Migration ist in der EU Sache der Länder: Jeder Staat entscheidet selbstständig, wie Menschen aus Drittstaaten einwandern dürfen und ob sie bleiben können oder nicht. Der Vertrag von Lissabon stellt deutlich klar, dass die Europäische Union im Bezug auf Migration aus Drittstaaten eine ausschließlich „koordinierende“ Funktion ausüben darf. Dennoch konnte der Europäische Rat in den letzten Jahren mehrere Richtlinien verabschieden, die gemeinsame Kriterien für die Einwanderungs- und Asylpolitik der Mitgliedstaaten bestimmen.
Die Europäische Migrationsagenda, die die Kommission nun am 13. Mai bekannt gegeben hat, setzt diese zurückhaltende Strategie fort: Den Mitgliedstaaten wird darin nicht gesagt, wie sie mit den steigenden Flüchtlingszahlen umgehen sollen. Die Agenda formuliert lediglich einige Vorschläge für "Sofortmaßnahmen" und Richtlinien für die Mitgliedstaaten, die den Vertrag von Lissabon unterschrieben haben, um eine gemeinsame Strategie zu entwickeln. Selbst wenn die Vorschläge der Kommission vom Europäischen Parlament angenommen werden, sind nicht alle Mitgliedstaaten verpflichtet, diese umzusetzen: wegen der sogenannten „opt-out“-Klausel können Dänemark, Großbritannien und Irland das gesamte Maßnahmen-Paket ablehnen.
Die neue Strategie der Kommission kann in drei Bereiche geteilt werden:
1. Stärkung des Grenzschutzes, 2. Verteilung der Asylsuchenden und 3. Schaffung legaler Einreisemöglichkeiten.
- 1. Grenzschutz
- 2. Verteilung
- 3. Legale Einreise
Das Budget für 2015 soll aufgestockt werden: 89 Millionen Euro will die Europäische Kommission in den Ausbau des Überwachungssystems an den Seegrenzen der EU investieren, davon 27 Millionen allein für die zwei Frontex-Operationen "Triton" und "Poseidon". Außerdem sollen die Mitgliedstaaten bis 2016 einen gemeinsamen Standard anstreben: Grenzpolizeien sollen demnach eine bessere Koordination sowie ein einheitliches Kontroll- und Registrierungsverfahren entwickeln.
Um die Asylverfahren zu beschleunigen, will die Kommission mithilfe des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (EASO), Frontex und Europol ein neues „Hotspot“-System an den Außengrenzen der EU einrichten. Dort sollen Migranten zügig registriert und Asylanträge in die Wege geleitet werden. Wer Schutz erhält, soll schnell seiner neuen Heimat zugewiesen werden, wer abgelehnt wird, konsequenter abgeschoben werden (Seite 6). Weniger als 40 Prozent aller Abzuschiebenden haben die EU laut Kommission im Jahr 2013 tatsächlich verlassen. Deswegen soll Frontex eine aktivere Rolle bei der Ausweisung der irregulären Migranten spielen und die Mitgliedsländer bei der Abschiebung unterstützen. Drittstaaten sollen außerdem durch bilaterale Abkommen dazu verpflichtet werden, bei der Abschiebung ihrer Landsleute mitzuwirken.
Zudem sollen Frontex und Europol ihre Zusammenarbeit "im Kampf gegen organisierte Schlepper-Banden" ausbauen. Zu diesem Zweck haben die zwei Agenturen bereits das Sonderteam Joint Operation Team Mare (JOT-Mare) ins Leben gerufen.
