Im Januar erreichten etwa 2.000 Menschen pro Tag die deutsche Grenze – derzeit sind es nur noch knapp 200, sagte die Bundespolizei dem MEDIENDIENST (Stand: Ende März 2016). Zwei Gründe gibt es hierfür: Zum einen liegt das am Abkommen der EU mit der Türkei, wonach die Türkei irreguläre Einwanderer aus Griechenland zurücknehmen muss. Zum anderen daran, dass die Balkanroute inzwischen so gut wie dicht ist.
Angesichts der schwierigen Lebensbedingungen vieler Flüchtlinge im Nahen Osten und in der Türkei ist es aber sehr wahrscheinlich, dass viele von ihnen weiterhin versuchen werden, nach Europa zu gelangen. Zudem warten derzeit mehr als 40.000 Schutzsuchende in Griechenland auf eine Möglichkeit, ihre Reise fortzusetzen.
Wohin gehen die Flüchtlinge?
Laut einer Studie des Projekts „Acaps“ im Auftrag von UNHCR zeichnen sich derzeit zwei mögliche Entwicklungen als wahrscheinlich ab:
- Szenario 1: Trotz der Patrouillen der griechischen und türkischen Grenzpolizei könnten Schleuser neue, längere und gefährlichere Routen in der Ägais finden. Vor allem junge Männer und unbegleitete Minderjährige aus dem Nahen Osten würden weiterhin die Reise wagen. Die Situation in den griechischen Aufnahmelagern könnte eskalieren. Neue Routen würden durch Bulgarien, Albanien oder Italien führen.
- Szenario 2: Mithilfe von Frontex und NATO-Einheiten würde die Seegrenze zwischen der Türkei und den griechischen Inseln tatsächlich abgeriegelt. Um die Ankunft weiterer Flüchtlinge zu vermeiden, würde die Türkei die Grenze zu Syrien komplett absperren. Dadurch könnten sich die Migrationsbewegungen in Richtung Nordafrika verschieben.
Viele Geflüchtete könnten versuchen, die Hafenstädte von Ägypten und Libyen zu erreichen, heißt es in der Studie. Aussagen aus dem italienischen Innenministerium scheinen die These zu bestätigen. Demnach wurden seit Anfang des Jahres viel mehr Menschen auf dem Weg aus Nordafrika nach Sizilien gerettet als 2015. Medien wie die "Bild" Zeitung sprechen in diesem Zusammenhang bereits von einer "Rückkehr der Todes-Route".
Libyen ist für Syrer keine Alternative
Andere Experten zweifeln jedoch an dieser These. Es seien vor allem Geflüchtete aus der Subsahara (etwa Eritrea und Nigeria), die derzeit den Weg über die zentrale Mittelmeerroute nehmen. Für die meisten syrischen Flüchtlinge, die derzeit fast die Hälfte aller Flüchtlinge im Mittelmeerraum ausmachen, kommt diese Route jedoch nicht in Frage, sagt Arezo Malakooti im Gespräch mit dem MEDIENDIENST.
Malakooti leitet die Abteilung Migration beim Beratungsunternehmen „Altai Consulting“, das seit mehr als zehn Jahren in den Krisengebieten der Welt aktiv ist. Anders als zu Beginn des syrischen Bürgerkriegs verlangen inzwischen alle Länder in Nordafrika ein Einreisevisum von Syrern. „Es gibt keine Länder mehr, in die syrische Geflüchtete ohne Visum einreisen können, um von dort weiter nach Europa zu reisen“, erklärt Malakooti.
Viel wahrscheinlicher ist für die Migrations-Expertin, dass die Flüchtlinge im Nahen Osten demnächst eine Vielzahl von Routen nutzen werden: „Fluchtrouten sind sehr dynamisch geworden. Das liegt unter anderem daran, dass Schleuser nur wenige Tage brauchen, um Menschentransporte zu organisieren“, sagt sie.
Das bestätigt auch der Nato-Kommandeur Jörg Klein gegenüber der Nachrichtenagentur dpa. Die Schleuser seien sehr flexibel. Möglicherweise werden Geflüchtete künftig die griechischen Inseln in der Nähe der türkischen Küste meiden, so der Flottillenadmiral.
Wie sich Fluchtrouten innerhalb kürzester Zeit ändern können, zeigt das Beispiel Westbalkan: Als Ungarn im Sommer den Grenzzaun zu Serbien und Kroatien errichtete, wichen die Schutzsuchenden nicht auf eine einzige Alternativroute aus, sondern verteilten sich auf eine Vielzahl von neuen Routen.
Grundsätzlich gehen Experten davon aus, dass die meisten Geflüchteten aus dem Nahen Osten weiterhin die Route über Osteuropa wählen und werden dort Ausweichwege suchen. Um die Grenzkontrollen in Serbien und Mazedonien zu umgehen, reisen immer mehr Geflüchtete nach Bulgarien: Nach Angaben des Projekts "Bordermonitoring" haben zwischen Januar und März 2016 etwa 7.500 Menschen die griechisch-bulgarische Grenze überquert. Sollte auch dieser Fluchtweg versperrt werden, ist ein Ausweichen auf die griechisch-albanische Route nach Italien und Mitteleuropa denkbar.
Von Fabio Ghelli
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