Kürzlich haben sich die Staats- und Regierungschefs der EU zu einem Gipfel getroffen, um über Fragen der Migration zu diskutieren. Das Abschlussdokument umfasst 12 Punkte, alleine acht davon beschäftigen sich mit der Mittelmeer-Grenze. Dazu gehören unter anderem geschlossene Aufnahmezentren auf europäischem Boden sowie „Ausschiffungsplattformen“ in Drittstaaten, in denen Geflüchtete ihre Asylgesuche stellen sollen.
Italiens Innenminister Matteo Salvini von der rechtsextremen „Lega“-Partei kündigte zugleich an, dass die italienischen Häfen für die Rettungsschiffe von Hilfsorganisationen geschlossen bleiben. Auch der Inselstaat Malta verhindert mehreren Schiffe von Seenotrettern, anzudocken oder abzureisen. Auch der österreichische Regierungschef Sebastian Kurz und der deutsche Innenminister Horst Seehofer haben sich für eine Schließung der "Süd-Route" ausgesprochen.
Wird das Mittelmeer immer mehr zu einer geschlossenen Grenze? Der MEDIENDIENST hat einige zentrale Fragen beantwortet.
⇒ Dürfen europäische Staaten schiffbrüchige Flüchtlinge abweisen?
Das lässt sich nicht eindeutig beantworten. Grundsätzlich gilt: Laut dem Internationalen Übereinkommen "SOLAS" sind alle Schiffe verpflichtet, Menschen auf hoher See zu retten, wenn ein Notruf eingeht. Zuständig für die Koordinierung der Rettungsaktionen sind Leitstellen, die die „Internationale Seeschifffahrts-Organisation“ (IMO) betreibt. Für das zentrale Mittelmeer ist bislang die Leitstelle Rom zuständig.
Das Problem stellt sich in dem Moment, wenn Schiffbrüchige an Land gehen möchten. Laut dem SOLAS-Übereinkommen muss ein Staat dafür sorgen, dass die Schiffe die Geretteten möglichst schnell an Land bringen können.
Doch: Nach dem „Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen“ (Artikel 19) muss ein Staat nur dann die Fahrt durch seine Territorialgewässer genehmigen, wenn sie nicht den „Frieden, die Ordnung oder die Sicherheit“ beeinträchtigt. Ähnliche Einschränkungen gelten auch für die Genfer Flüchtlingskonvention (Artikel 33, Punkt 2). Darauf beziehen sich Italien und Malta, wenn sie den Rettungsschiffe den Zugang zu ihren Häfen verwehren: Geflüchtete würden „die Ordnung und die Sicherheit“ gefährden.
Dies sei allerdings nur ein Vorwand, sagt Fulvio Vassallo Paleologo, Rechtsanwalt und Professor für Ausländer- und Asylrecht an der Universität Palermo: "Weder Italien noch Malta befinden sich derzeit in einer Notlage. Der Beschluss, die Häfen zu schließen, entspringt nur einem politischen Kalkül", sagt Vassallo. Bis jetzt haben diese Entscheidungen keine rechtlichen Folgen gehabt. Sollte es aber eine echte „See-Blockade“ geben – wie Innenminister Salvini angekündigt hat – könnten andere Staaten gegen Italien vor den Internationalen Seegerichtshof in Hamburg ziehen, sagt Vassallo Paleologo. Zudem sei es denkbar, dass Geflüchtete oder das Personal der NGO-Schiffe vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte klagen, wenn sie schweren Schaden erlitten haben.
Wie viele Geflüchtete kommen derzeit über das Mittelmeer?
Im ersten Halbjahr 2018 sind nach Angaben des UN-Flüchtlingswerks (UNHCR) etwa 45.000 Menschen als Flüchtlinge über das Mittelmeer nach Europa gekommen – halb so viele Menschen wie im Vorjahreszeitraum. Etwa 19 Prozent von ihnen kommen aus Syrien, rund 10 Prozent aus dem Irak – jeweils neun und acht Prozent aus Tunesien und Eritrea.
