Seit einem Jahr steigt die Zahl der Asylbewerber in Deutschland fast kontinuierlich. Selbst in den Wintermonaten, in denen normalerweise weniger Asylanträge gestellt werden, war ihre Zahl fast zweimal so hoch wie im Vorjahr. Dennoch bleibt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) vorsichtig in seiner Prognose für die Asylzahlen 2015: Seinen Schätzungen zufolge würden sie am Ende des Jahres bei ungefähr 300.000 liegen. Das bedeutet allerdings nicht, dass 300.000 Menschen nach Deutschland kommen werden, denn rund 15 Prozent aller Anträge sind in der Regel Folgeanträge – also werden von Menschen gestellt, die das Asylverfahren bereits durchgemacht haben.
Die Bundesländer haben die konservativen Schätzungen des BAMF scharf kritisiert: Aufgrund des außergewöhnlichen Anstiegs der Neuzugänge in den Wintermonaten müsse man sich auf viel höhere Zahlen gefasst machen. Nach Schätzungen des Innenministeriums in Schleswig-Holstein, die in den Medien kursierten, könnten im Laufe des Jahres bis zu einer halben Million neue Asylbewerber nach Deutschland kommen. Die Bundesländer befürchten in diesem Zusammenhang bereits eine weitere, dramatische Unterbringungs-Krise.
Doch worauf basieren diese Prognosen? Wie kann man vorhersehen, wie viele Menschen im gesamten Jahr in Deutschland Asylschutz beantragen werden? Flüchtlingsbewegungen wurden in den letzten Jahren von unvorhersehbaren Faktoren beeinflusst, wie etwa dem Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien oder den dramatischen Machtwechseln in den arabischen Ländern seit 2011. Deshalb pflegte das BAMF bis zum Jahr 2013 kurzfristige Prognosen für maximal drei Monate zu veröffentlichen. Zweck der Prognosen ist in erster Linie, den Bundesländern ein wenig Vorsprung bei der Ausstattung der Unterbringungen zu gewähren.
Das BAMF beobachtet die Lage in den Herkunftsländern
Angesichts der steigenden Flüchtlingszahlen beschloss das BAMF im Jahr 2013 auch Jahresprognosen zu erarbeiten. In der ersten Prognose für das Jahr 2014 wurden die Antragszahlen auf rund 160.000 geschätzt. Später erhöhte das BAMF die Schätzung auf 200.000, was den eigentlichen Neuzugängen entsprach.
Wie diese Prognosen erarbeitet werden, lässt sich anhand des kürzlich veröffentlichten Prognoseschreibens des BAMF an die Bundesländer erörtern. Migrationsbewegungen werden vor allem an zwei Stellen erfasst: in den Herkunftsländern und an den europäischen Außengrenzen.
Informationen über die Lage in den einzelnen Herkunftsländern erhält das BAMF unter anderem vom Auswärtigen Amt, dem UNHCR und Menschenrechtsorganisationen wie etwa Amnesty International. Außerdem gibt es in Ländern wie Türkei, Iran, Kosovo, Russland und Ukraine Verbindungspersonal, das die Situation vor Ort beobachtet und Einzelfälle prüfen kann. Ursula Gräfin Praschma, die die zuständige Abteilung im BAMF leitet, spricht von einem „early warning“-System: „Wir richten unseren Blick vor allem auf Länder und Regionen, aus denen bereits viele Menschen nach Deutschland gekommen sind, wie zum Beispiel Syrien, Irak, Afghanistan oder Westbalkan“, sagt Praschma. Wenn es hierzulande bereits eine Community gibt, steige die Wahrscheinlichkeit, dass weitere Asylsuchende aus diesem Land nach Deutschland kommen.
Die wichtigsten Informationsquellen für Flüchtlingsbewegungen an den Außengrenzen der EU sind die Grenzschutzagentur Frontex, das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) und das Gemeinsame Analyse- und Strategiezentrum illegale Migration (GasiM), eine Behördenplattform die Auswärtiges Amt, Bundespolizei, -kriminalamt und -nachrichtendienst verbindet.
Sie alle beobachten die Routen, über die Migranten illegal nach Europa gelangen, sowie die Wege, über die sich Zuwanderer in Europa verteilen. Der zweite Aspekt ist besonders relevant, denn mehrere Polizeioperationen haben in den letzten Jahren gezeigt, dass die meisten Asylsuchenden ihr Zielland erst nach der Ankunft in Europa auswählen. Mit anderen Worten: Viele Flüchtlinge starten ohne ein konkretes Ziel.
Kann die Bundesrepublik mit höheren Flüchtlingszahlen umgehen?
Die sogenannten „Pull-Faktoren“ – also die Faktoren, die dazu führen, dass ein Asylsuchender in ein bestimmtes Land einreist – werden auch von anderen europäischen Ländern aufmerksam beobachtet. So schätzt zum Beispiel das schwedische Migrationsamt, dass aufgrund der jüngsten Entwicklungen in Deutschland die Zahl der Asylanträge 2015 fast unverändert bleiben wird. Denn es wird erwartet, dass Asylsuchende aus den Ländern, die Deutschland neuerdings als „sichere Herkunftsstaaten“ eingestuft hat, vermehrt nach Schweden ziehen werden. Aufgrund der günstigen Aufnahmebedingungen sollen syrische Kriegsflüchtlinge hingegen Deutschland Schweden vorziehen.
Syrische Kriegsflüchtlinge sind im Moment eine unvorhersehbare Variable in den Prognosen der Migrationsbeobachter, denn Syrien ist derzeit das Land aus dem die meisten Menschen fliehen: Dem UNHCR zufolge ist jeder vierte Asylbewerber weltweit syrischer Staatsbürger. Yves Pascouau, der die Abteilung für Migration und Mobilität der Brüsseler Denkfabrik „European Policy Centre“ (EPC) leitet, warnt insbesondere vor möglichen Krisen in Ländern, in denen derzeit die meisten syrischen Flüchtlinge leben: Libanon, Jordanien, Ägypten und die Türkei. „Die Situation im Libanon ist derzeit extrem angespannt, denn syrische Flüchtlinge machen inzwischen fast ein Viertel der Gesamtbevölkerung aus“, sagt Pascouau. „Sollte die Situation im Land kippen, ist zu erwarten, dass eine Million Menschen auf einmal den Weg nach Europa einschlagen.“
Je nachdem, wie sich die Lage entwickelt, könnten die konservativen Schätzungen des BAMF am Ende zu niedrig liegen. "Dennoch ist es richtig, bei solchen Prognosen Vorsicht walten zu lassen", sagt Steffen Angenendt, Experte für Migration und Demografie bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Es wäre unverantwortlich, mit unsoliden Prognosen Ängste vor „unkontrollierten Flüchtlingswellen“ zu schüren. In einer zunehmend aufgeheizten innenpolitischen Debatte sei eine solide und realistische Bewertung notwendig.
„Und noch viel wichtiger als die Frage der Prognosen ist es, die Voraussetzungen zu schaffen, damit die Bundesrepublik die Flüchtlinge tatsächlich schützen kann.“ Laut Angenendt führen die langen Planungsprozesse derzeit dazu, dass das Aufnahmesystem für Flüchtlinge viel zu langsam auf neue Entwicklungen reagiert. „Bund, Länder und Kommunen sollten gemeinsame Strategien erarbeiten, die flexibel genug sind, um Asylsuchenden unabhängig von kurzfristigen Entwicklungen bei den Flüchtlingszahlen eine menschenwürdige Unterbringung zu bieten.“
Von Fabio Ghelli
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