Der sogenannte EU-Türkei-Deal stand schon mehrfach auf der Kippe. Immer wieder hat die Türkei gedroht, das Abkommen zu kündigen und Geflüchtete nach Europa weiterziehen zu lassen. Die Drohungen wurden zuletzt lauter, als die Europäische Union die türkische Militäroperation in Nordsyrien verurteilte.
Was würde passieren, wenn die Türkei ernst macht? Wie viele Flüchtlinge wollen die Türkei überhaupt verlassen? Der MEDIENDIENST hat dazu Expertinnen und Experten befragt.
Wie viele Flüchtlinge leben in der Türkei?
Laut dem UN-Flüchtlingswerk UNHCR leben in der Türkei rund vier Millionen Geflüchtete. Die meisten von ihnen (etwa 3,6 Millionen Menschen) sind Kriegsflüchtlinge aus Syrien. Seit 2014 haben sie in der Regel eine sogenannte temporäre Aufenthaltserlaubnis (temporary protection). Die übrigen Flüchtlinge kommen vor allem aus Afghanistan (rund 172.000 Personen) und dem Irak (etwa 142.000). Laut einer Studie des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) könnte die Zahl der Flüchtlinge jedoch viel niedriger sein. Die UNHCR-Statistik würde die Zahl der syrischen Flüchtlinge nicht ausreichend berücksichtigen, die nach Europa weitergezogen sind (rund 615.000 Menschen) beziehungsweise zurück nach Syrien gegangen sind (etwa 340.000 Menschen).Quelle
Wie ergeht es Schutzsuchenden in der Türkei?
Expertinnen und Experten sagen, dass die Lebensbedingungen von Geflüchteten in der Türkei äußerst schwierig sind. Gerade einmal 65.000 syrische Flüchtlinge waren 2018 im Besitz einer Arbeitserlaubnis, schätzungsweise 750.000 bis 950.000 Flüchtlinge arbeiten ohne Erlaubnis. Nur rund 40 Prozent der geflüchteten syrischen Kinder gehen zur Schule.Quelle
Andere Flüchtlinge wie etwa Afghanen werden in vielen Fällen gar nicht registriert und haben keinen Zugang zu Unterbringung und Versorgung.Quelle
Was ist der EU-Türkei-Deal?
Am 18. März 2016 einigten sich die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union (EU) auf ein Abkommen mit der Türkei. Es soll verhindern, dass Geflüchtete "illegal" in die EU einreisen. Das Abkommen trat am 20. März 2016 in Kraft. Aus Sicht der EU ist eines der wichtigsten Ziele in Erfüllung gegangen: Die Flüchtlingszahlen sind deutlich zurückgegangen. Das Abkommen stößt jedoch vielfach auf Kritik.
Was wurde beschlossen?
- Um "irreguläre" Einreisen in die EU zu verhindern, soll die Türkei ihre Grenzkontrollen verschärfen und stärker gegen Schlepper vorgehen.
- Flüchtlinge, die über die Türkei nach Griechenland eingereist sind und keinen Anspruch auf Asyl haben, sollen in die Türkei zurückgeführt werden.
- Für jeden Syrer, der in die Türkei zurückgeschickt wird, soll ein anderer Syrer legal in die EU einreisen dürfen ("Eins-zu-eins-Mechanismus").
- Bis Ende 2017 hat die EU der Türkei drei Milliarden Euro zugesagt, um Geflüchtete im Land besser versorgen zu können. Im Juni 2018 wurden weitere drei Milliarden Euro bis Ende 2019 bereitgestellt.
- Die EU hat der Türkei in Aussicht gestellt, die Verhandlungen zum EU-Beitritt zu beschleunigen und die Visumpflicht für türkische Bürger abzuschaffen.Quelle
Wie ist die Bilanz?
