MEDIENDIENST: Im März 2016 hat die EU einen Flüchtlings-Deal mit der Türkei geschlossen. Menschenrechts-organisationen üben jedoch Kritik am türkischen Umgang mit Geflüchteten. Wie ist es um den Flüchtlingsschutz in der Türkei bestellt?
Dr. Cavidan Soykan: Die Türkei hat die "Genfer Flüchtlingskonvention" zwar ratifiziert, allerdings mit einem geografischen Vorbehalt: Nur Europäer haben die Möglichkeit, als Flüchtling anerkannt zu werden. Dabei kommen fast alle der über 3 Millionen Flüchtlinge, die derzeit in der Türkei leben, aus nicht-europäischen Staaten: Etwa 2,75 Millionen sind Syrer, weitere 400.000 kommen aus anderen Ländern wie dem Irak, Iran, Afghanistan oder Somalia. Wegen der geografischen Einschränkung wird keiner von ihnen als Flüchtling anerkannt. Der Schutzmechanismus des türkischen Asylsystems ist daher mehr als fragwürdig.
Was passiert mit den Flüchtlingen aus nicht-europäischen Ländern?
Ihr Schutz war lange Zeit nur durch eine Verordnung geregelt. Eine gesetzliche Grundlage gibt es erst seit 2013: das „Law on Foreigners and International Protection“. Das Gesetz führte zwei Schutzformen ein, die auch für nicht-europäische Flüchtlinge gelten: subsidiären Schutz und einen sogenannten "conditional refugee status". Beide gewähren nur ein vorübergehendes Bleiberecht, sind aber weitestgehend vergleichbar mit asylrechtlichen Regelungen in europäischen Ländern. Syrische Flüchtlinge sind davon allerdings ausgenommen: Sie haben kein Recht auf Schutz nach dem neuen Gesetz, sondern erhalten lediglich einen sogenannten "temporary protection status", der jederzeit von der Regierung zurückgenommen werden kann. Dennoch haben sie meist besseren Zugang zu Rechten und sozialen Hilfeleistungen als andere Flüchtlingsgruppen.
Wie kommt das?
Es gibt viele zivilgesellschaftliche Initiativen, deren Arbeit sich speziell an syrische Flüchtlinge richtet. Mehrere internationale Organisationen haben sogenannte "community centers" eröffnet, die Sprachkurse oder andere Unterstützung anbieten. Die Einrichtungen sind für alle Flüchtlinge zugänglich, wurden aber ursprünglich für Syrer aufgebaut und arbeiten vor allem auf Arabisch. Zudem hat die türkische Regierung vor Kurzem eine Verordnung auf den Weg gebracht, die es Syrern ermöglicht, eine Arbeitserlaubnis zu beantragen.
Wie ergeht es nicht-syrischen Flüchtlingen? Hat das neue Gesetz ihre Situation verbessert?
Leider nein. Das Gesetz sieht zwar sogenannte Verfahrensrechte für Flüchtlinge vor wie zum Beispiel, während des Asylverfahrens rechtliche Unterstützung zu erhalten. Die meisten dieser Neuerungen wurden jedoch bis heute nicht umgesetzt. Wir haben keine Informationen darüber, wie viele Antragsteller subsidiären Schutz oder den genannten “conditional refugee status” erhalten haben. Das liegt vor allem daran, dass die zuständigen Sachbearbeiter nicht ausreichend geschult sind. Sie wissen nicht, wie sie das neue Gesetz korrekt auslegen und anwenden sollen. Sie haben Asylanträge entgegengenommen, aber noch keiner dieser Anträge wurde bislang bearbeitet. Ein weiteres Problem ist, dass sich viele Flüchtlinge irregulär in der Türkei aufhalten: Sie wissen, dass sie nur vorübergehend Schutz erhalten können, und entscheiden sich deshalb dagegen, Asyl zu beantragen. Greift die Polizei sie auf, werden sie in sogenannte “removal centers” geschickt. Dort haben sie oft keine Möglichkeit, Asyl zu beantragen, weil sich die Beamten vor Ort weigern, Anträge entgegenzunehmen. Die Situation der Flüchtlinge hat sich daher leider kaum verbessert.
Dr. CAVIDAN SOYKAN ist Dozentin für Menschenrechte an der Fakultät für Politikwissen-schaften der Universität Ankara. In ihrer Doktorarbeit hat sie die rechtlichen Regelungen für Asylbewerber in der Türkei untersucht. Sie ist Vizepräsidentin der türkischen Menschenrechtsorganisation "Association for Solidarity with Refugees" (Mülteci-Der).
Was sind die Hauptprobleme, mit denen sich Schutzsuchende konfrontiert sehen?
Das größte Problem ist die mangelnde staatliche Unterstützung. Es gibt Menschenrechtsorganisationen, die Geflüchteten rechtliche Unterstützung anbieten. Davon abgesehen gibt es jedoch kaum soziale Hilfestellungen. Nur etwa 265.000 Flüchtlinge leben derzeit in staatlich betriebenen Flüchtlingscamps, wo sie mit Unterkunft und Essen versorgt werden. Die große Mehrheit der Flüchtlinge ist auf sich allein gestellt und lebt quasi auf der Straße. Im Asylgesetz von 2013 hat sich die Regierung dazu verpflichtet, Aufnahmeeinrichtungen für Asylbewerber zu bauen. Bis heute ist jedoch keine dieser Einrichtungen eröffnet worden. Was noch schlimmer ist: Wir wissen, dass einige zu “removal centers” umfunktioniert wurden.
