MEDIENDIENST Integration: Letzte Woche hat die Europäische Union angekündigt, die Zusammenarbeit mit der ägyptischen Regierung im Bereich Migration zu verstärken. Warum ist Ägypten so wichtig für die EU?
Parastou Hassouri: Die EU will Migration eindämmen. Ägypten ist daher in zweierlei Hinsicht wichtig für die EU. Erstens, weil viele Ägypter das Land verlassen wollen, und zwar sowohl wegen der politischen als vor allem auch wegen der schwierigen wirtschaftlichen Lage im Land. Zweitens ist Ägypten aufgrund seiner geografischen Lage ein wichtiges Transitland für Flüchtlinge und Migranten aus anderen Ländern, die möglicherweise auch weiter in Richtung EU wollen. Vor allem im vergangenen Jahr sind viele sudanesische Flüchtlinge nach Ägypten gekommen. Sie fliehen vor dem Krieg im Sudan, der im April 2023 ausgebrochenen ist.
Was ist der Inhalt des Abkommens? Und was bekommt die EU von Ägypten?
Ägypten soll für die EU Flüchtlinge und Migranten davon abhalten, irregulär Richtung Europa aufzubrechen. Diese Zusammenarbeit gibt es bereits seit geraumer Zeit – die Bootsabfahrten von der ägyptischen Küste sind auch deshalb seit dem Höhepunkt der sogenannten Migrationskrise 2015-2016 drastisch zurückgegangen.
Die jüngsten Zahlen zeigen, dass die Zahl der ägyptischen Asylbewerber in der EU steigt...
Ja, aber sie sind nicht unbedingt unmittelbar aus Ägypten aufgebrochen, die Grenzkontrollen sind hier eben strenger geworden. Viele Menschen reisen daher zunächst nach Libyen und gegebenenfalls von dort weiter nach Tunesien, bevor sie Richtung EU aufbrechen.
Was ist der Grund für die steigende Zahl ägyptischer Asylbewerber in Europa?
Die wirtschaftliche Lage hier ist sehr schwierig: die Inflation ist sehr hoch, die Preise stark angestiegen, es gibt eine hohe Arbeitslosenquote. Der ägyptische Pfund hat erheblich an Wert verloren. Das ist der Hauptgrund für die Migration. Einige Menschen verlassen das Land aus politischen Gründen, da das System hier im Allgemeinen autoritär ist.
Es gibt auch nicht-ägyptische Staatsangehörige, die in Ägypten leben und in andere Länder auswandern wollen...
In der Tat. Ägypten beherbergt eine große Zahl von Migranten und Flüchtlingen. Die größten Flüchtlingsgruppen hier sind Sudanesen, Syrer und Südsudanesen, gefolgt von Eritreern und Äthiopiern.
Wie viele Flüchtlinge und Migranten beherbergt Ägypten insgesamt?
Es ist schwer, genaue Zahlen zu nennen, da wir hier nicht in einem transparenten System leben und viele Menschen überhaupt nicht erfasst werden. Laut UNHCR gibt es derzeit 480.000 registrierte Flüchtlinge in Ägypten. Dies sind jedoch nur die, die sich an das UNHCR gewandt haben und den Flüchtlingsstatus erhalten haben. Die Menschen, denen der Flüchtlingsstatus verweigert wurde oder die einfach nicht vom UNHCR registriert wurden, sind nicht mitgezählt. Es sind also definitiv mehr als die 480.000 registrierten Flüchtlingen.
Parastou Hassouri arbeitet als unabhängige Forscherin und Beraterin zu Migrationsrecht und Migrationspolitik in Kairo. Sie unterrichtet an der American University of Cairo, u.a. zum internationalen Flüchtlingsrecht, palästinensischen Flüchtlingen und internationalem Recht. Als Beraterin hat sie sowohl mit Büros des UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge als auch mit Nichtregierungsorganisationen u.a. in Ägypten, der Türkei, Griechenland, Marokko und Jordanien zusammengearbeitet. Die in diesem Interview geäußerten Ansichten sind ihre persönlichen und spiegeln nicht die Ansichten oder Positionen von Institutionen wider, mit denen sie in Verbindung steht.
Es überrascht nicht, dass Sudanesen die größte Gruppe von Flüchtlingen in Ägypten sind. Seit Ausbruch des Krieges im Sudan im April letzten Jahres haben fast 6 Millionen Menschen ihre Heimat verlassen und leben dort als "Binnenflüchtlinge". 1,5 Millionen Flüchtlinge sind aus dem Land geflohen. Wie werden die Sudanesen in Ägypten aufgenommen?
Laut UNHCR sind seit Beginn des Krieges 400.000 sudanesische Flüchtlinge nach Ägypten gekommen, von denen 215.000 bereits offiziell beim UNHCR registriert sind. In Wirklichkeit sind es wahrscheinlich viel mehr. Vor allem, wenn man bedenkt, dass es hier in Ägypten eine große sudanesische Community gibt. Die Bedingungen für die sudanesischen Flüchtlinge hier sind schwierig, denn die Lage in Ägypten ist extrem schlecht: Es gibt keine Arbeitsplätze und es ist schwer, eine Unterkunft zu finden. In der gegenwärtigen Situation ist Ägypten einfach nicht in der Lage, die Aufnahme von so vielen Flüchtlingen zu bewältigen. Darüber hinaus gibt es in Ägypten leider auch viel antiafrikanischen Rassismus: Afrikanische Kinder werden in den Schulen schikaniert, Frauen werden sexuell belästigt, viele fühlen sich auf der Straße nicht sicher.