Die EU-Kommission veröffentlicht in regelmäßigen Abständen Zahlen zur Umsetzung des Abkommens. Aus den aktuellen Berichten und weiteren Quellen geht hervor (Stand: März 2019):
- Einreisen in die EU: Die Zahl der Flüchtlinge, die irregulär aus der Türkei nach Griechenland einreisen, ist deutlich gesunken. Im Jahr 2018 kamen durchschnittlich rund 92 Geflüchtete pro Tag auf den griechischen Inseln an. Im Oktober 2015 waren es über 6.000 Geflüchtete pro Tag. Laut Experten liegt der Rückgang nicht allein am Abkommen mit der Türkei, sondern auch an der Schließung der sogenannten Balkanroute. Zudem wüssten viele Flüchtlinge, wie prekär die Situation auf den griechischen Inseln ist, und blieben deshalb in der Türkei.
- Rückführungen in die Türkei: Seit Inkrafttreten des Abkommens wurden 2.437 Flüchtlinge aus Griechenland in die Türkei zurückgebracht. Auf den griechischen Inseln halten sich aktuell rund 12.000 Geflüchtete auf.
- Aufnahme von Syrern in die EU: Im Rahmen des "Eins-zu-eins-Austauschs" haben die EU-Mitgliedstaaten etwa 20.300 syrische Flüchtlinge aus der Türkei aufgenommen.
- Finanzhilfen für die Türkei: Die erste Tranche betrug drei Milliarden Euro, im Juni 2018 wurde eine weitere Tranche genehmigt, bevor die erste aufgebraucht war. Zwei Milliarden Euro kommen davon aus dem EU-Haushalt, eine Milliarde Euro übernehmen die Mitgliedsstaaten.
- Die Verhandlungen zum EU-Beitritt der Türkei sowie zu den Visaerleichterungen für türkische Bürger sind nur schleppend vorangekommen. Grund dafür sind auch die aktuellen politischen Entwicklungen in der Türkei.
- Todesopfer und Vermisste: Die Zahl der Todesopfer und Vermissten in der Ägäis ist seit dem Inkrafttreten des Abkommens gesunken. 2015 sind laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) noch 803 Menschen gestorben oder gelten als vermisst, 2017 waren es 62 Menschen, 2018 174.Quelle
Was wird kritisiert?
Wissenschaftler und Menschenrechtsorganisationen kritisieren das Abkommen:
- Die EU habe mit dem "Deal" die Verantwortung für Flüchtlinge ausgelagert und sich in Abhängigkeit des umstrittenen türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan (AKP) begeben.Quelle
- Die türkische Republik habe weltweit zwar die meisten Flüchtlinge aufgenommen, viele von ihnen hätten jedoch einen unsicheren Rechtsstatus und lebten in prekären Verhältnissen.Quelle
Zudem habe das Abkommen dazu geführt, dass sich die Lage der Flüchtlinge deutlich verschlechtert habe:
- Auf den griechischen Inseln seien mehrere Tausend Flüchtlinge gestrandet, ohne Zugang zu fairen Asylverfahren.
- Die Unterkünfte auf den Inseln seien massiv überbelegt, sodass Geflüchtete unter teils katastrophalen Bedingungen dort leben müssten.
- Schutzsuchende, die in die Türkei zurückgeführt wurden, seien dort nicht sicher, sondern würden inhaftiert und zum Teil in ihre Herkunftsländer abgeschoben. Zivilgesellschaftliche Initiativen und das UN-Flüchtlingshilfswerk in der Türkei hätten kaum Zugang zu den Geflüchteten.Quelle
Wollen die Schutzsuchenden weiterziehen?
Trotz der schwierigen Lebensverhältnisse: Einer bislang unveröffentlichte Umfrage des Migrationsforschers Frank Düvell zufolge ist lediglich jeder vierte syrische Flüchtling daran interessiert, die Türkei in Richtung Europa zu verlassen. Nur 2 Prozent sagen, dass sie dafür auch die nötigen finanziellen Mittel haben, so Düvell, der die Abteilung Migration am DeZIM-Institut in Berlin leitet. 2016 wollten laut einer Umfrage noch etwa ein Drittel von ihnen weiterziehen – am liebsten nach Deutschland (27 Prozent), Kanada (16 Prozent) oder Schweden (zehn Prozent).Quelle
"Diejenigen, die weg wollten, sind überwiegend bereits 2015 und 2016 weitergezogen. Diejenigen, die geblieben sind, haben es in der Regel freiwillig getan", sagt Düvell – etwa weil sie denken, die Türkei sei Syrien kulturell und religiös ähnlich oder weil sie näher an ihrem Zuhause bleiben wollen. Auch seien vor allem Menschen weitergereist, die eine Zukunft in Europa sahen, etwa weil sie besser gebildet sind oder familiäre Bindungen in Europa hatten.
