Seit dem Sommer steigt die Zahl der Geflüchteten, die über die Balkanhalbinsel nach Mitteleuropa kommen. Die Politik diskutiert über stärkere Grenzkontrollen. Wie entwickelt sich die Situation im "Flüchtlingsjahr" 2022 tatsächlich? Ein Blick auf die Zahlen.
Kommen 2022 wieder mehr Geflüchtete nach Deutschland?
Ja. Die meisten Geflüchteten kommen aus der Ukraine. Zum Stichtag 17. Oktober 2022 wurden mehr als eine Million Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland registriert. Etwa drei Viertel von ihnen haben hier vorübergehenden Schutz erhalten beziehungsweise beantragt.
Es kommen auch wieder etwas mehr Geflüchtete aus anderen Ländern. Verglichen mit der Zahl der Menschen aus der Ukraine sind das aber nicht viele: Zwischen Januar und September 2022 stellten 134.908 Menschen zum ersten Mal einen Asylantrag in Deutschland. Das entspricht zwar einem Anstieg um rund 34 Prozent im Vergleich zum gleichen Zeitraum 2021. Allerdings konnten Anfang 2021 aufgrund der Einreisebeschränkungen wegen der Covid-19-Pandemie nur sehr wenige Asylsuchende nach Deutschland kommen. Zum Vergleich: Im Jahr 2015 stellten 441.899 Menschen erstmals einen Asylantrag in Deutschland, etwa ein Drittel von ihnen kam aus Syrien.
Kommen mehr Geflüchtete nach Europa?
Es kommen mehr Geflüchtete nach Europa. Auch hier handelt es sich überwiegend um Personen, die vor dem Krieg in der Ukraine fliehen: Mehr als 7,7 Millionen Menschen aus der Ukraine wurden seit Februar 2022 als Flüchtlinge in Europa registriert (Stand: 19. Oktober). Sie halten sich unter anderem in Polen, Deutschland, Tschechien, Bulgarien, der Slowakei oder auch der Republik Moldau auf. Im gleichen Zeitraum sind über alle wichtigsten Fluchtrouten, die über das Mittelmeer führen, rund 111.000 Geflüchtete nach Europa gekommen.
Haben mehr Menschen einen Asylantrag in der EU gestellt?
Im ersten Halbjahr 2022 haben insgesamt etwas mehr als 400.000 Menschen (nicht-ukrainische Geflüchtete) einen Asylantrag in der Europäischen Union gestellt. Das sind etwa 63 Prozent mehr als im gleichen Zeitraum 2021. Doch auch hier gilt: Die Zahl der Asylanträge in der EU war 2020 und 2021 aufgrund der Covid-19-Pandemie stark zurückgegangen. Und im Vergleich zu 2015 sind die absoluten Zahlen immer noch vergleichsweise niedrig.
Ist die sogenannte "Balkanroute" wieder offen?
Unter der "Balkanroute" versteht man die Fluchtroute, die aus der Türkei über Griechenland und Bulgarien durch die Balkan-Halbinsel nach Mitteleuropa führt. Diese Route wurde 2015 bis 2016 besonders von syrischen, afghanischen und irakischen Geflüchteten genutzt. Im Jahr 2015 kamen fast eine Million Menschen auf diesem Weg nach Europa. Seitdem wurden entlang dieser Route mehrere Grenzmauern oder -zäune errichtet (in Griechenland, Bulgarien, Mazedonien, Slowenien). Es wurden auch zahlreiche gewaltsame Zurückweisungen von Geflüchteten dokumentiert.
2022 sind zwar wieder mehr Menschen über die Balkanhalbinsel nach Mitteleuropa gekommen als in den vergangenen Jahren. Die Zahlen bleiben jedoch gering: Nach Griechenland und Bulgarien sind in den ersten acht Monaten des Jahres 2022 rund 22.000 Geflüchtete eingereist. In Serbien, dem Drehkreuz der Balkan-Route, wurden in dieser Zeit rund 62.200 Geflüchtete in den Aufnahmeeinrichtungen registriert.
Ein Grund: Die Lebensbedingungen für Geflüchtete in der Türkei haben sich deutlich verschlechtert, wie einige Menschenrechtsorganisationen festgestellt haben. Viele syrische und afghanische Geflüchtete versuchen deshalb, in die EU zu gelangen. Nur wenige schaffen es jedoch nach Griechenland oder Zypern: Mehr als 65 Prozent der Personen, die versuchen, die EU aus der Türkei zu erreichen, werden von der türkischen Küstenwache festgenommen.
Gibt es neue Höchstwerte bei der Zahl der Geflüchteten?
Ja. Es handelt sich vor allem um Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine. Die EU-Grenzschutz-Agentur Frontex behauptet, dass auch die Zahl der nicht-ukrainischen Flüchtlinge den Höchstwert seit 2016 erreicht hat. In den ersten neun Monaten 2022 seien es 228.240 Grenzübertritte gewesen. Frontex zählt allerdings alle "versuchten Grenzübertritte". Das heißt: Menschen, die zurückgewiesen werden und nochmal versuchen, über die Grenze zu kommen, können mehrfach gezählt werden. Es sind mehrere zehntausend Fälle: Allein an der serbisch-ungarischen Grenze hat es 2021 etwa 71.000 Zurückweisungen gegeben.
Von Fabio Ghelli
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