MEDIENDIENST: Herr Engler, deutsche Minister*innen reisen gerade um den Globus, um Fachkräfte anzuwerben. Seit einem Jahr gibt es einen Sonderbevollmächtigten für Migrationsabkommen. Es sollen mehr Menschen nach Deutschland kommen und mehr Menschen zurückgeführt werden. Wie neu ist das alles?
Marcus Engler: Migrationsabkommen sind nicht neu. Wir können drei Phasen unterscheiden: In den 1950er und 1960er Jahren gab es die klassischen Anwerbeabkommen, etwa mit Griechenland und der Türkei, da dringend Arbeitskräfte gebraucht wurden. Auch in diesen Abkommen wurde bereits festgehalten, dass die Staaten ihre Staatsbürger*innen wieder zurücknehmen sollen. Auch die DDR hat ähnliche Abkommen abgeschlossen. Seit den 1990er-Jahren wurden in der zweiten Phase rund 30 sogenannte Rücknahmeabkommen ratifiziert, knapp die Hälfte davon mit Staaten, die mittlerweile der EU angehören. Die dritte Phase sind die jetzigen Migrationsabkommen, wovon das erste mit Indien und das zweite mit Georgien abgeschlossen wurde.
Die neuen Abkommen enthalten auch Rücknahmeverpflichtungen. Was unterscheidet sie genau von den anderen Abkommen?
Die Sprache ist eine andere und Migration nimmt einen zentralen Platz ein. Denn die migrationspolitische Realität hat sich verändert: Es werden in den nächsten Jahren hunderttausende Fach- und Arbeitskräfte aus dem Ausland benötigt. Viele Jahre konnte der Bedarf mit Personen aus EU-Staaten abgedeckt werden, jetzt braucht es immer mehr Personen aus Drittstaaten und damit mehr legale Zugangswege für sie. Und Deutschland hat gelernt, dass es Ländern etwas anbieten muss, damit sie ihre Staatsangehörigen zurücknehmen, was ja ein zentrales Ziel der Abkommen bleibt. Die neuen Abkommen haben zudem das Ziel den Austausch im Bereich von Bildung und Forschung zu erleichtern.
Eine Übersicht aller Abkommen gibt es hier.
Zunächst zu den Arbeitskräften: Wie viel bringen Abkommen mit Kenia, Kolumbien oder Usbekistan?
Von der Zahl der Arbeitsmigrant*innen bei den meisten Ländern vermutlich nicht viel. Vielleicht addiert sich das, wenn es mehr Abkommen gibt. Usbekistan etwa ist sehr weit weg und es gibt bisher wenig Migration nach Deutschland – am Ende werden vielleicht ein paar hundert Menschen kommen. Auch in Georgien und Moldau ist im Vergleich zum Arbeitskräftebedarf, den Deutschland hat, nicht allzu viel zu holen, es sind relativ kleine Länder, die schon mit Abwanderung zu kämpfen haben und die ihre Arbeitskräfte selbst brauchen. Das erste Migrationsabkommen wurde Ende 2022 mit Indien geschlossen. Hier gibt es aufgrund der Größe und der Struktur der Bevölkerung durchaus Potential. Die Migration aus Indien hat allerdings schon davor deutlich zugenommen, das hat bisher nicht viel mit dem Abkommen zu tun.
Warum meinen sie, dass viele der Abkommen keine große Wirkung haben werden?
Ein Abkommen ist immer nur ein erster Schritt. Wir haben in der Vergangenheit gesehen, dass Rückführungsabkommen oft nicht die erwünschte Wirkung entfaltet haben, vor allem weil sie nicht im Interesse der Herkunftsstaaten und der Migrant*innen waren. Es kommt also darauf an, wie Zusagen umgesetzt werden. Von Bedeutung ist, wie viele Ressourcen eingesetzt werden. Zum Beispiel um Visa-Anträge schneller zu bearbeiten oder gute Beratungen und Informationsangebote bereitzustellen. Die Abkommen sollten auch nicht isoliert von anderen Vorhaben betrachtet werden.
Zum Beispiel?
Mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz wurden die Barrieren beim Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt gerade deutlich gesenkt. Dadurch wird es auch ohne Migrationsabkommen leichter, nach Deutschland zu kommen. Aber auch hier wird der Effekt stark davon abhängen, wie die Verwaltung die neuen Regelungen umsetzen kann. Aktuell sind die Ausländerbehörden vollkommen überlastet und auch die Erteilung von Visa dauert oft sehr lange. In der jüngeren Vergangenheit hatte die Westbalkanregelung zahlenmäßig den größten Effekt – die funktionierte ohne Abkommen. Das war damals ein sehr radikaler Ansatz für Deutschland: ohne Prüfung von Qualifikationen konnten Personen zum Arbeiten nach Deutschland kommen.