Anders als in den vergangenen Jahren ist die Flüchtlingsmigration fast gleichmäßig auf den drei Hauptrouten im Mittelmeer verteilt:
- Rund 18.000 Ankünfte im westlichen Mittelmeer (Spanien), davon etwa 7.700 über See- und 2.300 über Land-Routen, also über die spanischen Enklaven Ceuta und Melilla. Das sind 87 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum.
- Etwa 17.000 in Italien (zentrale Mittelmeer-Route) – 77 Prozent weniger als im Vorjahreszeitraum.
- Rund 14.000 in Griechenland (östliches Mittelmeer) – Plus 48 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
Zahlen für 2015 – 2017
2017 sind etwa 171.000 Menschen als Flüchtlinge über das Mittelmeer nach Europa gekommen. Im Vergleich zum Vorjahr hat sich die Zahl der Ankünfte mehr als halbiert. Grund dafür sind vor allem die Vereinbarungen zwischen den Staaten der Europäischen Union und den wichtigsten Transit-Staaten auf der zentralen beziehungsweise östlichen Mittelmeer-Route: Libyen und der Türkei.
Ungefähr 120.000 erreichten Italien über die sogenannte zentrale Mittelmeer-Route. Etwa 30.000 kamen aus der Türkei nach Griechenland (östliche Mittelmeer-Route). Rund 21.000 kamen aus Marokko nach Spanien über die westliche Mittelmeer-Route.Quelle
2016 sind mehr als 360.000 Menschen als Flüchtlinge über das Mittelmeer nach Europa gekommen. 2015 waren es rund eine Million.
Wie viele Menschen sind im Mittelmeer gestorben?
Es ist unmöglich, die genaue Zahl der Geflüchteten zu ermitteln, die auf der Überfahrt über das Mittelmeer ums Leben gekommen sind.
Laut Schätzungen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) sind im ersten Halbjahr 2018 rund 1.400 Geflüchtete beim Versuch, das Mittelmeer zu überqueren, ums Leben gekommen. Die meisten dokumentierten Todesfälle (1.068) haben sich auf der zentralen Mittelmeer-Route ereignet – 292 Menschen sind auf der westlichen und 45 auf der östlichen mittelmeer-Route gstorben. Das Risiko ist nach wie vor sehr hoch: Im Durchschnitt kamen zwei von 100 Menschen, die 2018 die Fahrt wagten, dabei ums Leben.
Im Gesamtjahr 2017 sind rund 3.100 Menschen im Mittelmeer gestorben – 2.850 von ihnen auf der zentralen, 224 auf der westlichen und 62 auf der östlichen Mittelmeer-Route. Im Jahr 2016 sind rund 5.000 Menschen im Mittelmeer gestorben, 2015 ungefähr 3.700.
Wer birgt Schiffbrüchige im Mittelmeer?
Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) ist das Mittelmeer – insbesondere das zentrale Gebiet zwischen den libyschen und italienischen Küsten – zur gefährlichsten Grenze der Welt geworden.
Seit 2016 sind humanitäre Hilfsorganisationen für die meisten Rettungsoperationen zuständig: 2017 wurden mehr als 40 Prozent aller Menschen, die im zentralen Mittelmeer gerettet wurden, von Schiffen der NGOs aufgenommen. Dieser Trend hat sich auch in den ersten drei Monaten von 2018 bestätigt. 2017 stieg auch die Zahl der Menschen, die von der libyschen Küstenwache aufgegriffen wurden von 14.300 auf 21.500 im Jahr.Quelle
Der Anteil der Menschen, die von den italienischen und europäischen Einsatzkräften gerettet wurden, ging hingegen zurück: 2015 wurden rund 27 Prozent der Schiffbrüchigen von den europäischen Rettungsmannschaften von Frontex und der Operation "Sophia" gerettet und etwa 28 Prozent von Einheiten der italienischen Küstenwache. 2017 waren es 22 und 20 Prozent.Quelle
⇒ Kann man Flüchtlinge zurück nach Libyen schicken?
Eigentlich nicht. Libyen hat kein funktionierendes Asylsystem im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention. Asylsuchende dorthin zurückzuschicken, würde gegen das „non-refoulment“-Prinzip der Konvention (Artikel 33) verstoßen.
