergangenen Jahr hat Frankreich fast 10.000 "Übernahmeersuchen" im Rahmen der Dublin-III-Verordnung nach Italien geschickt. Infolge der gestiegenen Flüchtlingszahlen auf Lampedusa hat die französische Regierung die Kontrollen an der Grenze zu Italien verschärft.
Es scheint unwahrscheinlich, dass viele der Personen, die in Italien angekommen sind, nach Deutschland weitergereist sind, wie ein Vergleich der Ankunftszahlen nach Herkunftsländern mit den Flüchtlingszahlen in Deutschland zeigt.
Von Fabio Ghelli
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