Das Jahr 2014 startete mit einer heftigen Debatte über „Armutsmigration“, die Deutschland vor neue Herausforderungen stellte. Oft wurde „Armutszuwanderung“ dabei synonym für Roma aus Osteuropa verwendet und mit antiziganistischen Vorurteilen abgelehnt. Der „Rat für Migration“ (RfM) veröffentlichte dazu am 1. Dezember ein Buch von Max Matter unter dem Titel: "Nirgendwo erwünscht. Zur Armutsmigration aus Zentral- und Südosteuropa in die Länder der EU-15 unter besonderer Berücksichtigung von Angehörigen der Roma-Minderheiten".
Bei der Präsentation erklärte der Ethnologe: "Die Roma gibt es nicht." Roma seien – anders als von der EU, dem Europarat und einigen Romanationalisten gerne dargestellt – "kein in sich geschlossenes Volk, sondern allenfalls ein Konglomerat ethnischer Gruppen". Romagruppen unterscheiden sich demnach unter anderem in ihren Sprachen und Dialekten, Religionen usw. Ihre Gemeinsamkeit in Europa liege in der "leider überall festzustellenden Ausgrenzung, Missachtung und Benachteiligung", so Matter. Sie seien schlicht "nirgendwo erwünscht“. Hinzu komme großes Desinteresse: Eine Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes zeige etwa, wie wenig die Bevölkerung über die Minderheiten weiß. Matter kritisiert, dass die Vielfalt in den verschiedenen Roma-Gruppen in den Debatten meist ebenso ignoriert wird, wie die Gründe für ihre Migration.
"Nirgendwo erwünscht" von Prof. Dr. Max Matter. Der Band wurde angeregt und begleitet von Gesprächen im Rat für Migration, einem Zusammenschluss von 78 engagierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Fachgebieten. In der neuen, gleichnamigen Reihe publiziert der Rat für Migration künftig in loser Folge Bücher, die Auskunft über seine Arbeit geben.
Auch kritisiert der Autor die ungenaue Umgehensweise mit Zahlen und Fakten. „Wie viele der knapp 513.000 hier lebenden Bulgaren und Rumänen Roma sind, wissen wir genauso wenig, wie die Tatsache, wie viele von ihnen aus Armutsgründen nach Deutschland gekommen sind“, erklärte Matter. Unbestritten sei jedoch, dass ein Teil der Einwanderer Roma sind.
Hier plädiert Matter dafür, sie nicht unter dem Begriff "Armutsmigration" zu subsumieren – anders als etwa der Balkan-Experte Mappes-Niediek. Zwar spräche einiges dafür, konsequent von einer ethnischen Zuschreibung abzusehen, um eine "Kulturalisierung" von Problemen zu vermeiden, so Matter. "Doch ohne die Zugehörigkeit zu Roma zu benennen, können wir viele wichtige Aspekte nicht ansprechen, die für ein Verständnis der Situation zwingend erforderlich sind." In diesem Zusammenhang sei es wichtig, immer wieder klarzustellen, dass es sich "um Angehörige der seit Jahrhunderten europaweit am stärksten diskriminierten Minderheit" handle. Werde diese Tatsache nicht berücksichtigt, könnten eine Reihe von Lösungsansätzen gar nicht erst angedacht werden.
"Die Bekämpfung des Rassismus gegenüber Menschen, die zu uns kommen, weil sie auf der Flucht sind oder einfach nur von ihrer Freizügigkeit Gebrauch machen, wird nicht ausreichend als politische Aufgabe anerkannt", so Matter. Diese Meinung teilt auch Migrationsforscher Klaus J. Bade, der in seinem Statement bei der Pressekonferenz zur Buchpräsentation etwa das „Exklusionsgesetz gegen den Sozialmissbrauch durch EU-Zuwanderer" monierte, mit dem "zu Unrecht vorzugsweise Roma aus Rumänien und Bulgarien" gemeint seien. Auch ein Gesetz gegen den "angeblich massenhaften Missbrauch des deutschen Asylrechts durch Drittstaatsangehörige aus Europa" findet keine Zustimmung bei den Wissenschaftlern. Durch das Gesetz sollen Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und Serbien als sichere Herkunftsstaaten deklariert werden.
Nötig sind laut Bade Interventionen auf kommunaler, nationaler und "supranationaler" Ebene. Auf EU-Ebene bedürfe es „einer Art Entwicklungspolitik mitten in Europa“, um die Faktoren zu begrenzen, die die Auswanderung vorantreiben. Hier seien Unsummen fehlinvestiert worden. Deutschland habe es außerdem versäumt, eine inhaltlich stimmige nationale Strategie zur Roma-Integration vorzulegen, wie sie von der Europäischen Kommission gefordert wurde. So sei etwa die von Brüssel 2013 angeregte Einführung nationaler Kontaktstellen für die Roma-Integration nur bedingt umgesetzt. Als Stelle, die die nationalen Initiativen in den verschiedenen Lebensbereichen, Institutionen und Kommunen koordinieren soll, wurde schlicht das zuständige Referat im Bundesinnenministerium ernannt.
Bade betrachtet das Thema auch in einem weit größeren Kontext: "Der europaweit vehement expandierende Rechtspopulismus lebt von zwei großen Feindbildern: Islam und Zuwanderung", sagt er, wobei die sogenannte Armutswanderung eine große Rolle spiele. Will man den rasanten Aufstieg des Rechtspopulismus begrenzen, müsse man ihnen "mit guten Argumenten und pragmatischer Gestaltung die Kampfthemen entziehen".
Dr. Ulrich Maly, Präsident des Deutschen Städtetags und Oberbürgermeister in Nürnberg, sagte bei der Buchvorstellung: „Beim Thema Zuwanderung von Roma stehen wir vor neuen Herausforderungen und benötigen drei Ressourcen: Geld, Personal, z. B. für den Bildungsbereich, sowie moralische Ressourcen, um sich mit dem Thema rational auseinandersetzen zu können.“ Man müsse Probleme in der Debatte benennen, aber diese sachlich und lösungsorientiert betrachten. In diesem Zusammenhang begrüßte Maly das vorgestellte Buch als gelungenen Beitrag dazu.
Von Ferda Ataman
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