In den ersten vier Monaten des Jahres 2023 ist die Zahl der Personen, die über die sogenannte zentrale Mittelmeerroute in Italien angekommen sind, im Vergleich zum Vorjahr deutlich gestiegen: Rund 40.000 Menschen haben nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfwerks UNHCR die italienische Küste erreicht. Die rechtskonservative Regierung Italiens hat daraufhin einen Ausnahmezustand ausgerufen.
Im Verhältnis zur Zahl der Menschen, die im Zeitraum zwischen 2014 und 2017 über das zentrale Mittelmeer nach Europa gelangt sind, ist der aktuelle Anstieg der Flüchtlingszahlen relativ gering. Sollte sich der Trend dennoch fortsetzen, könnte die Situation im zentralen Mittelmeer sehr gefährlich werden.
Mehr als 600 Migrant*innen sind seit Anfang des Jahres im zentralen Mittelmeer verstorben oder vermisst. Viele von ihnen waren von der tunesischen Küste in See gestochen.
Seit dem Sommer 2022 steigt die Zahl der Personen, die aus Tunesien nach Italien gelangen. Inzwischen hat das kleinste nordafrikanische Land Libyen als Startpunkt für die Überfahrt im zentralen Mittelmeer abgelöst.
Diese Entwicklung sei nicht unerwartet gewesen, sagt Sarah Doyel, Projektleiterin beim "Mixed Migration Centre" in Tunesien: "Seit 2020 ist die Zahl der Personen, die versuchen, aus Tunesien nach Italien zu gelangen, konstant gestiegen."
Zu Anfang seien es noch meistens Tunesier*innen gewesen, die aufgrund der schlechten Wirtschaftsbedingungen nach Europa wollten. Das änderte sich im Sommer 2022: Die Zahl der Personen, die aus Tunesien Italien erreichten, verdoppelte sich auf einmal. Er waren vor allem Personen aus Westafrika, die die Überfahrt versuchten – insbesondere aus der Elfenbeinküste und Guinea.
Menschenunwürdige Lebensbedingungen
Die Lebenssituation von Migrant*innen in Tunesien habe sich seit der Pandemie stark verschlechtert, sagt Smida Donya, Leiterin des tunesischen Büro des "International Centre for Migration Policy Development" (ICMPD). "Viele Migrant*innen halten sich irregulär in Tunesien auf und können deshalb nur unter informellen Verhältnissen arbeiten", sagt Donya. Aufgrund der Pandemie steckt Tunesien seit drei Jahren in einer schweren Wirtschaftskrise. Viele Migrant*innen hätten dabei ihren Job verloren und könnten keinen anderen finden.
Darüber hinaus werden Migrant*innen zunehmend Opfer von rassistischer Gewalt. Übergriffe auf Migrant*innen haben in den vergangenen Monaten deutlich zugenommen – unter anderem wegen der angespannten wirtschaftlichen und politischen Lage, sagt Salsabil Chellali, Leiterin des tunesischen Büro der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW).
Als der tunesische Präsident Kais Saied in einer öffentlichen Rede Ende Februar Verschwörungserzählungen über einen vermeintlichen Bevölkerungsaustausch verbreitete, sei die Gewalt rapide eskaliert. Migrant*innen aus West- und Ostafrika wurden auf der Straße und in ihren Wohnungen angegriffen. Die Polizei habe außerdem viele Migrant*innen anlasslos festgenommen. Nach der Rede des Präsidenten ist die Zahl der Menschen, die Tunesien über den Seeweg verlassen haben, erneut stark gestiegen.
Der Weg über das Mittelmeer wird gefährlicher
Nach Schätzungen von ICMPD leben in Tunesien rund 50.000 Einwanderer*innen – ausgenommen Personen aus Europa. Fast 90 Prozent von ihnen kommen aus anderen afrikanischen Ländern (inklusive Maghreb-Region). Einer ICMPD-Befragung aus dem Jahr 2021 zufolge wollten rund 60 Prozent der Einwanderer*innen in Tunesien bleiben – unter den Einwanderer*innen aus afrikanischen Ländern waren es allerdings nur ein Drittel. Zwei Drittel der Befragten sagten, sie wollten zurück in ihre Heimat kehren.
Der Weg zurück ist allerdings nicht einfach, sagt Donya. Wenn sie das Land legal verlassen wollen, müssen irreguläre Migrant*innen eine Strafe zahlen, die je nach Aufenthaltsdauer mehrere tausend Euro kosten kann. Viele könnten sich diese nicht leisten. Wenn die freiwillige Rückkehr in ihr Herkunftsland nicht gelingt, bleibe ein einziger Weg, um aus dem Land zu kommen: der schwierige und oftmals gefährliche Weg über das Mittelmeer.
Viele Bootsflüchtlinge wurden von der tunesischen Küstenwache aufgegriffen. Nach Angaben der tunesischen Menschenrechtsorganisation "Forum Tunsien pour les Droits Economiques et Sociaux" waren das seit Anfang des Jahres knapp 15.000 Menschen. ICMPD ist an einem europäischen Programm zur Ausbildung von Küstenwache und Grenzbeamt*innen beteiligt. Die tunesische Grenzpolizei und Küstenwache stehen derzeit in der Kritik wegen der Methoden, die sie bei der Festnahme von Migrant*innen auf hoher See anwenden.
Anders als in Libyen gebe es in Tunesien kein etabliertes Schleuser-Netzwerk, sagt die ICMPD-Leiterin in Tunis. Das mache die Lage umso gefährlicher, sagt MMC-Expertin Sarah Doyel. Schleuser-Netzwerke seien in Tunesien kleiner, weniger organisiert und vielfältig strukturiert. Die Überfahrt erfolge deshalb in der Regel mit improvisierten Mitteln – zum Beispiel alten Holzbooten oder neuerdings auch mit billigen Metallbooten. Wenn in den Frühlings- und Sommermonaten mehr Menschen versuchen sollten, über das Meer nach Europa zu gelangen, könnte die Gefahrenlage noch akuter werden.
Von Fabio Ghelli, Martha Otwinowski, Julian Rybacki
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