MEDIENDIENST: Herr Dr. Müller, kommen Migranten aus ärmeren Ländern wegen der Sozialleistungen nach Deutschland?
Aus unseren Daten lässt sich das nicht belegen. Wir haben die Migrations-Daten für 160 Länder aus verschiedenen Jahren ausgewertet. Dabei haben wir keine Anziehungseffekte von höheren Sozialleistungen finden können. Im Gegenteil: Die meisten Menschen wandern zwischen Ländern mit ähnlich hohen Sozialleistungen. Vereinfacht gesagt: Menschen wandern eher zwischen Deutschland und Dänemark als zwischen Rumänien und Dänemark.
Wieso sind Länder mit höheren Sozialleistungen nicht attraktiver?
Es geht nicht nur um einen Faktor. Dazu ist Migration viel zu komplex. Wenn Menschen ihr Land verlassen, schauen die wenigsten danach, wie hoch zum Beispiel die Sozialleistungen in Deutschland sind. Und die meisten Menschen haben auch erst einmal keinen Anspruch, wenn sie neu in einem Land sind.
Wonach entscheiden Menschen denn, wohin sie gehen?
Große Länder sind generell attraktiver, besonders wenn sie eine hohe Wirtschaftsleistung haben. Wir nennen das "Gravitations-Effekte": Je größer ein Land ist und je stabiler die Wirtschaft, desto attraktiver. Die USA und Deutschland sind zum Beispiel ähnlich attraktiv – obwohl die Sozialleistungen unterschiedlich hoch sind. Außerdem spielt geographische Nähe eine Rolle. Im Alltag bedeutet das: Deutschland ist einfach größer und wirtschaftsstärker als zum Beispiel Portugal. Das sind Faktoren, die einfach wahrzunehmen sind und deshalb wird es häufiger angesteuert. Und es ist einfacher zu erreichen, weil es in der Mitte Europas liegt.
Dr. Tim Müller ist Sozialwissenschaftler und leitet an der Berliner Humboldt-Universität das Forschungsprojekt "Migration und Sozialstaat", das vom Bundesarbeitsministerium gefördert wird.
Gibt es denn noch weitere Faktoren, außer Größe und Wirtschaftsleistung?
Demokratie ist ein "Pull-Faktor". Wenn sich Migranten darauf verlassen können, dass sie in möglichen Zielländern auch in Krisenzeiten human und rechtsstaatlich behandelt werden – dann ist diese Stabilität ein attraktiver Faktor. Außerdem machen vergleichbar höhere Gesundheitsausgaben ein Land offenbar ein klein wenig attraktiver für Migrantinnen und Migranten.
In der Forschung wird oft von "Migranten-Netzwerken" geredet, die Migration verstärken. Haben Sie das auch gefunden?
Tatsächlich haben das verschiedene Studien belegen können. In unserer Daten-Auswertung haben wir das nicht direkt untersucht. Was wir aber sagen können: Wenn im Herkunfts- und Zielland die selbe Sprache gesprochen wird, begünstigt das Migration.
Kann es sein, dass Geflüchtete anders entscheiden als etwa Arbeitsmigranten?
Das kann sein. Wir können anhand unserer Daten nicht differenzieren, mit welchem Aufenthaltstitel jemand migriert. Arbeitsmigration kann Fluchtmigration rein zahlenmäßig schon "überdecken", weil es einfach mehr Menschen gibt, die für einen Job in ein anderes Land gehen. Was wir allerdings sagen können: Hochverdiener und Geringverdiener haben ähnliche Präferenzen, in welches Zielland sie wollen.
Wie gut sind diese "Pull-Faktoren" denn erforscht?
In der öffentlichen Debatte wird oft über Sozialausgaben als "Pull-Faktoren" gesprochen, aber in der Ökonomie ist eher die These vom "Wohlfahrts-Magneten" bekannt. Kurz gesagt: Migranten haben hohe Kosten. Deshalb bevorzugen sie nach dieser These Zielländer mit hohen Sozialleistungen, sozusagen um die Kosten schnell wieder "rein zu bekommen".
