Frau Hänsel, Sie forschen zu Lebensbedingungen von Geflüchteten auf Lesbos. Wie ist die Lage auf der griechischen Insel?
Valeria Hänsel: Katastrophal. Es gibt eine starke Zunahme der Gewalt. Seit Anfang des Jahres häufen sich die Nachrichten von gewaltsamen Übergriffen: Zwei Männer wurden auf dem Gelände des Aufnahmelagers von Moria niedergestochen. Vor wenigen Tagen wurde eine junge Frau aus Afghanistan angegriffen, sie schwebt in Lebensgefahr. Ein Häftling hat sich im Lager-Gefängnis erhängt.
Wie kam es dazu?
Die Aufnahme-Einrichtungen sind überfüllt. In den vergangenen Monaten kamen immer mehr Geflüchtete aus der Türkei auf die griechischen Inseln. Im gesamten vergangenen Jahr waren es mehr als 60.000 Menschen. Es sind vor allem Afghaninnen und Afghanen – aber auch Menschen aus Somalia, Nigeria, Kamerun und der Republik Kongo. Die Insel ist keineswegs dafür vorbereitet: Die Aufnahmeeinrichtungen können maximal 2.500 Menschen unterbringen. Derzeit befinden sich nach Angaben des griechischen Innenministeriums aber mehr als 21.000 Geflüchtete auf Lesbos.
Wie leben die Menschen?
Ein Großteil der Geflüchteten lebt in improvisierten Unterkünften außerhalb des offiziellen Aufnahmelagers in Moria. Zelte gab es in den Olivenhainen schon früher – allerdings nur wenige und sie waren meistens temporär. Jetzt richten sich viele Geflüchtete dauerhaft ein, dafür bauen sie Hütten. Es ist ein "Slum" entstanden, in dem sich tausende Menschen einige wenige mobilen Toiletten und Duschen teilen. Medizinische Versorgung wird nur von Nichtregierungs-Organisationen wie "Ärzte ohne Grenzen" angeboten. Für Notfälle sind nur drei Krankenwagen von der Stadt Mytilini im Einsatz. Die Situation ist lebensgefährlich: Viele Bewohner heizen ihre Holzhütten mit selbstgemachten Öfen. Sollte ein Brand ausbrechen, könnte das tragische Folgen haben. Und dann gibt es die ständige Gewalt.
VALERIA HÄNSEL ist Migrationsforscherin am Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Universität Göttingen. Seit mehreren Jahren untersucht sie die Lebensbedingungen von Geflüchteten auf der östlichen Mittelmeer-Route – vor allem in Griechenland. Sie ist Teil des Forschungsteams vom internationalen Projekt "RESPOND – Multilevel Governance of Mass Migration in Europe and Beyond". Gemeinsam mit dem Migrationsforscher Bernd Kasparek hat sie 2020 eine Expertise zu den griechischen Hotspots erstellt.
Wie kommt es zu den Übergriffen?
Es gibt sehr wenige sichere Orte rund um die Aufnahme-Strukturen. Die Polizei zeigt sich kaum. Einige Überfälle sollen sich direkt vor dem Büro des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (EASO) ereignet haben. Oft handelt es sich um Raubüberfälle. Die Geflüchteten, mit denen wir gesprochen haben, sagen, dass kriminelle Banden aus dem Festland die Siedlung unterwandert haben. Afrikanische Geflüchtete werden besonders oft Opfer von Gewalt. Die Geflüchteten haben sich inzwischen zusammengetan und eine Demonstration für mehr Sicherheit organisiert.
Wie reagiert die griechische Regierung darauf?
Bis jetzt praktisch gar nicht. Dabei muss man sagen, dass die aktuellen Probleme von den jüngsten Asyl-Gesetzesreformen deutlich verschärft wurden. Das neue Asylgesetz, das am 1. Januar in Kraft getreten ist, führt dazu, dass fast keine Geflüchteten mehr die Insel verlassen dürfen. Früher wurden wenigstens besonders schutzbedürftige Menschen wie etwa Familien mit Kindern auf das Festland gebracht, doch das geschieht inzwischen nicht mehr. Gleichzeitig versuchen die Behörden, die Asylvefahren zu beschleunigen. Immer öfter erfahren wir von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern, die eine Ablehnung bekommen haben, ohne dass sie jemals angehört wurden.
Werden abgelehnte Asylbewerber in die Türkei zurückgebracht?
Nicht immer. Viele abgelehnte Asylbewerberinnen und Asylbewerber legen Widerspruch gegen negative Bescheide ein. Außerdem weigern sich die türkischen Behörden oft, Menschen zurückzunehmen. Wir haben im September zum Beispiel einen Fall dokumentiert, in dem ein Mann abgeschoben wurde, um nur wenige Stunden später zurück nach Lesbos geschickt zu werden.
Menschenrechtsorganisationen und einige Politikerinnen und Politiker haben dafür plädiert, geflüchtete Kinder und Jugendliche aus Lesbos nach Deutschland zu holen. Wie ist ihre Situation auf der Insel?
Besonders dramatisch. Sehr viele Kinder leben im "Slum" und auf der Straße. Viele Kinder sind außerdem ohne ihre Familien auf Lesbos. Es wird geschätzt, dass im Aufnahmelager von Moria mehr als 1.000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge leben. Nur die Hälfte von ihnen konnten Platz in einer sicheren Einrichtung finden. Menschenrechtsorganisationen versuchen, die Kinder mit ihren Eltern, die sich häufig in anderen europäischen Ländern aufhalten, zu vereinen. Doch die Verfahren für Familienzusammenführungen sind sehr langwierig. Fristen werden nicht eingehalten. Und die Kinder bleiben in Lesbos sitzen.
Interview: Fabio Ghelli
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