Geflüchtete, die in Europa Schutz suchen wollen, können in der Regel nicht legal mit einem Visum einreisen. Deshalb nutzen sie in vielen Fällen sogenannte Fluchtrouten. Ein Blick auf die Flüchtlingszahlen entlang der Hauptrouten, die aus dem Nahen Osten und Afrika nach Europa führen, zeigt: Es ist nahezu unmöglich, genau zu wissen, wer über welche Route in welches Land gekommen ist. Je nach Grenzübergang variieren die Zahlen und Herkunftsländer der abgefangenen Personen. Auch werden viele irreguläre Einwanderer*innen mehrfach erfasst – etwa, wenn sie wiederholt versuchen, über die Grenzen der Europäischen Union zu gelangen. Hier eine Zusammenstellung der Eckdaten für die wichtigsten Migrations- und Fluchtrouten, die in die Europäische Union und nach Deutschland führen.
2024 ist die Zahl der Geflüchteten, die irregulär nach Europa gekommen sind, im Vergleich zum Vorjahr insgesamt zurückgegangen – so in Italien und im Westbalkan. In Polen, Griechenland und Spanien (insbesondere auf den Kanarschen Inseln) ist sie jedoch deutlich gestiegen.
Ziel- und Transitländer im Überblick:
Deutschland
Die Bundespolizei zählte in den ersten vier Monaten 2024 rund 27.500 "unerlaubte Einreisen" an den Grenzen. Das sind ungefähr so viele wie im Vorjahreszeitraum. Von ihnen kamen etwa 5.600 Personen über die polnische Grenze – etwa ein Viertel von ihnen über die sogenannte Belarus-Route. Rund 4.600 Personen kamen über die österreichische und 4.500 über die Schweizer Grenze. Rund 4.600 Einreisen fanden mit dem Flugzeug statt.
Die zwei größten Gruppen unter den "irregulären Zuwanderern" waren Syrer*innen (ca. 5.300 Personen) und Ukrainer*innen (rund 4.200 Personen). Die Zahl der "irregulären Einreisen" von türkischen Staatsbürger*innen ist stark zurückgegangen: Ende 2023 waren es rund 1.000 Personen im Monat, im April 2024 weniger als 500.
Im Gesamtjahr 2023 gab es etwa 127.500 "unerlaubte Einreisen" nach Deutschland. Das sind rund 38 Prozent mehr als 2022. Von ihnen kamen rund 32.800 Menschen über die polnische Grenze – etwa ein Drittel von ihnen ist über Belarus eingereist. 28.000 Personen wurden an der österreichischen, etwa 18.300 an der schweizerischen und rund 16.700 an der tschechischen Grenze aufgegriffen.Quelle
Polen
Seit 2021 reisen viele Menschen aus Asien (Irak, Afghanistan, Iran, Syrien, Jemen, Indien) und Afrika (Somalia, Äthiopien, Eritrea, Ägypten) nach Russland oder Belarus und versuchen anschließend über die belarusisch-polnische Grenze in die Europäische Union zu gelangen.
Im ersten Halbjahr 2024 zählte die polnische Grenzpolizei rund 20.600 versuchte Grenzübertritte aus Belarus.
- Im Gesamtjahr 2023 gab es rund 26.000 versuchte Grenzübertritte,
- 2022 waren es etwa 15.700
- 2021 knapp 40.000, knapp die Hälfte davon im Oktober 2021.
Die belarusische Regierung begann im Frühjahr 2021, aktiv Personen aus Drittstaaten anzuwerben und sie zum Teil durch Anwendung von Gewalt dazu zwingen, die EU-Grenzen zu überschreiten. Die polnische Regierung hat daraufhin die Grenzkontrollen verschärft und einen 186 Kilometer langen Grenzzaun errichtet.
Zivilgesellschaftliche Organisationen und Medien in Polen gehen von mindestens 50 Todesfällen auf polnischer Seite (Stand: Juli 2024) aus; hinzu kommen Todesfälle auf belarusischer Seite infolge von Pushbacks. Insgesamt gehen Vertreter*innen der zivilgesellschaftlichen Organisation "Grupa Granica" von bis zu 80 Todesfällen aus (Stand: Juli 2024).Quelle
Die Gewalt zwischen Grenzbeamten und Geflüchteten an der polnisch–belarusischen Grenze eskaliert 2024 zunehmend: Im Mai kam ein polnischer Grenzbeamter durch einen Messerstich zu Tode; auch gab es Berichte über Schussverletzungen, die Grenzbeamte in Polen Geflüchteten zugefügt haben sollen. Die polnische Regierung richtete diesen Juni wieder eine mindestens 200m breite Sonderzone entlang der polnisch–belarusischen Grenze ein, die etwa Vertreter*innen von Medien und NGOs das Betreten erschwert.
Griechenland
Seit dem Abkommen zwischen der Türkei und den EU-Mitgliedstaaten aus dem Jahr 2016 ist die Zahl der Geflüchteten, die nach Griechenland über die Türkei kommen, relativ gering geblieben. Rund 20.700 Personen haben Griechenland im ersten Halbjahr 2024 erreicht. Im Gesamtjahr 2023 waren es rund 41.600 Personen.
Die Mehrheit der Menschen, die versuchen, die griechischen Inseln zu erreichen, werden von der türkischen Küstenwache aufgegriffen – in den ersten vier Monaten 2024 (sowie im Gesamtjahr 2023) waren es mehr als die Hälfte aller versuchten Überfahrten. Es gibt zahlreiche Belege dafür, dass die griechische Küstenwache Boote mit Geflüchteten auf hoher See zurückschiebt (Pushbacks).
