Dieser Artikel ist ursprünglich am 28.4.2023 erschienen und wurde am 17.7.2023 aktualisiert.
Im ersten Halbjahr 2023 ist die Zahl der Personen, die über die sogenannte zentrale Mittelmeerroute in Italien angekommen sind, im Vergleich zum Vorjahr deutlich gestiegen: Mehr als 70.000 Menschen haben nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfwerks UNHCR die italienische Küste erreicht.
Der aktuelle Anstieg der Flüchtlingszahlen bleibt unter dem Niveau von 2015-2017. Sollte sich der Trend dennoch fortsetzen, könnte die Situation im zentralen Mittelmeer sehr gefährlich werden.
Die meisten Migrant*innen und Geflüchtete, die in Italien ankommen, kommen aus der Elfenbeinküste, Guinea und Ägypten. Es ist nicht klar, wie viele von ihnen einen Asylantrag in Deutschland stellen. Zwischen Januar und April wurden in Italien rund 38.000 Asylerstanträge gestellt. Es scheint unwahrscheinlich, dass viele der Personen, die in Italien angekommen sind, nach Deutschland weitergereist sind – wie ein Vergleich der Ankunftszahlen nach Herkunftsländern mit den Flüchtlingszahlen in Deutschland zeigt.
Die meisten Geflüchtete stechen aus Tunesien in See
Mehr als 1.700 Migrant*innen sind seit Anfang 2023 im zentralen Mittelmeer verstorben oder vermisst. Viele von ihnen waren von der tunesischen Küste in See gestochen.
Seit dem Sommer 2022 ist die Zahl der Personen, die aus Tunesien nach Italien gelangen, deutlich gestiegen. 2023 war das kleinste nordafrikanische Land das Land, aus dem die meisten Migrant*innen Italien erreicht haben.
Diese Entwicklung sei nicht unerwartet gewesen, sagt Sarah Doyel, Projektleiterin beim "Mixed Migration Centre" in Tunesien: "Seit 2020 ist die Zahl der Personen, die versuchen, aus Tunesien nach Italien zu gelangen, konstant gestiegen."
Zu Anfang seien es noch meistens Tunesier*innen gewesen, die aufgrund der schlechten Wirtschaftsbedingungen nach Europa wollten. Das änderte sich im Sommer 2022: Die Zahl der Personen, die aus Tunesien Italien erreichten, verdoppelte sich auf einmal. Er waren vor allem Personen aus Westafrika, die die Überfahrt versuchten – insbesondere aus der Elfenbeinküste und Guinea.
Menschenunwürdige Lebensbedingungen
Die Lebenssituation von Migrant*innen in Tunesien habe sich seit der Pandemie stark verschlechtert, sagt Smida Donya, Leiterin des tunesischen Büro des "International Centre for Migration Policy Development" (ICMPD). "Viele Migrant*innen halten sich irregulär in Tunesien auf und können deshalb nur unter informellen Verhältnissen arbeiten", sagt Donya. Aufgrund der Pandemie steckt Tunesien seit drei Jahren in einer schweren Wirtschaftskrise. Viele Migrant*innen hätten dabei ihren Job verloren und könnten keinen anderen finden.
Darüber hinaus werden Migrant*innen zunehmend Opfer von rassistischer Gewalt. Übergriffe auf Migrant*innen haben in den vergangenen Monaten deutlich zugenommen – unter anderem wegen der angespannten wirtschaftlichen und politischen Lage, sagt Salsabil Chellali, Leiterin des tunesischen Büro der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW).
Als der tunesische Präsident Kais Saied in einer öffentlichen Rede Ende Februar Verschwörungserzählungen über einen vermeintlichen Bevölkerungsaustausch verbreitete, sei die Gewalt rapide eskaliert. Migrant*innen aus West- und Ostafrika wurden auf der Straße und in ihren Wohnungen angegriffen. Die Polizei habe außerdem viele Migrant*innen anlasslos festgenommen. Nach der Rede des Präsidenten ist die Zahl der Menschen, die Tunesien über den Seeweg verlassen haben, erneut stark gestiegen.
Der Weg über das Mittelmeer wird gefährlicher
Nach Schätzungen von ICMPD leben in Tunesien rund 50.000 Einwanderer*innen – ausgenommen Personen aus Europa. Fast 90 Prozent von ihnen kommen aus anderen afrikanischen Ländern (inklusive Maghreb-Region). Einer ICMPD-Befragung aus dem Jahr 2021 zufolge wollten rund 60 Prozent der Einwanderer*innen in Tunesien bleiben – unter den Einwanderer*innen aus afrikanischen Ländern waren es allerdings nur ein Drittel. Zwei Drittel der Befragten sagten, sie wollten zurück in ihre Heimat kehren.
Der Weg zurück ist allerdings nicht einfach, sagt Donya. Wenn sie das Land legal verlassen wollen, müssen irreguläre Migrant*innen eine Strafe zahlen, die je nach Aufenthaltsdauer mehrere tausend Euro kosten kann. Viele könnten sich diese nicht leisten. Wenn die freiwillige Rückkehr in ihr Herkunftsland nicht gelingt, bleibe ein einziger Weg, um aus dem Land zu kommen: der schwierige und oftmals gefährliche Weg über das Mittelmeer.
Viele Bootsflüchtlinge wurden von der tunesischen Küstenwache aufgegriffen. Nach Angaben der tunesischen Menschenrechtsorganisation "Forum Tunsien pour les Droits Economiques et Sociaux" waren das seit Anfang des Jahres knapp 15.000 Menschen. ICMPD ist an einem europäischen Programm zur Ausbildung von Küstenwache und Grenzbeamt*innen beteiligt. Die tunesische Grenzpolizei und Küstenwache stehen derzeit in der Kritik wegen der Methoden, die sie bei der Festnahme von Migrant*innen auf hoher See anwenden.
Anders als in Libyen gebe es in Tunesien kein etabliertes Schleuser-Netzwerk, sagt die ICMPD-Leiterin in Tunis. Das mache die Lage umso gefährlicher, sagt MMC-Expertin Sarah Doyel. Schleuser-Netzwerke seien in Tunesien kleiner, weniger organisiert und vielfältig strukturiert. Die Überfahrt erfolge deshalb in der Regel mit improvisierten Mitteln – zum Beispiel alten Holzbooten oder neuerdings auch mit billigen Metallbooten.
Von Fabio Ghelli, Martha Otwinowski, Julian Rybacki
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