Diesert Artikel ist eine aktualisierte Version eines Textes, der im November 2019 erschienen ist.
Nachdem die türkische Regierung am Wochenende ankündigt hatte, die Grenzen zur Europäischen Union zu öffnen, haben mehrere Tausend Flüchtlinge versucht, aus der Türkei nach Griechenland zu gelangen. Die griechische Regierung verstärkte die Grenzkontrollen an den See- und Landesgrenzen. Die Polizei setzte Tränengas und Wasserwerfer gegen die Flüchtlinge ein. Etwa 13.000 Schutzsuchende kampieren nach Angaben der "Internationalen Organisation für Migration" (IOM) an den Grenzübergängen.
Laut Migrationswissenschaftler Vassilis Tsianos, der die Lage vor Ort beobachtet, hat sich die Situation nach nur wenigen Tagen wieder entspannt. Die Zahl derjenigen, die versuchen, die Grenze zu überschreiten, sei stark zurückgegangen, so Tsianos.
Wie viele Flüchtlinge könnten tatsächlich aus der Türkei nach Europa kommen? Der MEDIENDIENST hat dazu die wichtigsten Informationen zusammengetragen.
Wie viele Flüchtlinge wollen nach Europa?
Viele Geflüchtete in der Türkei wollen beziehungsweise können das Land nicht verlassen. Laut einer bislang unveröffentlichten Umfrage des Migrationsforschers Frank Düvell ist lediglich jeder vierte syrische Geflüchtete daran interessiert, in ein anderes Land zu ziehen. 16 Prozent wollen nach Europa. Nur 1,5 Prozent sagen, dass sie dafür auch die nötigen finanziellen Mittel haben.
Das sind deutlich weniger Menschen als vor drei Jahren: 2016 wollten laut einer Umfrage noch etwa ein Drittel von ihnen weiterziehen – am liebsten nach Deutschland (27 Prozent), Kanada (16 Prozent) oder Schweden (zehn Prozent).Quelle
"Diejenigen, die weg wollten, sind überwiegend bereits 2015 und 2016 weitergezogen. Diejenigen, die geblieben sind, haben es in der Regel freiwillig getan", sagt Düvell – etwa weil sie denken, die Türkei sei Syrien kulturell und religiös ähnlich oder weil sie näher an ihrem Zuhause bleiben wollen. Auch seien vor allem Menschen weitergereist, die eine Zukunft in Europa sahen, etwa weil sie besser gebildet sind oder familiäre Bindungen in Europa hatten.
Was ist der EU-Türkei-Deal?
Am 18. März 2016 einigten sich die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union (EU) auf ein Abkommen mit der Türkei. Es soll verhindern, dass Geflüchtete "illegal" in die EU einreisen. Das Abkommen trat am 20. März 2016 in Kraft. Aus Sicht der EU ist eines der wichtigsten Ziele in Erfüllung gegangen: Die Flüchtlingszahlen sind deutlich zurückgegangen. Das Abkommen stößt jedoch vielfach auf Kritik.
Was wurde beschlossen?
- Um "irreguläre" Einreisen in die EU zu verhindern, soll die Türkei ihre Grenzkontrollen verschärfen und stärker gegen Schlepper vorgehen.
- Flüchtlinge, die über die Türkei nach Griechenland eingereist sind und keinen Anspruch auf Asyl haben, sollen in die Türkei zurückgeführt werden.
- Für jeden Syrer, der in die Türkei zurückgeschickt wird, soll ein anderer Syrer legal in die EU einreisen dürfen ("Eins-zu-eins-Mechanismus").
- Bis Ende 2017 hat die EU der Türkei drei Milliarden Euro zugesagt, um Geflüchtete im Land besser versorgen zu können. Im Juni 2018 wurden weitere drei Milliarden Euro bis Ende 2019 bereitgestellt.
- Die EU hat der Türkei in Aussicht gestellt, die Verhandlungen zum EU-Beitritt zu beschleunigen und die Visumpflicht für türkische Bürger abzuschaffen.Quelle
Wie ist die Bilanz?