Von den Geflüchteten, die im ersten Quartal 2024 Griechenland erreicht haben, waren die meisten Afghan*innen (ca. 44 Prozent aller Ankünfte), Syrer*innen (17 Prozent) und Ägypter*innen (13 Prozent).
Rund 2.600 Personen schafften es zudem über die Landesgrenzen in der Nähe des Flusses Evros – im Gesamtjahr 2023 waren es etwa 7.200 Personen. Seit 2012 gibt es an der griechisch-türkischen Grenze einen ca. 35 Kilometer langen Grenzzaun. Auch hier wurden gewaltsame Pushbacks festgestellt.
Serbien und Westbalkan
Die sogenannte Westbalkan-Route gilt als die Hauptroute für Personen, die aus dem Nahen Osten in Richtung Mitteleuropa flüchten. Es ist sehr schwierig festzustellen, wie viele Personen über die "Westbalkan-Route" aus Griechenland oder Bulgarien nach Mitteleuropa gelangen. In Serbien sollen nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR im Gesamtjahr 2023 rund 106.000 Personen angekommen sein. Das waren rund 15 Prozent weniger als 2022. In den ersten vier Monaten 2024 ist die Zahl der Ankünfte in Serbien weiter zurückgegangen und lag mit rund 6.600 dokumentierten Ankünften etwa 71 Prozent unter dem Vorjahreszeitraum.
Da jedoch viele der Personen, die durch die Westbalkan-Region reisen, wiederholt an verschiedenen Grenzen zurückgeschoben und mehrfach registriert werden, schätzt das UNHCR, dass die reale Zahl der Personen, die 2023 durch die Region gereist sind, bei ungefähr 31.000 liegt. In den ersten vier Monaten 2024 waren es schätzungsweise 3.400 Personen. Zum Teil gewaltsame Zurückschiebungen von Migrant*innen und Geflüchteten wurden an der ungarischen, rumänischen, kroatischen, albanischen und nordmazedonischen Grenze dokumentiert.
Italien
Italien ist das europäische Land, das die meisten Migrant*innen und Geflüchtete aus Afrika zuerst erreichen. In der Regel fahren sie von Libyen oder Tunesien aus entlang der sogenannten zentralen Mittelmeer-Route. Im ersten Halbjahr 2024 sind etwa 25.800 Menschen in Italien angekommen – das sind weniger als die Hälfte der Ankünfte au dem Vorjahreszeitraum (ca. 65.600 Personen). Die meisten Geflüchteten und Migrant*innen, die Italien erreichen, kommen aus Bangladesch (21 Prozent), Syrien (15 Prozent) und Tunesien (14 Prozent).
Rund 8.900 Personen sind in den ersten vier Monaten 2024 aus Libyen gestartet, etwa 7.200 aus Tunesien. Im Gesamtjahr 2023 waren es rund 52.000 Personen aus Libyen und 98.000 aus Tunesien.
Viele Migrant*innen und Geflüchtete auf der zentralen Mittelmeer-Route werden von libyschen und tunesischen Kräften aufgegriffen. In den ersten fünf Monaten 2024 waren es mehr als die Hälfte aller versuchtenÜberfahrten. Im Gesamtjahr 2023 waren es etwa ein Viertel aller Menschen, die die Überfahrt versucht haben. Zahlreiche Berichte werfen den libyschen und tunesischen Milizen, die im Mittelmeer patrouillieren, vor, sie würden Migrant*innen gewaltsam festnehmen und foltern. Die zentrale Mittelmeer-Route ist auch die gefährlichste Route im Mittelmeer: In den ersten fünf Monaten 2024 sind hier fast 700 Personen gestorben (mehr als eine Person von hundert, die die Überfahrt versucht haben). Im Gesamtjahr 2023 wurden auf dieser Route etwa 2.500 Todesfälle dokumentiert.
Es ist nicht klar, wie viele der Geflüchtete und Migrant*innen, die Italien erreichen, später einen Asylantrag in Deutschland stellen. 2023 wurden in Italien rund 136.100 Asylanträge gestellt. Es scheint unwahrscheinlich, dass viele der Personen, die in Italien angekommen sind, nach Deutschland weitergereist sind – wie ein Vergleich der Ankunftszahlen nach Herkunftsländern mit den Flüchtlingszahlen in Deutschland zeigt.
Spanien
Die Zahl der Personen, die aus Westafrika Spanien erreichen, ist seit 2022 deutlich gestiegen. Im ersten Halbjahr 2024 lag sie bei etwa 25.000 Personen. Mehr als drei Viertel von ihnen kamen auf den Kanarischen Inseln im Atlantischen Ozean an. Im Gesamtjahr 2023 waren es rund 57.000 Menschen – von ihnen 38.300 auf den Kanarischen Inslen.
Die Route zu den Kanarischen Inseln gilt als eine der gefährlichsten Routen weltweit. 2023 wurden hier fast 1.000 Todesfälle dokumentiert. Die Dunkelziffer ist jedoch viel höher.
Rund 200 Personen haben die Grenzen der spanischen Exklaven Ceuta und Melilla im ersten Halbjahr 2024 überquert. Im Gesamtjahr 2023 waren es rund 500 Personen. Der Grenzzaun um die Exklaven wurde in den 1990er Jahren fertiggestellt.
Von Fabio Ghelli, Martha Otwinowski und Fabian Sugar
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