In der Praxis werden aber immer mehr Geflüchtete von der libyschen Küstenwache aufgegriffen und zurück nach Libyen gebracht: Zwischen Januar und April 2018 waren es knapp 5.000 Menschen. Hintergrund dafür ist, dass die Leitstelle in Rom, die Rettungsoperationen im zentralen Mittelmeer koordiniert, inzwischen sehr oft die Rettungsmaßnahmen in die Hände der libyschen Küstenwache gibt. Diese Praxis ist umstritten, denn in Libyen erwarten die Geflüchteten menschenunwürdige Aufnahmebedingungen. Trotzdem arbeitet derzeit die Internationale Seeschifffahrts-Organisation daran, eine eigene Koordinierungsstelle in Tripolis einzurichten. Das hätte zur Folge, dass noch mehr Geflüchtete zurück nach Lybien gebracht würden.
⇒ Können Aufnahmelager in Staaten außerhalb der EU eingerichtet werden?
Die Regierungschefs der EU möchten "Ausschiffungsplattformen" in Nordafrika einrichten. Dort sollen Asylverfahren durchgeführt werden. Grundsätzlich ist die Einrichtung solcher Aufnahmelager denkbar, doch es gibt massive menschenrechtliche Bedenken. Ähnliche Einrichtungen gab es bereits in der Vergangenheit: So hat das UN-Flüchtlingswerk 2011 ein Flüchtlingslager im tunesischen Choucha eingerichtet – vor allem um Flüchtlinge aus dem libyschen Bürgerkrieg aufzunehmen. Das Lager wurde nach zwei Jahren wegen erheblicher Probleme in der Verwaltung offiziell geschlossen, beherbergte dennoch bis Juni 2017 einige hundert Geflüchtete. Das französische Flüchtlings-Büro OFPRA ist außerdem schon in Niger und Tschad präsent. Bislang haben aber nur wenige hundert Menschen in den französischen Asylzentren Schutz beantragen können.
Die wichtigsten nordafrikanische Länder haben bereits klargestellt, dass sie unter den aktuellen Bedingungen keine Aufnahmezentren genehmigen werden. So hat der Vizechef des libyschen Präsidentschaftsrates, Ahmed Maitik, dem Plan der EU eine klare Absage erteilt. Ähnliche Signale kommen auch aus Marokko, Ägypten und Tunesien.
Wie die "Ausschiffungsplattformen" in Nordafrika konkret aussehen sollen, ist unklar. Sollten sie nach dem Modell der "Hotspots" in Griechenland und Italien funktionieren, würde das schwerwiegende menschenrechtliche Fragen aufwerfen, sagt Sophia Wirsching, Referentin für Migration und Entwicklung für die Hilfsorganisation "Brot für die Welt": "Vor allem die Hotspots in Griechenland sind überfüllt, die Aufnahmebedingungen sind menschenunwürdig, es gab vereinzelt Tote. Die Asylverfahren sind nicht beschleunigt worden. Vielmehr warten viele Schutzsuchende in den geschlossenen Einrichtungen monatelang."
Das Bestreben, das komplette Asylverfahren in Transit- oder Herkunftsstaaten außerhalb der EU durchzuführen, wäre außerdem mit erheblichen rechtlichen und praktischen Schwierigkeiten verbunden: "Solange es kein einheitliches europäisches Asylrecht gibt, ist auch nicht klar, welches nationale Recht Anwendung finden sollte", sagt Wirsching.
⇒ Sind die Rettungsaktionen der NGOs illegal?
Nein. Zwar haben der italienische Innenminister Salvini und der Infrastrukturminister Toninelli behauptet, dass sich die Rettungsmannschaften Befehlen der Küstenwache widersetzen würden. Doch das wurde nie bewiesen. Auch für die Behauptung, die NGOs würden mit Schleppern kooperieren, gab es bislang keine Belege.
Sowohl das Berufungsgericht in Ragusa als auch der Ermittlungsrichter von Palermo haben inzwischen klargestellt: Dass NGOs Geflüchtete nach Italien bringen statt nach Libyen, bedeutet keine Rechtswidrigkeit. Die NGOs haben dadurch vielmehr die Normen zur Seenotrettung korrekt umgesetzt – so der Ermittlungsrichter.
Von Fabio Ghelli
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