Denkt Ägypten denn darüber nach, die Flüchtlinge aus dem Sudan an der Grenze zurückzudrängen?
Ägypten hat noch nicht über Maßnahmen nachgedacht, wie man sie aus Ländern wie den USA hört. Also wie das Projekt der Mauer an der Grenze zu Mexiko des ehemaligen US-Präsidenten Trump, oder die Idee einer "Festung“ der EU. Ägypten und der Sudan blicken auf eine lange gemeinsame Geschichte zurück, zu der ein reger Personenverkehr zwischen den beiden Ländern und ein Vertrag mit der Bezeichnung "Vier-Freiheiten-Abkommen" gehören. Der räumt Ägyptern und Sudanesen gegenseitig Rechte auf Freizügigkeit, Aufenthalt, Arbeit und Eigentum ein – auch wenn der Vertrag noch nicht vollständig umgesetzt wurde. Die ägyptische Regierung nimmt gelegentlich Sudanesen und andere Migranten und Asylbewerber fest, die unerlaubt in das Land einreisen. Es kam jedoch nicht zu groß angelegten „Pushbacks“.
Was ist mit den Flüchtlingen aus Gaza, wie viele sind nach dem 7. Oktober nach Ägypten gekommen?
Auch hier liegen uns keine genauen Zahlen vor. Einige Palästinenser aus dem Gazastreifen wurden für eine medizinische Behandlung nach Ägypten rein gelassen. Außerdem gibt es vereinzelte Berichte darüber, dass einige Personen durch Zahlung von Bestechungsgeldern nach Ägypten gekommen sind. Es ist unmöglich, die genaue Zahl zu kennen, aber sie ist im Moment nicht sehr hoch.
Gibt es in Ägypten ein funktionierendes Asylsystem?
Nein, Ägypten hat keinen nationalen Rechtsrahmen für Asyl, obwohl es die Genfer Konvention unterzeichnet hat. Stattdessen werden alle Aufgaben an das UNHCR delegiert: Es registriert die Flüchtlinge, führt die Befragungen durch, um festzustellen, ob jemand ein Flüchtling ist, und händigt die Flüchtlingsdokumente aus. Obwohl diese Karte 18 Monate lang gültig ist, benötigen die Flüchtlinge zusätzlich einen Aufenthaltsstempel des ägyptischen Außenministeriums, um sich hier legal aufzuhalten. In der Praxis müssen sie also alle sechs Monate ihren Status erneuern.
Ihre Beschreibungen lassen erahnen, dass viele Ägypter und Nicht-Ägypter darüber nachdenken, das Land zu verlassen….
Auf jeden Fall. Die meisten Migranten und Flüchtlinge in Ägypten kommen hier nicht mit der Idee her, dass Ägypten finale Ziel ist. Sie hoffen, weiter zu kommen, sei es in die EU oder nach Nordamerika. Auch viele Ägypter denken über Migration nach. Daher ist es nur logisch, dass die EU eng mit Ägypten zusammenarbeiten möchte, um die Migration zu steuern und einzudämmen. Unter dem Gesichtspunkt der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte müssen sich die EU-Bürger jedoch wirklich fragen, zu welchem Preis sie bereit sind, Flüchtlinge an der Einreise in die EU zu hindern. Sind sie damit einverstanden, dass ihre Regierungen mit Regierungen zusammenarbeiten, von denen seit Jahren bekannt ist, dass sie eine schlechte Menschenrechtsbilanz haben? Man muss wirklich besorgt sein über jedwede Stärkung der ägyptischen Behörden, etwa über solche Abkommen.
Dann vielleicht nochmal: Wie genau profitiert Ägypten denn von der Zusammenarbeit mit der EU?
Diese Kooperationsabkommen zur Migrationssteuerung beinhalten unterschiedliche Formen der Unterstützung für die Zielländer. Darunter Projekte, die dazu beitragen sollen, die Qualifikationen und Berufsbildungsmöglichkeiten für die lokale Bevölkerung und für Migranten zu verbessern. Sie sehen aber auch Schulungen und Ausrüstung für die Grenzpolizei vor. Einige befürchten, dass die Ausrüstung, die eigentlich nur für die Grenzkontrolle gedacht ist, auch gegen die lokale Bevölkerung eingesetzt werden könnte, zum Beispiel mit Überwachungsgeräten oder Drohnen. Das ist besonders besorgniserregend, wenn es sich um Regierungen handelt, die eine schlechte Menschenrechtsbilanz aufweisen und in denen Menschen unter sehr schlechten Bedingungen inhaftiert sind.
Wird die Zusammenarbeit den gewünschten Effekt haben und Migration nach Europa stoppen?
In unserer Forschung haben wir das schon oft gesehen: Es mag kurzfristige Effekte geben, aber längerfristig entstehen neue Fluchtrouten, wenn eine Route blockiert wird. Für Ägypter – und noch mehr für Afrikaner aus Ländern südlich der Sahara – gibt es kaum legale Wege nach Europa. Sie erhalten kein Visum, denn in den meisten europäischen Ländern gehen die Behörden davon aus, dass sie das EU-Gebiet nicht wieder verlassen werden, wenn sie einmal eingereist sind. Der einzige Weg für fast alle, die das Land verlassen wollen, ist also die so genannte irreguläre Migration. Da die irreguläre Ausreise aus Ägypten heutzutage fast unmöglich ist, werden die Menschen auf die alternative Migrationsroute über Libyen gedrängt. In Anbetracht der schrecklichen Situation in Libyen ist es bitter, dass diese Kooperationsabkommen die Menschen auf noch gefährlichere Routen drängen.
Interview: Donata Hasselmann Grafiken: Fabio Ghelli
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