Die EU-Kommission veröffentlicht in regelmäßigen Abständen Zahlen zur Umsetzung des Abkommens. Aus den aktuellen Berichten und weiteren Quellen geht hervor (Stand: März 2019):
- Einreisen in die EU: Die Zahl der Flüchtlinge, die irregulär aus der Türkei nach Griechenland einreisen, ist deutlich gesunken. Im Jahr 2018 kamen durchschnittlich rund 92 Geflüchtete pro Tag auf den griechischen Inseln an. Im Oktober 2015 waren es über 6.000 Geflüchtete pro Tag. Laut Experten liegt der Rückgang nicht allein am Abkommen mit der Türkei, sondern auch an der Schließung der sogenannten Balkanroute. Zudem wüssten viele Flüchtlinge, wie prekär die Situation auf den griechischen Inseln ist, und blieben deshalb in der Türkei.
- Rückführungen in die Türkei: Seit Inkrafttreten des Abkommens wurden 2.437 Flüchtlinge aus Griechenland in die Türkei zurückgebracht. Auf den griechischen Inseln halten sich aktuell rund 12.000 Geflüchtete auf.
- Aufnahme von Syrern in die EU: Im Rahmen des "Eins-zu-eins-Austauschs" haben die EU-Mitgliedstaaten etwa 20.300 syrische Flüchtlinge aus der Türkei aufgenommen.
- Finanzhilfen für die Türkei: Die erste Tranche betrug drei Milliarden Euro, im Juni 2018 wurde eine weitere Tranche genehmigt, bevor die erste aufgebraucht war. Zwei Milliarden Euro kommen davon aus dem EU-Haushalt, eine Milliarde Euro übernehmen die Mitgliedsstaaten.
- Die Verhandlungen zum EU-Beitritt der Türkei sowie zu den Visaerleichterungen für türkische Bürger sind nur schleppend vorangekommen. Grund dafür sind auch die aktuellen politischen Entwicklungen in der Türkei.
- Todesopfer und Vermisste: Die Zahl der Todesopfer und Vermissten in der Ägäis ist seit dem Inkrafttreten des Abkommens gesunken. 2015 sind laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) noch 803 Menschen gestorben oder gelten als vermisst, 2017 waren es 62 Menschen, 2018 174.Quelle
Was wird kritisiert?
Wissenschaftler und Menschenrechtsorganisationen kritisieren das Abkommen:
- Die EU habe mit dem "Deal" die Verantwortung für Flüchtlinge ausgelagert und sich in Abhängigkeit des umstrittenen türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan (AKP) begeben.Quelle
- Die türkische Republik habe weltweit zwar die meisten Flüchtlinge aufgenommen, viele von ihnen hätten jedoch einen unsicheren Rechtsstatus und lebten in prekären Verhältnissen.Quelle
Zudem habe das Abkommen dazu geführt, dass sich die Lage der Flüchtlinge deutlich verschlechtert habe:
- Auf den griechischen Inseln seien mehrere Tausend Flüchtlinge gestrandet, ohne Zugang zu fairen Asylverfahren.
- Die Unterkünfte auf den Inseln seien massiv überbelegt, sodass Geflüchtete unter teils katastrophalen Bedingungen dort leben müssten.
- Schutzsuchende, die in die Türkei zurückgeführt wurden, seien dort nicht sicher, sondern würden inhaftiert und zum Teil in ihre Herkunftsländer abgeschoben. Zivilgesellschaftliche Initiativen und das UN-Flüchtlingshilfswerk in der Türkei hätten kaum Zugang zu den Geflüchteten.Quelle
Wie viele Flüchtlinge leben in der Türkei?
