800.000 Menschen könnten im Jahr 2015 nach Deutschland kommen, um einen Asylantrag zu stellen. Diese Prognose hat das Bundesinnenministerium (BMI) kürzlich veröffentlicht. Das wären etwa vier Mal so viele Antragsteller wie im letzten Jahr und beinahe doppelt so viele wie 1992, dem bisherigen Rekordjahr von Asylanträgen.
In der ersten Jahreshälfte 2015 hatten lediglich 180.000 Menschen einen Asylantrag in Deutschland gestellt, davon 160.000 zum ersten Mal. Bedeutet dies, das BMI erwartet in der zweiten Jahreshälfte mehr als drei Mal so viele neue Anträge wie in den ersten sechs Monaten? Zwar ist die Zahl der Flüchtlinge im Laufe dieses Jahres stärker gestiegen als das BMI im Frühjahr berechnet hatte. Zudem versuchen im Juli und August in der Regel viel mehr Flüchtlinge, das Mittelmeer zu überqueren als in den übrigen Monaten des Jahres. Entscheidend ist jedoch, dass die aktuelle Prognose auf einer neuen Datengrundlage basiert, wie das BMI in einer Pressemitteilung bekannt gab. Anders als bisher wird nicht mehr die Anzahl der Anträge geschätzt, sondern die der Zugänge von Menschen, die einen Asylantrag in Deutschland stellen könnten.
Hintergrund für die neue Erhebungsmethode ist, dass die Zugänge und Anträge aufgrund der steigenden Flüchtlingszahlen stark auseinander gegangen sind: Konnte ein Asylsuchender früher schon nach wenigen Tagen einen Antrag stellen, muss er derzeit mehrere Wochen warten. So registrierte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) bis Ende Juli 2015 rund 218.000 Asylanträge. Die Zahl der Zugänge lag hingegen bei 309.000 Menschen.
Die neue Datengrundlage stammt aus der EASY-Software (Erstverteilung von Asylsuchenden), die ermittelt, wo ein Flüchtling seinen Asylantrag in Deutschland stellen kann. Zum Einsatz kommt sie in Aufnahmeeinrichtungen, in denen Menschen untergebracht werden, die einen Asylantrag stellen wollen. Das EASY-System berechnet, ob der Flüchtling den Antrag dort oder in einer anderen Aufnahmeeinrichtung stellen muss. Entscheidend dafür sind sein Herkunftsland und die Aufnahmekapazitäten der Bundesländer, die über den Königsteiner Schlüssel berechnet werden.
Was sagt die Prognose aus?
Eine Schätzung darüber, wie viele Menschen in Deutschland im laufenden Jahr Schutz suchen werden, kann Bundesländern und Kommunen zwar dabei helfen, ihre Aufnahmekapazitäten auszubauen. Die Zahlen der Zugänge liegen jedoch in der Regel über der Anzahl der Asylanträge, die später tatsächlich gestellt werden, etwa weil einige Menschen mehrfach registriert wurden oder weil sie Deutschland verlassen, ohne hier einen Asylantrag zu stellen: Im Jahr 2014 lag die Diskrepanz bei 18 Prozent, wie das BMI auf Anfrage des MEDIENDIENSTES mitteilt.
Der Politologe und Migrationsforscher Olaf Kleist betont außerdem, dass die neue Zahl von 800.000 Zugängen nur einen Aspekt eines komplexen Phänomens beleuchtet: „Wenn es darum geht, die notwendige Infrastruktur zu schaffen, um Asylbewerber unterzubringen, ist es sinnvoll, auf die Zugangszahlen Bezug zu nehmen. Denn jeder Mensch, der im Erstverteilungs-System erfasst ist, braucht eine Unterkunft. Stellt man sich aber die Frage, wie viele Asylbewerber zu einem bestimmten Zeitpunkt in Deutschland leben, muss man auf die Zahl der unerledigten Anträge schauen.“ Kleist hat im Februar 2015 die Jahreszahlen für 2014 analysiert.
So sind derzeit mehr als 250.000 Asylanträge noch nicht bearbeitet worden (Stand: 31. Juli 2015). Das heißt: 250.000 Menschen befinden sich derzeit als Asylbewerber im Verfahren und beziehen dementsprechend Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz.
Wie hoch ist die Gesamtzahl der Flüchtlinge in Deutschland?
Derzeit gibt es insgesamt mehr als 744.000 Menschen, die als Schutzsuchende gekommen sind und mit unterschiedlichem Status in Deutschland leben – einige von ihnen schon seit mehr als zwanzig Jahren (Stand: 30. Juni 2015). Dazu zählen unter anderem:
- 38.600 Asylberechtigte nach Artikel 16 des Grundgesetzes: Sie erhalten Asyl, wenn sie glaubhaft machen können, dass sie politisch verfolgt werden.
- Rund 145.000 anerkannte Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention, die sich "aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung" außerhalb ihres Landes befinden.
- 50.000 subsidiär Schutzberechtigte verfügen nicht über die "Flüchtlingseigenschaft", aber ihnen droht Gefahr für Leib und Leben in Form von Folter, der Todesstrafe oder einem bewaffneten Konflikt im Heimatland. Deswegen dürfen sie zunächst vorübergehend in Deutschland bleiben.
- Rund 62.600 Menschen leben in Deutschland, weil ihnen aus verschiedenen Gründen ein Bleiberecht erteilt wurde. Dazu zählt unter anderem der Aufenthalt aus "völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen" (Paragraph 23 des Aufenthaltsgesetzes), der vielen syrischen Kriegsflüchtlingen gewährt wird.
- Hinzu kommen rund 239.000 Asylsuchende, also Flüchtlinge, die noch auf den Ausgang ihres Asylverfahrens warten.
Selbst wenn ein Asylantrag abgelehnt wird, kann der Antragsteller vorübergehend in Deutschland bleiben:
- Das geschieht zum Beispiel, wenn "dringende humanitäre oder persönliche Gründe oder erhebliche öffentliche Interessen" bestehen (Paragraph 23a und Paragraph 25 des Aufenthaltsgesetzes Absätze 4 und 5). Das gilt derzeit für etwa 80.000 Menschen.
- Wenn eine Abschiebung nicht vollzogen werden kann (zum Beispiel aufgrund von Krankheit oder fehlenden Reisedokumenten), spricht man hingegen von einer "Duldung". In Deutschland leben derzeit rund 129.300 Geduldete.
Von Fabio Ghelli und Jenny Lindner
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