Tagelang mussten mehrere Seenotrettungsschiffe vor Italiens Küsten ausharren. Die Behörden weigerten sich, die Geflüchteten aufzunehmen, die sie zuvor auf dem Mittelmeer gerettet hatten. Eigens dafür hat die italienische Regierung drei Dekrete verabschiedet. Darin heißt es, dass die Länder für die Aufnahme zuständig seien, unter deren Flagge die Schiffe fahren. Im Fall des Schiffs "Geo Barents" der Organisation "Ärzte ohne Grenzen" wäre das Norwegen. Und Deutschland im Fall der "Humanity 1" des Vereins "United 4 Rescue" sowie für das Schiff "Rise Above" des Vereins "Mission Lifeline".
Nach einem tagelangen Tauziehen konnten die Geflüchteten dann doch an Land. Doch die Frage bleibt: Wie stichhaltig sind die Argumente, die Italiens Regierung anführt? Der MEDIENDIENST hat die wichtigsten Fragen zur Rechtslage beantwortet.
Wie läuft eine Rettung auf See ab?
Grundsätzlich gilt: Laut mehreren internationalen Abkommen sind alle Schiffe verpflichtet, Menschen auf hoher See zu retten, wenn ein Notruf eingeht. Zuständig für die Koordinierung der Rettung sind Leitstellen, die die "Internationale Seeschifffahrts-Organisation" (IMO) betreibt. Diese verständigen Schiffe, die sich in unmittelbarer Nähe des Boots in Seenot befinden. Küstenstaaten müssen dann dafür sorgen, dass diese Schiffe die Geretteten möglichst schnell zu einem "sicheren Hafen" (place of safety) bringen können.
Wer ist zuständig für die Aufnahme der geretteten Personen?
Ein Schiff gehört zum Staat, in dem das Schiff registriert wurde – dem sogenannten "Flaggenstaat". Das Schiff gilt als Erweiterung des Hoheitsgebiets dieses Staats. Insofern ist dieser Staat auch für die Sicherheit der geretteten Schiffbrüchigen zuständig. Das gilt jedoch nur, bis sie den nächsten sicheren Hafen erreichen, erklärt Fulvio Vassallo-Paleologo, Experte für Asylrecht und Menschenrechte an der Universität Palermo. Danach sei nach geltendem Völkerrecht der Ankunftsstaat verantwortlich für die Aufnahme. Die Aussagen der italienischen Regierung, wonach der Flaggenstaat des Schiffes weiterhin verantwortlich bliebe, sind daher politisch - sie haben keine Grundlage im Völkerrecht.
Welcher Staat übernimmt das folgende Asylverfahren?
Der Ankunftsstaat ist für das Asylverfahren zuständig - in diesem Fall also Italien. Laut der Dublin-III-Verordnung ist das EU-Mitgliedsland für Geflüchtete zuständig, in das sie zuerst einreisen. Die Dublin-Verordnung meint damit den Ankunftsstaat und nicht das Stückchen Hoheitsgebiet auf dem Schiff. "Alles andere hätte schwerwiegende Folgen für die Mitgliedstaaten", erklärt Vassallo-Paleologo. Denn dann müsste sich etwa Finnland um Asylverfahren kümmern, wenn ein finnisches Schiff im Rahmen einer Frontex-Mission Geflüchtete im Meer rettet.
Wer rettet Geflüchtete im zentralen Mittelmeer?
Das zentrale Mittelmeer – das Seegebiet zwischen Tunesien, Libyen, Italien und Malta – gilt als eine der gefährlichsten Grenzen der Welt: Nach Schätzungen des Projekts "Missing Migrants" sind im zentralen Mittelmeer seit 2014 mehr als 20.000 Personen gestorben – mehr als 1.300 allein in diesem Jahr (Stand: November 2022). Seit 2018 werden Bootsflüchtlinge in diesem Gebiet verstärkt von der libyschen und tunesischen Küstenwache aufgegriffen. Im ersten Halbjahr 2022 waren das mehr als ein Drittel aller Personen, die versucht haben, nach Europa zu gelangen. Rund 65 Prozent der Personen, die die Überfahrt versuchen, erreichen Italien oder Malta. Die meisten von ihnen werden von der italienischen Küstenwache, von Handelsschiffen oder von kleineren Schiffen wie etwa Fischkuttern gerettet. Ein Teil der Geflüchteten erreicht auch eigenständig die italienische Küste. Die Schiffe der Seenotrettungsorganisationen, die bis 2017 einen Großteil der Geflüchteten gerettet haben, bergen nur einen Bruchteil der Schiffbrüchigen. Zum Vergleich: Während die "Humanity 1", "Geo Barents" und "Rise Above" rund 1.000 Geflüchtete nach Italien gebracht haben sind mehr als 5.000 Geflüchtete in Italien ans Land gegangen (Zeitraum: 28.10-4.11.2022).
Wer sind die Seenotrettungsorganisationen?
Als 2013 in zwei verschiedenen Schiffsunglücken mehr als 600 Geflüchtete starben, beschlossen zahlreiche Hilfsorganisationen, Seenotrettungsmissionen zu organisieren – darunter "Migration Offshore Aid Station", "Sea Watch" und "Ärzte ohne Grenzen". In den kommenden Jahren schlossen sich weitere Organisationen den Rettungsoperationen an. Seit 2017 gab es zahlreiche Gerichtsverfahren (unter anderem in Deutschland, Malta, Italien und den Niederlanden) gegen die Organisationen. Ihnen wurde unter anderem vorgeworfen, die irreguläre Migration zu fördern. Derzeit sind nach Angaben der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) 15 Schiffe und Boote der Organisationen an Seenotrettungs-Operationen im gesamten Mittelmeer beteiligt (Stand: Juni 2022). Sieben davon fahren unter deutscher Flagge.
Kommen wegen der Seenotrettungs-Operationen mehr Flüchtlinge über das Meer?
Die italienische Regierung behauptet: Die Seenotrettungs-Operationen führten dazu, dass mehr Menschen versuchten, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Deshalb müsse der Staat mit strengen Maßnahmen reagieren. Doch stimmt das überhaupt? Mehrere Studien der vergangenen Jahren deuten unmissverständlich darauf hin, dass es nicht stimmt. Zuletzt haben Forscher*innen des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) die Fluchtmigration über das Mittelmeer zwischen 2010 und 2020 analysiert. Das Ergebnis: "Es lässt sich in keinster Weise eine Korrelation zwischen der Anwesenheit von Seenotrettungs-Operationen und der Zahl der Personen feststellen, die versucht haben, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen", so Ramona Rischke, Koautorin der Studie und Co-Leiterin der Abteilung Migration am DeZIM.
Von Fabio Ghelli
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