Laut dem UN-Flüchtlingswerk UNHCR leben in der Türkei rund vier Millionen Geflüchtete. Die meisten von ihnen (etwa 3,6 Millionen Menschen) sind Kriegsflüchtlinge aus Syrien. Seit 2014 haben sie in der Regel eine sogenannte temporäre Aufenthaltserlaubnis (temporary protection). Die übrigen Flüchtlinge kommen vor allem aus Afghanistan (rund 170.000 Personen) und dem Irak (etwa 142.000). Laut einer Studie des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) könnte die Zahl der Flüchtlinge jedoch viel niedriger sein. Die UNHCR-Statistik würde die Zahl der syrischen Flüchtlinge nicht ausreichend berücksichtigen, die seit 2014 nach Europa weitergezogen sind (rund 615.000 Menschen) beziehungsweise zurück nach Syrien gegangen sind (etwa 340.000 Menschen).Quelle
Die Zahl der Schutzsuchenden in der Türkei könnte jedoch steigen: Fast eine Million Menschen, die aus der Region um Idlib vertrieben wurden, kampieren seit mehreren Monaten an der syrisch-türkischen Grenze – darunter 569.000 Kinder. Das "Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten" (OCHA) spricht von "der schlimmsten humanitären Krise im Nordwesten Syriens seit Beginn des Krieges 2011".Quelle
Wie ergeht es Schutzsuchenden in der Türkei?
Expertinnen und Experten sagen, dass die Lebensbedingungen von Geflüchteten in der Türkei äußerst schwierig sind. Gerade einmal 65.000 syrische Flüchtlinge waren 2018 im Besitz einer Arbeitserlaubnis, schätzungsweise 750.000 bis 950.000 Flüchtlinge arbeiteten ohne Erlaubnis. Rund 40 Prozent der geflüchteten syrischen Kinder gingen 2018 nicht zur Schule.Quelle
Andere Flüchtlinge wie etwa Afghanen werden in vielen Fällen gar nicht registriert und haben keinen Zugang zu Unterbringung und Versorgung. Deshalb versuchen viele von ihnen, die Türkei zu verlassen.Quelle
Vielerorts herrscht eine feindselige Einstellung gegenüber Flüchtlingen, wie eine aktuelle Umfrage belegt. Die Wirtschaftskrise, die die Türkei seit 2018 erlebt, habe Ressentiments gegenüber Syrern verstärkt.Quelle
Wie ist die Situation an der griechischen Grenze?
Als Reaktion auf die "Grenzöffnung" hat Griechenland die Grenzkontrollen deutlich verstärkt. Außerdem setzte die Regierung in Athen am 1. März das Asylrecht für einen Monat aus. Das heißt: Niemand kann derzeit in Griechenland Asyl beantragen. Dies sei nach dem "Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union" (Art. 78 AEUV) im Fall eines "plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen" möglich, so Ministerpräsident Kyriakos Mītsotakīs. Allerdings benötigt die Regierung in Athen dafür eigentlich die Zustimmung des europäischen Parlaments.
Bereits Anfang des Jahres hatte die griechische Regierung das Asylrecht verschärft. Damit will sie die Flüchtlingszahlen reduzieren. Denn die östliche Mittelmeer-Route ist erneut zur wichtigsten Einwanderungs-Route für Geflüchtete geworden.Quelle
Von den etwa 115.600 Flüchtlingen in Griechenland leben mehr als ein Drittel auf den griechischen Inseln – insbesondere auf der Insel Lesbos. Die Aufnahmelager der Insel sind stark überfüllt. In den vergangenen Monaten kam es wiederholt zu Gewaltausbrüchen und Angriffen auf Geflüchtete (Stand: Januar 2020).Quelle
Wichtige Quellen:
Seçil Paçacı Elitok, "Three Years on: An Evaluation of the EU-Turkey Refugee Deal", April 2019
Basak Kale, "The Limits of an International Burden-sharing Approach: The Syrian Refugee Protection Crisis and Its Consequences on Turkey’s Refugee Policy", Dezember 2017
Franck Düvell, "Are there really 3.6 million refugees in Turkey or could there be considerably fewer?", Oktober 2019
Ahmet İcduygu und Deniz S. Sert, "Introduction: Syrian Refugees – Facing Challenges, Making Choices", April 2019
Von Fabio Ghelli
Sie sind Journalist*in und haben weitere Fragen oder suchen Fachleute zum Thema? Dann können Sie uns gern kontaktieren. Wir helfen schnell und unkompliziert. Unsere Texte und Grafiken können kostenfrei unter den Regeln der Creative Commons und unserer Namensnennung verwendet werden. Dies gilt nicht für Bilder und Fotos, die wir von Dritten erworben haben.