Welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten gibt es in der Medienberichterstattung über Flucht in Europa? Hat sich die europäische Willkommenskultur für ukrainische Flüchtlinge auf Schutzsuchende anderer Herkunftsregionen übertragen? Weshalb halten sich Erzählmuster über Flüchtlinge oft so hartnäckig und wie schafft man es, neue Migrations-Geschichten zu erzählen?
Zu diesen und weiteren Fragen organisierte der MEDIENDIENST INTEGRATION die zweitägige Konferenz: 'Communicating Migration Challenges 2022: Prepare, Expect, Act'. Online und in Berlin nahmen rund 50 Personen aus verschiedenen Ländern teil: aus Polen, Griechenland, der Slowakei, Frankreich, Tschechien, Bosnien und Herzegowina und Armenien. Vertreter*innen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) und der OEZD waren ebenso an dem interdisziplinären Austausch beteiligt wie Kommunikationsforscher*innen, Stiftungsvertreter*innen und Mitarbeitende humanitärer Hilfsorganisationen, beispielsweise der Caritas.
Trotz Willkommenskultur für Ukrainer*innen: Kein Paradigmenwechsel
Seit Russlands Angriff auf die Ukraine nehmen vor allem Länder in Zentral- und Osteuropa viele Geflüchtete auf. Gab es einen Sinneswandel in Ländern wie Polen und Ungarn, die sich seit 2015 gegen die Aufnahme von Flüchtlingen sperrten? Zwei der größten Hilfsorganisationen beider Länder, Ocalenie Foundation und Hungarian Helsinki Foundation, berichteten auf der Konferenz.
Kalina Czwarnóg, Vorständin und Leiterin für Kommunikation der Ocalenie Foundation, kritisierte Polens "schizophrenen Umgang" mit Geflüchteten: Ukrainer*innen an der polnischen Südostgrenze heiße man mit offenen Armen willkommen, während Menschen an der östlichen Grenze zu Belarus gewaltvoll zurückgewiesen würden. "Wenn wir als Hilfsorganisation auf die humanitäre Notlage an der belarusischen Grenze hinweisen, wirft uns die polnische Regierung vor, gegen die Landesinteressen zu sein und fragt, weshalb wir nicht lieber über die polnische Hilfsbereitschaft für Ukrainer*innen sprechen. Allein bloße Tatsachen zu benennen, macht uns also zu Verräter*innen," so Kalina Czwarnóg.
Keine Kehrtwende der Flüchtlingspolitik in Ungarn
Auch das Hungarian Helsinki Committee (HHC) in Budapest sieht sich einem Staat gegenüber, der Hilfsorganisationen für Flüchtlinge im Namen der Landesinteressen die Arbeit erschwert. Beispielsweise erließ die ungarische Regierung im Jahr 2018 ein Gesetz, das gemeinnützigen Organisationen verbietet, Info-Materialien zu Flucht und Migration zu veröffentlichen, so Anikó Bakonyi. Sie ist Leiterin des Flüchtlingsprogramms des HHC. "Parallel dazu schaffte Ungarn sein nationales Asyl- und Flüchtlings-Aufnahmesystem quasi vollständig ab", sagt sie. Für Ukrainer*innen seien zwar die Grenzmauern geöffnet und sogar unmittelbar nach Kriegsbeginn ein Aufnahmeprogramm aktiviert worden. Dies sei aber keine Kehrtwende für die ungarischen Flüchtlingspolitik. Ohnehin nutzten viele Flüchtlinge aus der Ukraine das Land eher zur Durchreise in andere europäische Länder; dies belegen auch Zahlen im europaweiten Vergleich.Quelle
Der Mythos der Kontrolle über Staatsgrenzen
Für Asyl- und Flüchtlingspolitik spielen oft Narrative über kollektive Selbst- und Fremdwahrnehmung eine Rolle, die eine lange Vorgeschichte haben. Dies könne man beispielhaft an dem umstrittenen Abschiebe-Abkommen beobachten, mit dem Großbritannien abgelehnte Asylbewerber*innen nach Ruanda "auslagern" will, so Rob McNeil vom Oxford Migration Observatory. Hier schwinge der alte Mythos der vermeintlich unbezwingbaren Klippen von Dover mit. "Migration ist jedoch so alt und komplex wie die Menschheitsgeschichte. Die Annahme, dass man jemals vollständige Kontrolle über ein Gebiet hatte oder diese erreichen kann, ist unrealistisch." Initiativen, die auf derart fest verankerte Bilder Einfluss nehmen wollen, müssten sich auf einen langen Weg einstellen, so McNeil.
Auch in Zentral- und Osteuropa spielen verankerte Bilder kollektiver Identität eine Rolle in Debatten über die Aufnahme Geflüchteter aus der Ukraine. Kristina Chmelar vom Mercator Forum Migration und Demokratie (MIDEM) untersuchte parteipolitische Positionen zu Geflüchteten-Aufnahme in Tschechien und der Slowakei. Das Ergebnis: Für die christlich geprägte Slowakei galt die Tatsache, dass Ukrainer*innen Christen seien als ein Hauptargument für deren Aufnahme. Im eher atheistischen Tschechien hingegen habe Religion kaum eine Rolle gespielt. In der Slowakei rührte das Selbstverständnis als christliches Land vor allem daher, so Peter Ivanič vom slowakischen Arm der internationalen Hilfsorganisation People in Need, dass die Region jahrhundertelang unmittelbar an das osmanische Reich angrenzte.
Datenbanken als Goldgrube für neue Migrations-Geschichten
Wie also kann es gelingen, eingefahrene Erzählmuster zu durchbrechen und neue Geschichten über Migration zu erzählen, die zu einer informierten, öffentlichen Debatte beitragen? José Bautista vom gemeinnützigen Medienprojekt porCausa empfiehlt, open-source Datenbanken mit kreativen Fragen im Hinterkopf zu durchforsten. So gelang es porCausa, zum einen die "Gewinner" des EU-Grenzregimes zu entlarven - etwa spanische Konzerne, die an Abschiebungen verdienen. Zum anderen fand die Organisation heraus, dass ehemals "schrumpfende" spanische Dörfer von Migrant*innen neu belebt werden. Durch deren Zuzug konnte lokale Infrastruktur wie etwa Schulen erhalten bleiben. Das seien Geschichten, mit denen man auch bei konservativen Leser*innen landen könne, so Bautista.
Migration Media Europe Netzwerk
Der MEDIENDIENST INTEGRATION realisierte die Konferenz in Kooperation mit der Allianz Foundation. Die Veranstaltung fand im Rahmen des Projekts Migration Media Europe Netzwerk (MME) statt. Die Initiative verbindet rund 80 Personen aus über 30 Organisationen in 20 Ländern Europas, die an der Schnittstelle von Medien und Migration arbeiten. Das Netzwerk dient dem Austausch über Themen und Formate für eine informierte, rechtsbasierte öffentliche Debatte zu Migration und Flucht. Seit seiner Entstehung war das MME direkt sowie indirekt an verschiedenen Kooperationen beteiligt. An der Konferenz im Herbst 2022 war beispielsweise der Netzwerkpartner People in Need Slovakia beteiligt.
Martha Otwinowski
Sie sind Journalist*in und haben weitere Fragen oder suchen Fachleute zum Thema? Dann können Sie uns gern kontaktieren. Wir helfen schnell und unkompliziert. Unsere Texte und Grafiken können kostenfrei unter den Regeln der Creative Commons und unserer Namensnennung verwendet werden. Dies gilt nicht für Bilder und Fotos, die wir von Dritten erworben haben.