MEDIENDIENST: Herr Trimikliniotis, Zyperns Präsident Nikos Christodoulidis und EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen reisen in den Libanon, um dort ein neues "Migrationsabkommen" abzuschließen. Wie kam es dazu?
Nicos Trimikliniotis: Der Besuch von Christodoulidis und von der Leyen in Beirut ist die Fortsetzung einer Strategie, die die Europäische Union mit Ländern auf der südlichen und südöstlichen Seite des Mittelmeers schon seit Jahren verfolgt: Finanzielle Unterstützung im Austausch für eine strengere Kontrolle der Routen, über die Geflüchtete nach Europa gelangen. Das haben wir 2016 mit der Türkei gesehen und im vergangenen Jahr mit Tunesien und Ägypten.
Welche Rolle spielt Zypern dabei?
In den vergangenen Jahren ist die Zahl der Geflüchteten, die Zypern erreichen, deutlich gestiegen. Einer der Gründe ist, dass die türkische und die griechische Küstenwache die Routen zu den griechischen Inseln streng überwachen – und oftmals Geflüchtete zurückschieben. Das hat dazu geführt, dass mehr Geflüchtete und Migrant*innen versuchen, nach Zypern zu kommen. Früher waren das Personen aus verschiedenen Ländern, etwa afrikanischen Staaten: Sie reisten zunächst in die in die Türkei und von dort erreichten sie den nördlichen Teil Zyperns, der von der türkischen Armee kontrolliert wird. Inzwischen kommen aber immer mehr Personen vom Libanon aus – überwiegend Kriegsflüchtlinge aus Syrien. Zypern ist nur 260 Kilometer von der libanesischen Küste entfernt.
Warum kommen erst jetzt so viele syrische Flüchtlinge aus dem Libanon nach Zypern?
Der Libanon ist in den vergangenen Jahren immer tiefer in eine schwere wirtschaftliche und politische Krise abgerutscht. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt unter der Armutsschwelle. Unter den Personen, die am stärksten von der Krise betroffen sind, sind etwa 1,5 Millionen Syrer*innen, die nach Ausbruch des Bürgerkriegs Zuflucht im Libanon gesucht haben. Der Libanon ist der Staat, der weltweit den höchsten Anteil von Flüchtlingen pro Einwohner hat: Mehr als ein Fünftel der Bevölkerung sind Schutzsuchende. Hinzu kam letztes Jahr der Krieg im Nahen Osten: Die Gefechte zwischen den Hisbollah-Milizen und dem israelischen Militär im Süden des Landes haben bereits mehrere zehntausend Personen in die Flucht getrieben.
Prof. Nicos Trimikliniotis ist Professor für Soziologie und Sozialwissenschaften an der "School of Humanities and Social Sciences" an der Universität Nikosia. Er leitet das Zypern-Team der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA). Seine Forschungsschwerpunkte sind Migration, Asylpolitik, EU-Freizügigkeit und Rassismus.
Könnte der Libanon also von einem Migrationsabkommen mit der EU profitieren?
Ich bezweifele das sehr. Anders als Tunesien oder Ägypten hat der Libanon keine funktionierende Regierung. Seit 2022 hat das Land aufgrund verschiedener politischer Konflikte keinen Präsidenten und nur einen stellvertretenden Regierungschef. Wer soll dann dafür sorgen, dass das Abkommen eingehalten wird? Einige politische Kräfte wie die Hisbollah würden außerdem jegliche Kooperationsversuche systematisch boykottieren.
Warum streben die EU und die zyprische Regierung also dieses Abkommen an?
Vermutlich hat das mit der bevorstehenden Europawahl zu tun. Präsident Christodoulidis fährt seit einigen Monaten einen immer härteren Kurs gegen Fluchtmigration. Im April dieses Jahres hat er angekündigt, dass Asylanträge von syrischen Schutzsuchenden nicht mehr bearbeitet werden sollen. Flüchtlinge sollen außerdem künftig in geschlossenen Einrichtungen festgehalten werden.
Darf er das?
Das ist mit dem geltenden EU-Asylrecht nicht vereinbar. Die Regierung beruft sich zwar dabei auf einen Artikel der EU-"Asylverfahrensrichtlinie", der den Mitgliedstaaten ermöglicht, die Bearbeitungszeit für Asylanträge auf neun Monate zu verlängern. Das gilt allerdings nur im Ausnahmefall, wenn "eine große Anzahl von Drittstaatsangehörigen gleichzeitig internationalen Schutz beantragt".
Wozu also die Ankündigung?
Solche Aussagen sind auch Teil der Abschreckungsstrategie der Regierung. Die Botschaft ist: Wir werden alles tun, um eure Asylanträge zu verzögern – und in der Zwischenzeit bleibt ihr in Haft. Also: Kommt erst gar nicht zu uns. Das ist aber nur ein Teil der neuen, strengeren Strategie gegen Fluchtmigration.
Was sind andere Maßnahmen?
In den vergangenen Monaten kam es wiederholt zu Zurückweisungen von Bootsflüchtlingen auf hoher See – sogenannten Pushbacks. Laut der Flüchtlingshilfsorganisation Alarmphone soll die zyprische Küstenwache dabei Geflüchtete mit Schusswaffen bedroht haben.
Haben diese Maßnahmen etwas bewirkt?
Wenn es darum ging, Geflüchtete abzuschrecken, gab es bislang so gut wie keine Wirkung: Die Zahl der Ankünfte ist bislang nicht zurückgegangen. Der bedeutendste Effekt dieser Politik ist, dass auf Zypern ein feindseliges Klima gegen Geflüchtete herrscht. Im vergangenen September gab es pogromartige Ausschreitungen, bei denen Rechtsextremisten Geschäfte von Migrant*innen zerstört und Personen, die sie als Migrant*innen wahrgenommen haben, angegriffen haben.
Interview: Fabio Ghelli
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