Dr. Marcus Engler ist Sozialwissenschaftler und forscht am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM). Seine Schwerpunkte sind Migrationsbewegungen sowie deutsche und europäische Flüchtlings- und Migrationspolitik. (Foto: Mehdi Bahmed)
Lohnt sich dann der ganze Aufwand mit den Abkommen?
Es kann nicht schaden. Es macht Sinn, dass Deutschland angesichts des Fach- und Arbeitskräftemangels auf andere Staaten zugeht und dort bekannt wird, dass hier viele Unternehmen oder die öffentlichen Verwaltungen Mitarbeiter suchen. Aber ein großer Teil ist Symbolpolitik. Die Regierung versucht den Anschein zu erwecken, Migration sehr viel stärker steuern zu können, also sich um das Fachkräfteproblem zu kümmern und gleichzeitig irreguläre Migration zu reduzieren. Dabei werden auch einige Behauptungen getroffen, die an der Realität vorbeigehen.
Welche wären das?
Migration ist sehr schwer zu steuern. Daran ändern auch Migrationsabkommen nur begrenzt etwas. So spielen etwa Communities eine maßgebliche Rolle, also ob die Personen Kontakte in das Land haben und somit die Möglichkeit, dort Anschluss zu finden. Entscheidend ist zudem die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Auch die Willkommenskultur ist wichtig, ob sich Menschen hier wohl fühlen und hier arbeiten und leben möchten. Die Sprache ist wichtig und auch die geografische Nähe – da ist Deutschland nicht immer attraktiv.
Ein Schwerpunkt der Abkommen ist ja, irreguläre Migration zu verhindern, die Zahl der Abschiebungen soll gefördert werden. Wie schätzen Sie das ein?
Viel davon ist nur politische Kommunikation: Abschiebungen lassen sich nicht einfach deutlich erhöhen. Bei vielen Staaten, mit denen Deutschland Migrationsabkommen schließen will, sind ohnehin nur wenige Staatsangehörige hierzulande ausreisepflichtig. Und viele Länder haben weiterhin kein großes Interesse daran, ausreisepflichtige Staatsbürger*innen zurückzunehmen. Eine Idee hinter den neuen Abkommen ist es, sich Kooperation bei Rückführungen zu erkaufen, etwa durch die Öffnung legaler Migrationswege in den Arbeitsmarkt. Auch andere Unterstützungsleistungen, etwa bei der der Förderung von Ausbildungen oder Entwicklungshilfe können eine Rolle spielen.
Abkommen wurden nun geschlossen mit Indien und Georgien, mit Marokko und Kolumbien erste Vereinbarungen getroffen. Es gibt Verhandlungen unter anderem mit Kenia und Usbekistan. Wie werden die Staaten denn ausgewählt?
Bei Georgien und Moldau ist die Hauptmotivation, dass die Zahl der Asylanträge zurückgehen soll. Mit den wichtigen Asylherkunftsstaaten wie Syrien oder Afghanistan ist ein Abkommen politisch nicht denkbar. Bei Ländern wie Indien, Usbekistan oder Kolumbien steht die Migration von Fachkräften im Vordergrund.
Deutschland führt mit vielen Ländern Gespräche, aber für ein Abkommen muss einiges zusammenkommen. Beide Seiten müssen Interesse an der Zusammenarbeit haben. Viele Staaten leiden bereits unter einem erheblichen Brain Drain und wollen keine weiteren Arbeitskräfte verlieren. Zudem gibt es einen zunehmenden internationalen Wettbewerb um Arbeitskräfte – Deutschland steht hier in harter Konkurrenz zu anderen Industriestaaten. Überlegungen zur Migrationskontrolle oder gar zur Durchführung von Asylverfahren werden auch eine wichtige Rolle spielen – etwa bei den Verhandlungen mit Marokko, das auf einer wichtigen Migrationsroute liegt. Tunesien war auch im Gespräch, ist wegen der autokratischen Entwicklungen aber erstmal vom Tisch.
Einige Abkommen zur Migrationskontrolle wurden auf EU-Ebene abgeschlossen, so mit Tunesien oder Ägypten. Inwiefern arbeitet Deutschland bei den Migrationsabkommen mit anderen EU-Staaten zusammen?
Es gibt Absprachen und gemeinsame Initiativen, aber wenn es um Fachkräfte geht, stehen die Staaten ja in Konkurrenz zueinander. Auch andere EU-Staaten sind sehr aktiv dabei, Migrationsabkommen abzuschließen. Und selbst innerhalb Deutschlands gibt es einen zunehmenden Wettbewerb um Fachkräfte: Einzelne Bundesländer haben eigene Fachkräftestrategien – so etwa Sachsen oder Thüringen – und werben Personen im Ausland an. Und auch Unternehmen sind permanent unterwegs, um Personen im Ausland anzuwerben.
Interview: Andrea Pürckhauer
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