Wie ist die Situation an der griechischen und bulgarischen Grenze?
Als der EU-Türkei-Deal 2016 unterzeichnet wurde, fiel die Zahl der Geflüchteten, die aus der Türkei in die EU kamen, von mehreren Zehntausenden auf wenige Tausende im Monat. Seit 2018 steigt sie wieder. 2019 ist die östliche Mittelmeer-Route erneut zur wichtigsten Einwanderungs-Route für Geflüchtete geworden. Rund 60.000 Menschen kamen in den vergangenen elf Monaten auf dieser Route nach Griechenland und Bulgarien (Stand: November 2019). Neuerdings stammen die meisten Flüchtlinge nicht aus Syrien: Fast 40 Prozent der Geflüchteten auf der Route sind Afghanen.Quelle
Afghanische Flüchtlinge haben in der Regel keine Aufenthaltserlaubnis in der Türkei und bekommen nur sehr selten Flüchtlingsschutz. "Wenn sie keine Perspektive haben, in der Türkei zu bleiben, kann es sein, dass sie den Weg nach Europa einschlagen", sagt Deniz Sert, Politikwissenschaftlerin an der Özyeğin University in istanbul.Quelle
Ob diese Flüchtlinge allerdings in der EU einen Asylantrag stellen können, ist fraglich, sagt Migrationsforscherin Valeria Hänsel von der Universität Göttingen."Illegale Zurückweisungen an der griechischen sowie an der bulgarischen Grenze sind an der Tagesordnung." Allein in den vergangenen zwölf Monaten soll es etwa 60.000 sogenannte Pushbacks aus Griechenland in die Türkei gegeben haben.Quelle
Welche Strategie verfolgt die türkische Regierung?
Im September 2019 hat die türkische Regierung angekündigt, sie wolle demnächst ein bis zwei Million syrische Flüchtlinge in "sichere Gebiete” innerhalb Syriens abschieben. "Wir wissen, dass es seit dem Sommer verstärkt Abschiebungen aus der Türkei nach Syrien gibt", sagt Migrationsforscherin Hänsel. Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch und Amnesty International haben bereits mehrere solche Fälle dokumentiert. "Die aktuellen türkischen Pläne zur 'Umsiedlung' von Millionen von Syrern in das Kriegsgebiet in Nord-Syrien sind höchst beunruhigend – auch wenn es fraglich ist, ob eine derartige Vertreibungsmaßnahme in der Praxis wirklich umgesetzt wird", sagt die Migrationsforscherin. Die Ankündigung habe mit großer Wahrscheinlichkeit auch die Funktion, syrische Flüchtlinge zu verunsichern und sie somit dazu zu bewegen, das Land selbstständig zu verlassen – nach Syrien oder auch nach Europa.Quelle
Der Abschiebeplan ist eine 180-Grad-Wende von der einstigen Politik der "offenen Türen" der türkischen Regierung. Das liegt unter anderem daran, dass vielerorts eine feindselige Einstellung gegenüber Flüchtlingen herrscht, wie eine aktuelle Umfrage belegt. Die Wirtschaftskrise, die die Türkei 2018 erwischt hat, habe das latente Ressentiment gegen Syrer verstärkt, sagt Politikwissenschaftlerin Sert.Quelle
Wichtige Quellen:
Seçil Paçacı Elitok, "Three Years on: An Evaluation of the EU-Turkey Refugee Deal", April 2019
Basak Kale, "The Limits of an International Burden-sharing Approach: The Syrian Refugee Protection Crisis and Its Consequences on Turkey’s Refugee Policy", Dezember 2017
Franck Düvell, "Are there really 3.6 million refugees in Turkey or could there be considerably fewer?", Oktober 2019
Ahmet İcduygu und Deniz S. Sert, "Introduction: Syrian Refugees – Facing Challenges, Making Choices", April 2019
Von Fabio Ghelli
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