Zwanzig Jahre nachdem die Bundesregierung dem Vorschlag für ein Denkmal zugestimmt hat, wurde im Oktober 2012 endlich das Mahnmal für hunderttausende im Nationalsozialismus ermordete Sinti und Roma eingeweiht. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel war dabei, äußerte in ihrer Rede Betroffenheit und wies auf die gegenwärtige Situation hin: "Sinti und Roma leiden auch heute oftmals unter Ausgrenzung, unter Ablehnung. Sie müssen auch heute um ihre Rechte kämpfen." Deshalb wirke Deutschland auch im Rahmen der Europäischen Union und in den Beitrittsprozessen darauf hin, dass die Rechte der Sinti und Roma gewahrt werden.
Daran haben einige Sinti- und Roma-Verbände in Deutschland allerdings ihre Zweifel. Sie haben sich einen Tag nach der Denkmal-Einweihung in einem Netzwerk zusammengetan und mit privatem Geld die Hildegard Lagrenne Stiftung gegründet. Damit sollen Projekte und Maßnahmen für Roma und Sinti leichter ermöglicht werden. Hintergrund war ein Bericht der Bundesregierung: 2011 musste jedes EU-Land der Europäische Kommission ein Strategiepapier zur Verbesserung der Lage von Roma vorlegen. Die Bundesrepublik schrieb nach Brüssel, dass Deutschland keine explizite Strategie bräuchte, da die geschätzt 70.000 hier lebenden Sinti und Roma „gut integriert" seien. Vertreter zahlreicher zivilgesellschaftlich organisierter Sinti und Roma reagierten empört und formulierten 2012 einen "Ergänzungsbericht". Die „Gesellschaft für Antiziganismusforschung“ etwa bezeichnet den Bericht als „wirklichkeitsfremd und beschämend“.
Die Zustandsbeschreibung der Bundesregierung steht im Gegensatz zur ersten breit angelegten Studie zur Bildungssituation deutscher Sinti und Roma von 2011, die die Interessensvertretung „Romno Kher, Haus für Kultur, Bildung und Antiziganismusforschung“ durchgeführt hat. Die Auswertung von 275 Interviews belegt eine Bildungsmisere: Rund 13 Prozent der Roma und Sinti haben nie eine Schule besucht, 44 Prozent haben sie ohne Abschluss wieder verlassen. Die Autoren nennen als mögliche Erklärung dafür einen anderen dramatischen Befund: Über 80 Prozent der Befragten äußerten persönliche Erfahrungen mit Diskriminierung und Beleidigung – besonders in der Schule.
„Das Mahnmal ist sehr wichtig für uns“, sagt Daniel Strauß, Sprecher des "Netzwerks Bildungsaufbruch", das die Stiftungsgründung organisiert hat. "Nachdem die Bundesregierung 2011 jedoch schwarz auf weiß erklärt hat, Roma und Sinti seien in Deutschland bestens integriert, ist uns überdeutlich geworden, dass wir selbst handeln müssen“, sagt Strauß, der sich bei Romno Kher engagiert. So kam es, dass sich 21 Sinti und Roma aus dem Netzwerk bereit erklärten, mit privatem Geld das nötige Stiftungskapital aufzubringen, um die „Hildegard Lagrenne Stiftung für Bildung, Inklusion und Teilhabe von Sinti und Roma in Deutschland“ zu gründen. „Der symbolischen Geste sollen nun mithilfe der Stiftung konkrete Maßnahmen folgen, um die Situation im Bereich Bildung, Wohnen, Gesundheit, und Beschäftigung zu verbessern.“
Besonders bezeichnend für die Situation von Roma und Sinti ist die Tatsache, dass weder der Nationale Bericht der Bundesregierung - der einen Tag vor Weihnachten 2011 verschickt wurde - noch ein Ergänzungsbericht von Roma und Sinti-Verbänden oder ihre Proteste in der Öffentlichkeit wahrgenommen wurden.
Sie sind Journalist*in und haben weitere Fragen oder suchen Fachleute zum Thema? Dann können Sie uns gern kontaktieren. Wir helfen schnell und unkompliziert. Unsere Texte und Grafiken können kostenfrei unter den Regeln der Creative Commons und unserer Namensnennung verwendet werden. Dies gilt nicht für Bilder und Fotos, die wir von Dritten erworben haben.