Wie hat sich das EU-Türkei-Abkommen auf die Situation der Flüchtlinge ausgewirkt?
Ich kann nicht sagen, dass sich ihre Situation durch den Deal verschlechtert hat. Unmittelbar, nachdem er beschlossen wurde, hat das “Directorate General of Migration Management” – die zuständige Behörde für Migration und Asyl in der Türkei – eine Verordnung verabschiedet, die die Umsetzung des neuen Gesetzes beschleunigen soll. So gesehen gab es seit dem Abkommen einige positive Entwicklungen, aber es bleibt abzuwarten, inwieweit sie tatsächlich umgesetzt werden.
Was passiert mit Flüchtlingen, die aus Griechenland zurück in die Türkei geschickt werden?
Sie werden direkt in die “removal centers” gebracht. Hilfsorganisationen und Rechtsanwälte haben keinen Zugang zu diesen Einrichtungen. Wir wissen also nicht, was mit den Geflüchteten passiert. Wir haben jedoch erfahren, dass die Türkei weitere Rückübernahmeabkommen mit Herkunftsländern von Flüchtlingen plant. Wir befürchten daher, dass sie dorthin zurückgeschickt werden, ohne die Möglichkeit zu erhalten, in der Türkei einen Asylantrag zu stellen.
Laut Medienberichten haben türkische Grenzbeamte auf Flüchtlinge an der syrischen Grenze geschossen. Gibt es dafür konkrete Anhaltspunkte?
Ja, der Menschenrechtsorganisation “Human Rights Watch” zufolge wenden türkische Grenzbeamte gegenüber Syrern Gewalt an. Im März und April 2016 seien dabei fünf Menschen gestorben und 14 schwer verletzt worden. Die türkische Regierung spricht von einer “open door policy” gegenüber Syrern, aber laut Anwohnern aus der Region wurde die Grenze zu Syrien im Mai 2015 komplett geschlossen. Flüchtlinge sind deshalb auf die Hilfe von Schleppern angewiesen oder aber müssen Grenzbeamte bestechen. Auch Syrer, die die Türkei über Drittstaaten erreichen, haben kaum Chancen, einzureisen: Im Januar 2016 hat die türkische Regierung eine Visumspflicht für sie eingeführt.
Was denkt die türkische Bevölkerung über Geflüchtete und die aktuelle Situation?
Im letzten Sommer habe ich eine Feldstudie in Gaziantep durchgeführt, einer Stadt nahe der syrischen Grenze. Vor Beginn des Krieges kamen Syrer oft in diese Region, um zu reisen oder einzukaufen. Als sie nach Kriegsbeginn als Flüchtlinge kamen, stand die Bevölkerung ihnen daher zunächst aufgeschlossen gegenüber – auch, weil sie dachten, dass der Krieg bald enden und die Menschen nach Syrien zurückkehren würden. Diese Toleranz scheint jedoch zu schwinden: Türken in der Region sehen, dass sie langfristig mit Syrern zusammenleben müssen, und wir beobachten, dass die Atmosphäre zunehmend angespannt ist. Mitauslöser dafür war ein Vorfall im Jahr 2014, als ein Syrer seinen Vermieter umgebracht hat. Der Fall wurde zu einer Art Hetzkampagne gegen alle Syrer in Gaziantep: Sie wurden gezwungen, ihre Häuser und Nachbarschaften zu verlassen. Ladenbetreiber mussten ihren Geschäften neue Namen geben, die nicht mit Syrien in Zusammenhang stehen.
Gibt es Übergriffe oder gewalttätige Angriffe auf Flüchtlinge?
Leider wissen wir darüber nur sehr wenig, weil es keine unabhängige Berichterstattung zu diesen Vorfällen gibt. Wir haben den Eindruck, dass Lokalmedien vor allem negativ über Flüchtlinge berichten. Im Fall des Syrers, der seinen Vermieter umgebracht hat, sind die Zeitungen nicht auf die Hintergründe seiner Tat eingegangen, sondern haben ihn lediglich als “Angreifer” dargestellt.
Der EU-Türkei-Deal hatte zum Ziel, Flüchtlinge davon abzuhalten, nach Westeuropa zu reisen. Glauben Sie, dass das funktioniert?
Ich habe den Eindruck, dass der Deal Angst hervorgerufen hat: Flüchtlinge fürchten sich davor, die Grenze zu überqueren, weil sie davon ausgehen, zurückgeschickt zu werden. Auf lange Sicht denke ich aber, dass sich diese Entwicklung wieder umkehren wird. Das Asylsystem in der Türkei funktioniert nicht, wie es funktionieren sollte. Die Menschen werden sich mit dieser Situation nicht zufrieden geben, sondern ihre Reise nach Westeuropa fortsetzen.
Das Interview ist auch auf Englisch erschienen.
Interview: Jennifer Pross
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