Mindestens 110 Personen sind bei zwei Schiffbrücheninnerhalb von wenigen Tagen auf der sogenannten zentralen Mittelmeerroute gestorben. In beiden Fällen wurde der Notstand der Passagiere den italienischen Behörden gemeldet, die gemeinsam mit der maltesischen Küstenwache und dem "Joint Rescue Coordination Centre" in Tripolis die Rettungsoperationen im zentralen Mittelmeer koordinieren. Beide Male konnte kein Schiff rechtzeitig den Ort des Schiffsunglücks erreichen – wie die Kommunikations-Protokolle zwischen Behörden und Seenotrettungsorganisationen zeigen.
Ist die Situation im zentralen Mittelmeer gefährlicher geworden? Und warum kommen derzeit mehr Menschen über diese Route nach Europa?
Sterben mehr Menschen im Mittelmeer?
Die Zahl der Toten und Vermissten im zentralen Mittelmeer ist seit Beginn der Erfassungen durch das Projekt "Missing Migrants" durchgehend hoch: Mehr als 26.000 Fälle hat das Projekt seit 2014 gezählt – 469 seit Anfang dieses Jahres (Stand: 27. März 2023). Die Dunkelziffer könnte jedoch viel höher sein. Das zentrale Mittelmeer gilt schon seit mehr als einem Jahrzehnt als eine der gefährlichsten Grenzen der Welt.
Wie viele Menschen kommen über die zentrale Mittelmeerroute?
Trotz der Gefahr versuchen weiterhin mehrere Tausend Menschen, Europa über die zentrale Mittelmeerroute zu erreichen. 2022 ist Italien erneut zum Hauptziel für Geflüchtete im Mittelmeer-Raum geworden. Wie die Grafik zeigt, schwankt die Zahl der Ankünfte jedoch sehr stark. Das hängt von verschiedenen Faktoren ab – unter anderem von der Lage in den sogenannten Transit-Staaten Libyen und Tunesien.
Warum kommen mehr Menschen über die zentrale Mittelmeerroute?
Über mehrere Jahre kamen die meisten Geflüchteten auf der zentralen Mittelmeerroute aus Libyen. Das Land befindet sich seit acht Jahren in einem Bürgerkrieg und die Lebensbedingungen für Migrant*innen sind unmenschlich. Seit dem Sommer 2022 hat die Zahl der Personen zugenommen, die aus Tunesien nach Italien gelangen wollen. Von allen Personen, die zwischen Juni und November 2022 versucht haben, Italien über die zentrale Mittelmeerroute zu erreichen, wurde jede fünfte von der tunesischen Küstenwache aufgegriffen. Von der libyschen Küstenwache wurden rund zwölf Prozent gestoppt. Dieser Trend hat sich nach Angaben des italienischen Innenministeriums 2023 weiter verstärkt.
Warum kommen mehr Menschen aus Tunesien nach Italien?
Tunesien befindet sich seit der Covid-19-Pandemie in einer schweren Wirtschaftskrise. Das hat bereits in den vergangenen Jahren dazu geführt, dass viele Menschen das Land verlassen haben. Erschwerend dazu kamen in den vergangenen Monaten zahlreiche Ausbrüche rassisistischer Gewalt gegen Einwanderer*innen aus Ländern im südlichen Afrika. Diese wurden zum Teil von Äußerungen des Staatspräsidenten Kais Saied geschürt. Zahlreiche Migrant*innen haben das Land bereits verlassen. Diejenigen, die es nicht schaffen, zurück in ihr Herkunftsland zu gehen, können nur versuchen, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen, wie verschiedene Menschenrechtsorganisationen dokumentiert haben. Das bestätigen die Angaben des italienischen Innenministeriums: Während im vergangenen Jahr vor allem Personen aus Ägypten und Tunesien Italien erreicht haben, sind es in diesem Jahr überwiegend Menschen aus der Elfenbeinküste und Guinea.
Könnte es zu weiteren Schiffsunglücken kommen?
Die Lage im zentralen Mittelmeer ist derzeit sehr angespannt. Es sei sehr schwer abzusehen, wie sie sich entwickeln wird, sagt Felix Weiß von der Seenotrettungsorganisation Sea Watch. Anfang März 2023 sind innerhalb von wenigen Tagen viele Boote aus Libyen und Tunesien gestartet. Dabei handelt es sich um Holz- oder Blechboote, in denen 20 bis 70 Menschen Platz finden können. "Wenn das Wetter gut ist, versuchen viele Boote, in See zu stechen. Das war in den vergangenen Tagen besonders gefährlich, denn es befanden sich keine Seenotrettungsschiffe in der Nähe", sagt Weiß.
Seenotrettungsorganisationen müssen aufgrund neuer Regeln der italienischen Regierung gerettete Menschen in weit entfernte Häfen im Norden Italiens ans Land bringen. Das führt dazu, dass es in den gefährlichen Gewässern vor Libyen und Tunesien keine Schiffe für Rettungsoperationen gibt. Auch die Routen seien gefährlicher geworden. "Um die Überwachung der Routen zu umgehen, benutzen Schlepper viel längere und gefährlichere Routen etwa aus der Türkei oder dem Libanon", sagt Weiß. Das Boot, das am 26. Februar vor der italienischen Küste gekentert ist und mindestens 86 Menschen in den Tod gerissen hat, kam aus der Türkei.
Fabio Ghelli
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