Die Verantwortung für Menschen auf der Flucht müsse fair auf alle Staaten der Europäischen Union verteilt werden, sagte der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz (SPD), bei einem außerordentlichen EU-Gipfel am 23. April. Das sei derzeit offenbar nicht der Fall, denn 70 Prozent aller Asylbewerber würden in fünf Mitgliedstaaten untergebracht.
Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat letzte Woche laut Medienberichten in Brüssel angekündigt, langfristig das EU-Asylsystem und die Dublin-Regeln ändern zu wollen. Für Deutschland ist dies ein radikaler Paradigmenwechsel, denn die Bundesregierung hat bis vor Kurzem vehement an dem System festgehalten, das 1997 durch das Dubliner Übereinkommen entstanden ist.
2003 wurde das Übereinkommen durch die Dublin-Verordnung ersetzt. Es sollte der erste Baustein eines neuen „Gemeinsamen Europäischen Asylsystems“ (GEAS) werden. Ziel der Initiative war es, die Asylverfahren zu beschleunigen und gleichzeitig klarzustellen, welcher Mitgliedstaat für die Entscheidung über den Asylantrag und die Versorgung eines Asylsuchenden zuständig ist. Dazu zählt auch, dass die Menschen in dem Land leben müssen, das ihnen Schutz gewährt.
Beide Ziele hat die Dublin-Verordnung jedoch verfehlt, wie eine Studie des US-amerikanischen Think Tanks "Migration Policy Institute" (MPI) zeigt. Sie trägt den Titel „Not Adding Up – The Fading Promises of Europe’s Dublin System“, zu Deutsch „Die Rechnung geht nicht auf – Die schwindenden Versprechen des europäischen Dublin Systems“. Demnach kann von einer Beschleunigung der Asylverfahren durch das System nicht die Rede sein.
Dublin verkompliziert das Asylsystem
Die Dublin-Verordnung bestimmt, dass ein Staat bei einem Asylantrag zunächst prüfen muss, ob die Person nicht bereits in einem anderen Mitgliedstaat einen Asylantrag gestellt hat oder woanders als Einwanderer registriert ist. Diese Prozedur heißt „Übernahmeersuchen“ und dauert bis zu fünf Monate. Wenn Asylsuchende bereits in einem anderen Land registriert sind, müssen sie dorthin „überstellt“ (abgeschoben) werden, was in der Regel nach weiteren sechs Monaten geschieht.
300.000 Übernahmeersuche haben die Dublin-Staaten laut dem Europäischen Statistikamt (Eurostat) zwischen 2008 und 2013 ausgetauscht – das sind 17 Prozent aller Asylanträge, die in der Zeit in der EU gestellt wurden. Das heißt, dass fast jeder fünfte Asylsuchende bis zu einem Jahr warten musste, bis die zuständigen Behörden anfangen konnten, den Antrag zu bearbeiten. Wie die Autoren der MPI-Studie anmerken, wurden dadurch also Asylverfahren deutlich langsamer, was zu einer Verzögerung der Integrationsprozesse führte.
Auch die Behauptung, dass die Verordnung eine klare Zuständigkeit bei den Asylgesuchen schaffen würde, hat sich als falsch erwiesen. Denn rund ein Drittel aller Menschen, die 2013 im EURODAC-Register eingetragen waren, haben der MPI-Studie zufolge ihren Asylantrag nicht in dem Land gestellt, in dem sie registriert wurden. Und nur ein geringer Anteil aller Übernahmeersuche führte dazu, dass Menschen tatsächlich an das zuständige Land überstellt wurden: Im Jahr 2013 lag die Überstellungsquote laut Eurostat bei 28 Prozent.
Das liegt zum Teil daran, dass in vielen Fällen die Überstellungen aus humanitären Gründen nicht durchgeführt werden können. In anderen Fällen war diese nach europäischem Recht nicht möglich, denn sowohl die Europäische Menschenrechtskonvention als auch die EU-Aufnahmerichtlinie erklären, dass Asylsuchende nicht in menschenunwürdigen Zuständen leben dürfen. Ausgerechnet zwei der Mitgliedstaaten, die die meisten Übernahmeersuchen bekommen (Italien und Griechenland) wurden jedoch wiederholt wegen der unmenschlichen Bedingungen, in denen Asylsuchenden leben, kritisiert.
Nachdem der UNHCR und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wiederholt die Situation in den griechischen Aufnahmezentren als „nicht menschengerecht“ bezeichneten, stoppten fast alle EU-Länder die Überstellungen nach Griechenland. Italien steht auch seit langem wegen ihrer maroden Aufnahmestrukturen in der Kritik. Vor einem halben Jahr urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Fall einer afghanischen Familie mit Kindern, die aus der Schweiz nach Italien überstellt werden musste. Das Gericht erklärte, dass eine Überstellung erst dann stattfinden kann, wenn es sicher ist, dass die Familie menschengerecht untergebracht werden kann.
Das Dublin-Paradox
Daraus ergibt sich eine paradoxe Situation: Wenn das Dublin-System funktionieren würde, würden die meisten Asylsuchenden in den Grenzländern der EU leben müssen, wo es derzeit keine angemessene Strukturen gibt, um sie unterzubringen. Da das System jedoch regelmäßig umgangen wird, findet eine Verteilung zwischen den Dublin-Ländern statt, die die Grenzländer entlastet.
Die zunehmende Kritik seitens der internationalen Organisationen führte dazu, dass die Dublin Verordnung im Jahr 2013 zum Teil überarbeitet wurde. Mit der sogenannten Dublin III-Verordnung nahm sich die EU vor, die Verfahrensdauer strenger zu regulieren und gleichzeitig Familien und besonders schutzbedürftigen Asylsuchenden einen besseren Schutz zu gewähren. Parallel dazu wurde die Rolle des "Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen" (EASO) gestärkt, das Staaten wie Griechenland, Malta und Italien hilft, ihr Aufnahmesystem auszubauen.
Diese Reform greift für Sabine Hess, Expertin für Migrations- und Grenzregimeforschung am Institut für Kulturanthropologie in Göttingen, viel zu kurz. „Dem Dublin-System liegt ein fataler Denkfehler zugrunde“, sagt Hess. „Die Vorstellung, man könne alle Grenzen innerhalb des Schengen-Raums abschaffen und dennoch bestimmte Menschen daran hindern, sich in diesem Raum frei zu bewegen, ist widersprüchlich und diskriminierend.“ Das System sei stark vom Wunsch einflussreicher Länder geprägt, Asylsuchende möglichst an den Rändern der EU zu halten. „Durch das Dublin-System und das sogenannte Flughafenverfahren wird de facto dafür gesorgt, dass ein Flüchtling so gut wie keine Chance hat, auf einem legalen Weg seinen Asylantrag direkt in Deutschland zu stellen“, sagt Hess.
Für die Fuldaer Juristin Anna Lübbe ist es an der Zeit, ein neues System auszuarbeiten: "Es könnte damit begonnen werden, zunächst den als schutzberechtigt anerkannten Flüchtlingen die uneingeschränkte Freizügigkeit innerhalb der EU einzuräumen. Zusätzlich sollte das Verbindungsprinzip für Schutzsuchendegestärkt werden, das heißt, es sollten bei der Zuordnung der Antragsteller deutlich großzügiger als bisher Sonderverbindungen zu bestimmten Staaten berücksichtigt werden - zum Beispiel wenn ein Antragsteller dort Verwandte hat."
Von Fabio Ghelli
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