Aber: Die ökonomische Forschung hat bisher nur ganz schwache Pull-Effekte gefunden und diese wurden als Anziehung interpretiert. Dabei wurden andere Rahmenbedingungen, zum Beispiel in den Herkunftsländern, kaum einbezogen. Das konnten wir für unsere Auswertung ändern. Es ist wichtig, die Ziel- und Herkunftsländer gemeinsam zu untersuchen.
Was zeigt sich, wenn man Ziel- und Herkunftsländer gemeinsam untersucht?
Zum Beispiel, dass die meisten Menschen zwischen Ländern migrieren, die ähnlich hohe Sozialleistungen haben. Manche Arbeitsmigranten bevorzugen laut anderer Studien offenbar Länder mit geringen Sozialausgaben – weil sie dann weniger Steuern zahlen müssen und schneller Geld ansparen können.
Häufig wird eine Studie aus Dänemark erwähnt, die zeige, dass Sozialleistungen die Migrationsströme beeinflussen. Was ist das für eine Studie?
Diese Studie der US-Uni Princeton zu Dänemark ist interessant, weil sie von 2019 ist, also aktuell und weil sie einen sehr starken Effekt gefunden hat. In Dänemark wurden Sozialleistungen für Nicht-EU-Bürger zuerst 2002 stark gekürzt, 2012 wieder angehoben und 2015 wieder drastisch gekürzt. Laut der Studie folgte die Migration dieser Entwicklung: Zuerst ging sie zurück, dann stieg sie wieder, dann ging sie wieder zurück. Sozusagen der Idealfall der "Wohlfahrts-Magneten-These". Der Beweis, dass Politik-Änderungen Migrantinnen und Migranten abschrecken können.
Und welche Schwächen hat die Dänemark-Studie?
Zum Beispiel wurden Migranten aus Bosnien-Herzegowina nicht berücksichtigt – eine wichtige Gruppe, die nach dem Jugoslawienkrieg als Geflüchtete einen hohen Anteil der Migranten dort ausmachten. Außerdem wurden andere Gesetzesänderungen der dänischen Regierung nicht berücksichtigt – die Erschwerung des Familiennachzugs zum Beispiel. Das war womöglich wichtiger als die Änderungen bei der Sozialhilfe.
Außerdem wurden Verschärfungen von 2015 nicht berücksichtigt. Migranten bekamen damals ihre Wertsachen an der Grenze abgenommen. Solche symbolischen und übrigens auch sehr fragwürdigen Maßnahmen können Migrant*innen auch zeitweise abschrecken. Diesen Kontext nicht zu berücksichtigen, schwächt die Aussagekraft der Studie.
Eine andere häufig erwähnte Studie stammt aus der Schweiz. Was sagen sie zu dieser Studie?
Die Schweizer Studie ist aus diesem Jahr. Dabei wurde untersucht, ob Migranten innerhalb der Schweiz häufiger umziehen – je nachdem, wie hoch die Sozialleistungen in den einzelnen Kantonen sind. Hier müsste die Wohlfahrts-Magnet-Hypothese "textbuchmäßig" zutreffen. Das Ergebnis: Die Forscher fanden nichts. Wichtiger als Unterschiede bei den Sozialleistungen scheint laut der Studie zu sein, wie viele Menschen der eigenen Community in der jeweiligen Ziel-Kommune leben. Ein Effekt, den wir auch aus Deutschland kennen. Etwa wenn Afghanen vor allem nach Hamburg ziehen – eben weil dort bereits viele andere Afghaninnen und Afghanen wohnen.
Zur Methodik:
Für die Studie im Projekt "Migration und Sozialstaat" wurden Migrationsdaten von 160 Ländern ausgewertet und korreliert mit den Sozialstaats-Ausgaben in diesen Ländern. Genutzt wurden die Migrationsdaten der Vereinten Nationen (UN) sowie Ausgaben-Daten der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO). Außerdem wurden Länder-Präferenzen aus Umfragen des Gallup-Meinungsforschungsinstituts einbezogen. Die Analyse blickt auf die Jahre 2000, 2010 und 2019. Das Paper mit allen Ergebnissen befindet sich derzeit im Peer-Review-Verfahren.
Interview: Carsten Wolf
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