Mit der „Flüchtlingskrise“ hat die gesellschaftliche Spaltung einen neuen Höhepunkt erreicht. Vor diesem Hintergrund sind die Bemühungen um einen Grundkonsens in der Einwanderungsgesellschaft wichtig. Ziel sollte es sein, an die Stelle eines traditionsorientierten einen verfassungsorientierten Konsens treten zu lassen, der dann auch den nötigen "Zusammenhalt" stiften kann.
In diesem Zusammenhang muss auch neu nachgedacht werden über den Begriff "Integration". Integration könnte man in einem modernen Einwanderungsland in drei Kreisen diskutieren:
- Im ersten Kreis geht es um die Integration der zugewanderten und der schon im Land geborenen Bevölkerung mit Migrationshintergrund.
- In einem weiteren Kreis geht es um Integration als Gesamtaufgabe der Einwanderungsgesellschaft – unter Einbeziehung von nicht oder nicht mehr zureichend integrierten Menschen aus der Mehrheitsbevölkerung. Denn auch sie können – zum Beispiel infolge fehlender Qualifikation, prekärer Soziallage und dauerhafter Arbeitslosigkeit – in einen Sog desintegrativer Faktoren geraten, aus dem sie sich nicht mehr selbst befreien.
- Im dritten, weitesten Kreis geht es um die interkulturell verschärfte Gretchenfrage postindustrieller Einwanderungsgesellschaften: Was hält unsere kulturell vielfältiger werdenden Gesellschaften eigentlich ideell zusammen – die deutsche als Teil der europäischen Gesellschaft, die europäische als Teil der atlantischen, die atlantische als Teil einer möglichen Weltgesellschaft? Welches sind die dazu nötigen Grundideen, Werte und Normen?
Prof. Dr. KLAUS J. BADE ist Migrations-forscher, Publizist und Politikberater. Er war u.a. Gründer des Osnabrücker Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) und Gründungsvorsitzender des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR). Am 21. April erscheint sein Buch "Migration – Flucht – Integration. Kritische Politikbegleitung von der ‚Gastarbeiterfrage’ bis zur ‚Flüchtlingskrise’. Erinnerungen und Beiträge" im Von Loeper Literaturverlag (Open Access ab 21.4.2017).
Der ideelle Bogen geht hier aus Anstößen hervor, wie sie Navid Kermani, Naika Foroutan, Zafer Şenocak und viele andere in ihren Büchern initiiert haben, von der Regisseurin und Theaterintendantin Shermin Langhoff auf der Bühne oder von der in der Berliner Akademie der Künste 2016 von Johannes Odenthal und seinem Team präsentierten großen Ausstellung "Uncertain States" mit ihrem gewaltigen Begleitprogramm. Die Ergebnisse sind wissenschaftliche, literarische, szenische und im weitesten Sinne künstlerische Bestandsaufnahmen, Perspektiven und Visionen der kulturellen Hybridität im "postkolonialen" und "postmigrantischen" Zeitalter. Der Bogen spannt sich weiter über die von Harald Welzer, André Wilkens und anderen zwischen Buchdeckeln und auf Podien inszenierte, an Popper anschließende "Offene Gesellschaft" bis hin zu Münklers "Neuen Deutschen" und zu der Frage nach dem ideellen "solidarischen Wir", mit dem man den Begriff einer neuen kollektiven Identität füllen könnte.
Vielfalt der Heimaten und Erinnerungskulturen
Eine vielleicht eingängigere Alternative wäre die Diskussion um einen kritisch reflektierten "Heimat«-Begriff. Das hat zuletzt auch Heribert Prantl mit den Stichworten "Heimat Demokratie – Heimat Sozialstaat – Heimat Europa" und mit dem kämpferischen Motto aufgegriffen: "In flüchtigen Zeiten Heimat schaffen, das ist Politik gegen die Parolen des Mobs."
Bei diesem erweiterten Heimatbegriff ginge es um die verschiedensten kulturellen Heimaten (im Plural) unter einer übergreifenden gemeinsamen Idee von Heimat, deren tragende Wertbezüge im Grundgesetz ankern. Eine Grundvoraussetzung dafür ist die Einsicht, dass es in einer Einwanderungsgesellschaft, auch innerhalb einer Familie, unterschiedliche Einwanderergenerationen und Integrationserfahrungen gibt.
Daraus entstehen vielfältig in sich gebrochene und von der Mehrheitsbevölkerung oft deutlich verschiedene Erinnerungskulturen als Grundlage für Gegenwartseinschätzung und Zukunftserwartungen. Diese interkulturellen Identitäts- und Inklusionsdiskurse könnten über die "Flüchtlingskrise" von 2015/16 hinaus dauerhaft bedeutsam werden für einen belastbaren demokratischen Grundkonsens in der Einwanderungsgesellschaft.
Einwanderungsgesellschaft und Grundgesetz
Er würde, so bleibt zu hoffen, auch streitbare Abwehr bieten gegen extremistische Angriffe von innen und außen. Denn nichts ist für fundamentalistische Extremisten jedweder Provenienz lähmender als die Konfrontation mit einem selbstbewussten Gemeinwesen, zu dessen Grundwerten das Streben nach interkultureller Akzeptanz und sozialem Frieden gehört. Das sollte letztendlich auch durch eine Änderung des Grundgesetzes selbst gerahmt werden.
2015 habe ich mich auf den französischen Kulturphilosophen Vincent Cespedes bezogen. Er schreibt über den Verlust unserer Fähigkeit, "Kollektive zu bilden" und über afrikanische Kulturtechniken, mit deren Hilfe ein kollektives „Wir" wiedergefunden werden könnte. Cespedes meint damit das altafrikanische "Große Palaver": Es konnte sehr lange dauern, musste aber mit Leitorientierungen enden. Die standen dann für alle Beteiligten nicht mehr zur Disposition – bis vielleicht ein neues "Großes Palaver" andere Leitorientierungen brachte. Um das "Große Palaver" ergebnisorientiert und nachhaltig zu strukturieren, könnte die auf der Bundesebene von der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung vorgeschlagene Leitbild-Kommission eine Hilfestellung sein.
Gekürzter und überarbeiteter Vorab-Auszug aus: Klaus J. Bade, "Migration – Flucht – Integration. Kritische Politikbegleitung von der ‚Gastarbeiterfrage’ bis zur ‚Flüchtlingskrise’. Erinnerungen und Beiträge", Von Loeper Literaturverlag, Karlsruhe April 2017, 620 Seiten, Open Access ab 21.4.2017
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