Kommen derzeit besonders viele "Wirtschaftsmigranten" an?
Italiens Premierminister Paolo Gentiloni hat kürzlich behauptet, 85 Prozent der Menschen, die aus Afrika nach Europa kommen, seien keine Flüchtlinge, sondern "Wirtschaftsmigranten". Aktuelle Zahlen widersprechen jedoch dieser Aussage: Der Anteil der Asylbewerber, die in Italien Schutz erhalten, liegt nach Angaben des dortigen Innenministeriums derzeit bei rund 40 Prozent. Zwar ist die Zahl der positiven Asylentscheidungen zuletzt gesunken. Doch das sei kein Indiz dafür, dass die überwiegende Mehrheit der Antragsteller "Wirtschaftsmigranten" seien, sagten Anwälte der italienischen Flüchtlingsorganisation "Diritti e Frontiere" dem MEDIENDIENST. Viele negative Beschlüsse der zuständigen Behörden würden von den Gerichten gekippt.
Auch eine Umfrage der Middlesex University in London widerspricht den Aussagen des italienischen Premierministers. Die Forscher haben Flüchtlinge, die Sizilien erreichen, zur ihren Fluchtgründen befragt. Etwa die Hälfte gab an, hauptsächlich wegen Verfolgung oder Angst um die eigene Familie geflohen zu sein.
Zudem vertreten manche Wissenschaftler die Ansicht, dass eine klare Unterscheidung von Flüchtlingen und vermeintlichen "Wirtschaftsmigranten" nicht möglich ist. Sie sprechen von "Überlebensmigranten" statt von "Wirtschaftsmigranten".
Ziehen NGOs im Mittelmeer mehr Migranten an?
Im Februar 2017 warf der Direktor der Grenzschutzagentur Frontex, Fabrice Leggeri, Nichtregierungsorganisationen vor, durch ihre Rettungseinsätze mehr Migranten anzuziehen. Dieser Vorwurf wurde später von mehreren europäischen Politikern wiederholt. Eine Studie des britischen Forschungsteams „Forensic Oceanography“ hat festgestellt: Nicht nur über das zentrale Mittelmeer, wo es Schiffe der NGOs gibt, kommen derzeit mehr Menschen. Zum Vergleich: Die Flüchtlingszahlen im zentralen Mittelmeer stiegen im ersten Halbjahr 2017 laut UNHCR-Angaben um rund 17 Prozent. Im westlichen Mittelmeer – wo keine NGO-Schiffe patrouillieren – lag der Anstieg bei 75 Prozent. Der Grund: Seit etwa drei Jahren flüchten vermehrt Menschen aus westafrikanischen Ländern nach Nordafrika – vor allem aufgrund der prekären Sicherheitslage in Nigeria und der Elfenbeinküste. Von dort aus wagen viele die gefährliche Reise über das Mittelmeer.
Ist die Überfahrt durch die Arbeit der NGOs gefährlicher geworden?
Der Frontex-Direktor Fabrice Leggeri sagte, dass Schleuserbanden verstärkt marode Schlauchboote benutzen würden in der Annahme, dass die Flüchtenden nach wenigen Seemeilen von NGOs gerettet werden. Schiffbrüche seien dabei programmiert. Die Forscher vom Londoner Institut "Forensic Oceanography" haben jedoch festgestellt: Schleuser benutzen seit mindestens einem Jahr kleine Schlauchboote statt Kutter und Holzboote, denn Einheiten der Operation „Sophia“ würden seit 2016 verstärkt Boote beschlagnahmen und zerstören. Deshalb sei es günstiger, billige „Wegwerf“-Boote zu benutzen. Dies bestätigte die Koordinierugszentrale von „Sophia“in einem Bericht vom November 2016.
Zahlen der Organisation für Migration (IOM) und des UNHCR zeigen: Obwohl die Zahl der Ankünfte in Italien im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um rund 17 Prozent gestiegen ist, ging die Zahl der Todesfälle im zentralen Mittelmeer zurück. IOM beziffert den Rückgang auf 12,6 Prozent, UNHCR sogar auf 26 Prozent. Dass weniger Menschen sterben, sei zum Großteil auf die Arbeit der NGOs zurückzuführen, sagt das Forschungteam "Forensic Oceanography": Je stärker die Präsenz der NGO-Schiffe im Mittelmeer, desto weniger Todesfälle wurden gemeldet. Bis April 2017 haben die NGO-Schiffe rund ein Drittel aller Flüchtlinge im Mittelmeer gerettet.
Wie viele Flüchtlinge werden nach Europa kommen?
Seit mehreren Jahren wird darüber diskutiert, wie viele Menschen aus Libyen nach Europa kommen wollen. Letztes Jahr war sogar die Rede von einer Million Menschen. Im Frühjahr dieses Jahres warnte Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) davor, dass in diesem Jahr bis zu 400.000 Menschen aus Afrika nach Europa kommen könnten. Bislang hat sich dieses Szenario nicht bewahrheitet: Sollte sich der aktuelle Trend fortsetzen, würden im Gesamtjahr 2017 rund 210.000 Menschen Italien über die zentrale Mittelmeer-Route erreichen.
Eine Studie im Auftrag des UN-Flüchtlingswerks UNHCR geht davon aus, dass die Zahl der ankommenden Flüchtlinge weiterhin hoch bleiben wird. Doch die Untersuchung stellt gleichzeitig fest: Nicht alle Migranten aus West-, Zentral- und Ostafrika sowie aus Südasien (Bangladesch), die in Libyen leben, wollen Europa erreichen. Mehr als die Hälfte von ihnen gibt an, in Libyen bleiben zu wollen.
Wie viele Menschen tatsächlich die gefährliche Überfahrt versuchen werden, hängt von der Situation im Land ab. Die Sicherheitslage hat sich in den vergangenen Monaten erneut verschlechtert, sagt Marie-Cecile Darme, Autorin der UNHCR-Studie.
Die Europäische Union will mit einem "Aktionsplan" Migrationsbewegungen im zentralen Mittelmeer einschränken. Dazu sollen libysche Grenzbehörden unterstützt werden. Doch es ist laut Grenzforscherin Darme fraglich, ob die libysche Küste vollständig überwacht werden kann. Mehrere Küstengebiete stünden unter der Herrschaft von Milizen. Die Schlepper würden ihnen Schutzgeld zahlen, um Migranten durch ihre Einflusszonen zu schleusen. Außerdem berichtet Frontex, einige hochrangige Offiziere des libyschen Militärs würden mit den Schleppern kooperieren.
Von Fabio Ghelli
Sie sind Journalist*in und haben weitere Fragen oder suchen Fachleute zum Thema? Dann können Sie uns gern kontaktieren. Wir helfen schnell und unkompliziert. Unsere Texte und Grafiken können kostenfrei unter den Regeln der Creative Commons und unserer Namensnennung verwendet werden. Dies gilt nicht für Bilder und Fotos, die wir von Dritten erworben haben.