Zwischen Januar und Juli 2023 haben 78 Prozent mehr Menschen einen Asylantrag in Deutschland gestellt als im Vorjahreszeitraum. Die meisten sind irregulär eingereist: Die Bundespolizei zählte zwischen Januar und Juli 2023 rund 56.000 "unerlaubte Einreisen". Besonders an der deutsch-polnischen Grenze hat die Bundespolizei einen starken Anstieg festgestellt: Rund 14.800 Geflüchtete und Migrant*innen wurden dort zwischen Januar und Juli 2023 festgestellt. Das sind 2,5 Mal so viele unerlaubte Grenzübertritte wie im gleichen Zeitraum von 2022.
Etwa zwei Drittel der Personen, die über Polen nach Deutschland einreisten, sollen zuvor über Belarus in die Europäische Union eingereist sein. Die meisten von ihnen kommen aus den Top-3 Herkunftsländern Herkunftsländern von Asylbewerber*innen in Deutschland: Syrien, Türkei und Afghanistan. Weitere Geflüchtete würden Polen über die sogenannte Balkan-Route und die Slowakei oder per Luftweg erreichen, wie die polnische Grenzpolizei kürzlich bekanntgab.
Erinnerungen an 2021 – aber kein Vergleich
Eine starke Zunahme der Flüchtlingszahlen an der belarusisch-polnischen und belarusisch-litauischen Grenze hatte es zuletzt im Sommer 2021 gegeben. Die belarusische Regierung hatte damals die Einreisebedingungen für Personen aus mehreren Ländern (vor allem des Nahen Osten) deutlich erleichtert, denen anschließend die Weiterreise in die EU in Aussicht gestellt wurde. Die Regierung wollte mit dieser Instrumentalisierung von Migranten offenbar das Ende der EU-Sanktionen bewirken.
Die polnische und die litauische Regierung verschärften daraufhin ihre Grenzkontrollen zu Belarus. Grenzbeamte in Litauen und Polen führten Pushbacks durch und bauten Grenzzäune an den Grenzen zu Belarus. In Polen umfasst der Grenzzaun 186 Kilometer, in Litauen mehr als 500 Kilometer. Die Migrant*innen und Geflüchteten werden bis heute vom Grenzschutz in Polen und Litauen an der Einreise in die EU und gleichzeitig von den belarusischen Einheiten an der Rückkehr nach Belarus gehindert. Dadurch sind sie oftmals in einem "Niemandsland" zwischen den Grenzen gefangen. Laut Angaben der polnischen Hilfsorganisation "Grupa Granica" sind dort seit 2021 mindestens 49 Personen gestorben.
Wie viele Personen befinden sich auf der Route Belarus-Polen?
Es ist sehr schwer zu sagen, wie viele Menschen tatsächlich derzeit über Belarus nach Polen (und schließlich nach Deutschland) einreisen. Die polnische Grenzpolizei meldete zwischen Januar und Juli rund 20.700 Versuche, die Grenze unerlaubt zu überqueren (Stand: Ende August 2023). Im Gesamtjahr 2022 waren es 15.700. Viele Personen werden unmittelbar nach der Einreise nach Belarus zurückgewiesen, berichtet die polnische NGO Fundacja Ocalenie dem MEDIENDIENST.
Die Angaben lassen jedoch nur bedingt einen Rückschluss auf die Zahl der Migrant*innen zu, die über Belarus kommen. Viele Menschen versuchen mehrere Male an unterschiedlicher Stelle, die Grenzmauer zu überwinden und werden dadurch mehrfach gezählt. Einen Asylantrag in Polen stellen nur die wenigsten: Zwischen Januar und Juli wurden in Polen insgesamt etwas mehr als 5.000 Asylanträge gestellt.
"Grupa Granica" verzeichnete 2023 eine Zunahme der Hilfsgesuche von Migrant*innen, die auf der polnischen Seite der Grenze in Not gerieten. Dieses Jahr zählte sie 5.900 Kontaktaufnahmen – fast so viele, wie im gesamten 2022. Der Anstieg könnte allerdings auch daran liegen, dass die Hilfsorganisation mittlerweile bekannter sei, so die Sprecherin gegenüber dem MEDIENDIENST.
Eine Langzeitbetrachtung der versuchten Grenzübertritte von Belarus nach Polen und Litauen zeigt, dass die hohen Zahlen aus 2021 derzeit nicht erreicht werden. Während es etwa im November 2021 noch 8.917 versuchte Grenzübertritte von Belarus nach Polen gab, waren es im Juli 2023 lediglich 3.986.
Wie viele Personen befinden sich in Belarus?
Es gibt nur wenige Informationen darüber, wie viele Geflüchtete und Migrant*innen derzeit in Belarus sind. Laut einer Recherche des "Balkan Investigativ Reports Network" befinden sich sich mehrere hundert Menschen aus dem Nahen Osten, Subsahara-Afrika und Südasien in der belarusischen Hauptstadt Minsk, die in die EU einreisen wollen. Die meisten von ihnen würden nur kurz in Belarus bleiben wollen.
Viele von ihnen sind vermutlich aus Russland nach Belarus eingereist: Denn die Mehrheit der Personen, die in den vergangenen Monaten an der Grenze zwischen Belarus und Polen aufgegriffen wurden, hatten laut der Sprecherin des polnischen Grenzschutzes russische Visa in ihren Dokumenten. Letztes Jahr wurde bekannt, dass Anbieter in sozialen Netzwerken Visa zum vermeintlichen Studium oder zur medizinischen Behandlungen in Russland anbieten. Diese würden etwa von Personen aus dem Irak in Anspruch genommen werden. Aber es gibt auch Drittstaatsangehörige aus Afrika und dem Nahen Osten, die schon länger in Russland leben und das Land nun wegen der schlechten Wirtschaftslage oder des zunehmenden Rassismus verlassen wollen, sagt Kornelia Trytko von Fundacja Ocalenie gegenüber dem MEDIENDIENST.
Laut dem "Balkan Investigative Reports Network" und dem unabhängigen belarusischen Exil-Recherchedienst "Belarusian Investigative Centre" (BIC) ist rund um die "Belarus-Route" ein größeres Schleuser-Netzwerk entstanden. Es gäbe viele Anbieter, die den Transport für Wegabschnitte zwischen Moskau und Minsk oder zwischen Polen und Deutschland anbieten. Auch etwa russische Taxiunternehmen hätten sich auf diese Tätigkeit spezialisiert. Die Einreise in die EU kann bis zu 10.000 US-Dollar pro Person kosten. Trotz der Länge und der Kosten wählen viele Menschen diese Route: "Die Gründe dafür sind vielfältig. Von Migrant*innen und Geflüchteten hören wir, dass die Route verhältnismäßig sicher ist – vor allem im Vergleich zum tödlichen Mittelmeer", sagt Kornelia Trytko von Fundacja Ocalenie gegenüber dem MEDIENDIENST.
Von Martha Otwinowski
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