MEDIENDIENST: Frau Adar, kam der Wahlsieg von Recep Tayyip Erdoğan und seiner Koalition für Sie überraschend?
Sinem Adar: Nicht wirklich. Nach der ersten Wahlrunde haben wir gesehen, dass trotz der massiven wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme viele Wähler*innen noch den regierenden Präsidenten unterstützen. Insbesondere für die AKP war das allerdings dennoch das schlechteste Wahlergebnis der letzten 20 Jahre.
Wie bereits bei vorherigen Wahlen haben Erdoğan und seine Koalition in Deutschland deutlich besser abgeschnitten als in der Türkei. Wie wichtig waren die Wähler*innenstimmen türkeistämmiger Personen in Deutschland für das Wahlergebnis?
In den meisten europäischen Ländern waren Erdoğan und die AKP unter „Auslandtürk*innen“ deutlich erfolgreicher als in der Türkei. Sie hätten jedoch auch ohne die Unterstützung der Auslandswähler*innen die Wahl gewonnen.
DR. SINEM ADAR ist Forscherin beim „Zentrum für angewandte Türkeistudien“ (CATS) sowie bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Sie hat zur türkischen Diasporapolitik, türkischer Innen- und Flüchtlingspolitik sowie zum Wahlverhalten türkeistämmiger Personen geforscht.
Warum ist Erdoğan so erfolgreich unter „Auslandtürk*innen“?
Dafür gibt es viele Gründe. Ein Grund ist, dass die Erdoğan-Regierung schon lange türkeistämmige Wähler*innen im Ausland direkt anspricht. Sie hat es „Auslandstürk*innen“ 2012 ermöglicht, aus dem Ausland zu wählen – und führt seitdem Wahlkämpfe systematisch im Ausland. Ältere Mitglieder der türkischen Diaspora sehen den Präsidenten außerdem immer noch als den Mann, der das türkische Wirtschaftswunder herbeigeführt hat – und Straßen und Krankenhäuser gebaut hat. Es gibt noch weitere Faktoren: Gläubige Muslim*innen fühlen sich etwa unter Erdoğan besser aufgehoben – wie ich vor einigen Jahren im Rahmen einer Befragung festgestellt habe. Es gibt auch jüngere Wähler*innen, die sich von der Aufnahmegesellschaft in Deutschland ausgeschlossen fühlen und sich deshalb von Erdoğans Narrativ der "starken Türkei" angezogen fühlen.
Einige Politiker und Kommentatoren in Deutschland fragen sich, wie Deutsch-Türk*innen in Deutschland für demokratische Parteien stimmen können – und in der Türkei für einen Autokraten wie Präsident Erdoğan…
Es ist falsch anzunehmen, dass es die gleichen Personen sind, die in Deutschland SPD oder CDU wählen und in der Türkei AKP. Zunächst müssen wir bedenken, dass nur wenige türkeistämmige Personen beide Staatsangehörigkeiten haben. Das Statistische Bundesamt schätzt die Zahl der Doppelstaatler*innen mit deutschem und türkischem Pass auf etwa 290.000 Personen – inklusive Minderjährige. Selbst wenn es sich um eine Untererfassung handelt, sprechen wir von einem Bruchteil der etwa 1,5 Millionen wahlberechtigten Türkeistämmigen in Deutschland. Man darf außerdem nicht vergessen: Nur ungefähr die Hälfte der Wahlberechtigten in Deutschland hat gewählt. Wir brauchen definitiv mehr Daten, wenn wir über das Wahlverhalten von Doppelstaatler*innen sprechen möchten.
Was wird sich nach dieser Wahl für die deutsch-türkische Community ändern?
Der Wahlkampf war sehr emotional – sowohl in der Türkei als auch in Deutschland. Das hat man besonders vor der Stichwahl gespürt. Sowohl die türkische Gesellschaft als auch die türkischen Communitys im Ausland waren schon vor der Wahl polarisiert. Diese Wahl hat den Graben zwischen dem Pro-Erdoğan und dem Anti-Erdoğan-Lager vertieft. Auch die nationalistischen Kräfte haben deutlich zugelegt. Der harte und polarisierende Ton von Erdogans Siegesrede vor dem Präsidentschaftskomplex ist bezeichnend. Es ist realistisch zu erwarten , dass die politische Landschaft in der Türkei instabil bleiben wird – aus verschiedenen Gründen, vor allem wegen der Wirtschaftskrise. Auch in den Beziehungen der Türkei zu ihren westlichen Verbündeten wird es weiterhin Spannungen geben.
Interview: Fabio Ghelli
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