Die Kritik: Zahlreiche Grenzschutzexperten haben erklärt, dass es für die Sicherheit der Schutzsuchenden nicht ausreicht, mehr Geld für Mittelmeer-Operationen auszugeben, denn den Einsatzregeln zufolge sind Triton und Poseidon in erster Linie für den Grenzschutz zuständig. Seenotrettung wird derzeit immer noch überwiegend von Patrouillenbooten der Küstenwache durchgeführt. Eine schnelle Registrierung und Asylverfahren an den Grenzen böten außerdem keine Garantie für eine gerechte Einzelfall-Prüfung. Auch die Idee, Drittstaaten an den Abschiebungsverfahren stärker zu beteiligen, erntete Kritik: Die Bürgerrechtsbewegung Statewatch hat beispielsweise ein Pilotprojekt für koordinierte Abschiebungen nach Pakistan und Bangladesh kritisiert, weil es starken Druck auf die Herkunftsländer ausübe.
Derzeit bearbeiten fünf Mitgliedstaaten drei Viertel aller Asylanträge, die in der EU gestellt werden. Deswegen sieht die Europäische Kommission in ihrer neuen „Migrationsagenda“ ein, dass das sogenannte Dublin-System für die Verteilung von Asylsuchenden nicht funktioniert. Eine Abschaffung des umstrittenen Verteilungssystems steht zwar noch nicht an, doch 2016 soll laut Pressemitteilung eine "Bewertung und gegebenenfalls Reform der Dublin-Verordnung" stattfinden. Bis dahin schlägt die Kommission vor, ein Notfall-System zu aktivieren, das im Vertrag von Lissabon vorgesehen ist. Demnach können „eindeutig schutzbedürftige Menschen“ für eine beschränkte Zeit nach einem Quotenprinzip in alle Mitgliedstaaten verteilt werden.
Die Kritik: Es bleibt unklar, wer unter die Kategorie „eindeutig schutzbedürftige Menschen“ fällt, denn in jedem Mitgliedstaat gibt es unterschiedliche Schutzquoten für unterschiedliche Gruppen von Asylsuchenden. Außerdem würde die Einführung der Notfallregelung für Quoten den bürokratischen Apparat der Dublin-Verordnung erhalten, der die Bearbeitung vieler Asylanträge bis zu ein Jahr verlängert, wie zuletzt eine Studie des "Migration Policy Instituts" belegte.
Neben dem Verteilungsschlüssel für Asylsuchende, die sich bereits in der EU befinden, will die Kommission einen „Resettlement“-Plan in die Wege leiten, durch den 20.000 Menschen legal nach Europa einreisen können, die dringend humanitären Schutz benötigen. Etwa 3.000 davon würden nach Deutschland kommen.
Außerdem will die Kommission mithilfe des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) und der International Organization for Migration (IOM) Schutzprogramme in den Herkunfts- und Transitländern einführen, die die Aufnahmekapazitäten vor Ort deutlich steigern sollen. Zwei dieser Programme, eines für Nordafrika und eines für das Horn von Afrika, wurden nach Angaben der Bundesregierung bereits aktiviert. Die EU will außerdem mehr Geld in Hilfsprogramme für Länder wie die Türkei investieren, die derzeit eine große Zahl von Flüchtlingen versorgen müssen.
Die Kritik: Politiker wie die Rheinland-pfälzische Intergationsministerin Irene Alt (Grüne) haben kritisiert, dass ein Resettlement-Plan für 20.000 Menschen dem Ausmaß der heutigen Flüchtlingsbewegungen nicht gerecht wird. Eine weitere Kritik: Die Idee, Aufnahmezentren für Asylsuchende in unmittelbarer Nähe von Krisengebieten zu errichten, hat eine lange Geschichte. Dennoch konnten bislang wenige Erfolge verzeichnet werden. Viele Kritiker verweisen vor allem auf das Beispiel des UNHCR-Transitlagers Choucha in Tunesien: Es sollte eine Sammelstelle für Flüchtlinge werden, die durch Resettlement-Programme nach Europa und in die USA gelangen wollten. Das Transitlager wurde 2013 wegen erheblichen Verwaltungsproblemen nach nur zwei Jahren geschlossen.
Von Fabio Ghelli
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