In der ZDF-Sendung "Wie geht's, Deutschland?" grenzte sich der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) von seinen Konkurrenten von Grünen, Linken, FDP und CDU ab, als er Deutschland als Einziger nicht als Einwanderungsland bezeichnen wollte. Einwanderung sei kein Staatsziel, erklärte er am 4. September in der Sendung. Die Bundesrepublik sei lediglich ein "Zuwanderungsland". Das sehen nicht nur seine Politiker-Kollegen anders. Experten weisen immer wieder darauf hin, die Politik müsse Einwanderung stärker fördern.
Mehr Einwanderung für Deutschland – das verlangte zuletzt das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung. Bessere Regelungen angemahnt hatten in diesem Jahr außerdem der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) in seinem Jahresgutachten und die Bertelsmann Stiftung in ihrem Diskussionspapier zur "Schwarz-Rot-Gold"-Karte. Auch die OECD hatte Verbesserungsvorschläge gemacht, um mehr Menschen außerhalb der Europäischen Union für Deutschland zu gewinnen.
Das Berlin-Institut steckt in seiner im August präsentierten Demografie-Strategie "Anleitung zum Wenigersein" vier Kernbereiche ab, für die es Handlungsempfehlungen gibt:
- Förderung der Familien,
- Gewinnung von Fachkräften,
- Absicherung der Sozialsysteme
- und Bewältigung des Bevölkerungsrückgangs auf dem Land.
Die Forderung nach mehr Einwanderung steht in der Studie im Zusammenhang mit dem Thema Fachkräfte-Gewinnung. Die Autoren beschreiben ein bedrohliches Ausgangsszenario: Aufgrund der demografischen Entwicklung schrumpft die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (20 bis 64 Jahre). Das Erwerbspotenzial könnte laut Angaben des Insituts von heute 50,1 Millionen auf 38,7 Millionen im Jahr 2050 zurückgehen. Das sind rund 12 Millionen weniger Erwerbstätige. Geht man von einer Rente ab 67 Jahre aus, sind es noch rund 10 Millionen.
Dabei gehe es nicht um punktuell auftretende oder vorübergehende Lücken, sondern um "einen sich deutlich ausweitenden Arbeitskräftemangel und einen entsprechenden Einwanderungsbedarf". Wie viele Menschen in den nächsten Jahrzehnten dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, werde maßgeblich von der Entwicklung der Erwerbsquoten und der Einwanderung – den möglichen Wanderungsgewinnen – abhängen. Die Demografiker veranschaulichen das in einer Grafik zum Arbeitskräftepotenzial:
Szenarien zur Entwicklung der Zahl der Erwerbssfähigen
Die Zahl der Erwerbsperstätigen schwindet und die Bevölkerung altert. Um dem entgegenzusteuern, empfiehlt das Berlin-Institut zwei gleichrangige Lösungen:
- Menschen, die bisher weder arbeiten noch auf der Suche nach Arbeit sind, müssten für den Arbeitsmarkt gewonnen werden, etwa durch die Förderung bislang benachteiligter Gruppen wie Frauen und Ältere.
- Gleichzeitig müsste mehr Einwanderung und der Abbau von Arbeitslosigkeit angestrebt werden.
Dazu heißt es in dem Papier:
"Die Bundesregierung hat sich mit dem Konzept Fachkräftesicherung und ihrer Demografiestrategie dazu bekannt, in beiden genannten Bereichen tätig zu werden. Problematisch ist allerdings, dass sie Einwanderung und Erwerbsförderung nicht als gleichrangige Ziele ansieht." So stehe im Fachkräftekonzept, dass „die Nutzung und Förderung inländischer Potenziale Vorrang hat in der Fachkräftesicherung“. In der Realität bedeute das: Zuerst die Arbeitslosen mit Jobs zu versorgen und dann Arbeitskräfte aus dem Ausland anzuwerben. Damit ist den Unternehmen jedoch wenig gedient: "Denn die Arbeitslosen sind überwiegend gering oder gar nicht qualifiziert, während für die meisten offenen Stellen Fachkräfte oder Hochqualifizierte benötigt werden." Dieses zwiespältige Verhältnis der Regierung zu mehr Einwanderung torpediert vor allem die immer wieder angemahnte Willkommenskultur. Sie wäre zwingend notwendig, um Deutschland international als Einwanderungsland bekannt zu machen. Denn immer mehr Industrienationen kämpfen mit ähnlichen demografischen Problemen und werden zu Wettbewerbern um die begehrten wanderungswilligen Fachkräfte."
Das Berlin-Institut argumentiert mit arbeitsmarktpolitischen Vorteilen: So besetzten Einwanderer häufig Stellen, für die es andernfalls keine oder keine geeigneten Kandidaten gäbe. Zudem gelte: "Gerade qualifizierte Einwanderer schaffen auch für Einheimische neue Arbeitsplätze." Zum Thema Einwanderungspolitik werden folgende konkrete Ansatzpunkte genannt:
Punktesystem für Drittstaatsangehörige
Maßnahmen um qualifizierte Fachkräfte aus Nicht-EU-Staaten (sogenannte Drittstaatsangehörige) anzuwerben, sollten verstärkt werden. Um Einwanderung zum Regelfall zu machen, sollte diese weiter erleichtert werden. Dazu sollte eine grundlegende Reform durchgeführt werden, die mit einem flexiblen Punktesystem zur Auswahl der Einwanderer verbunden sei. Ein Punktesystem hatte jüngst auch die Bertelsmann Stiftung in ihrem Diskussionspapier gefordert. Zur Rekrutierung der Einwanderer könnten laut dem Berlin-Institut zudem "gezielte Partnerschaften mit einzelnen Herkunftsländern beitragen".
Werbung für Deutschland
Deutschland befindet sich laut dem Berlin-Institut bei vielen potenziellen Migranten noch nicht auf dem „Wanderungsradar“. Die Bundesregierung habe zwar begonnen, über ein Internetportal für Deutschland zu werben. Diese Bemühungen sollten aber deutlich ausgeweitet werden und auch direkt vor Ort stattfinden, etwa über ausländische Universitäten, Botschaften oder Außenwirtschaftskammern. Eine zentrale Job-Datenbank könnte gerade kleinen und mittelständischen Unternehmen helfen.
Anerkennung von Abschlüssen
Die Anerkennung ausländischer Abschlüsse sollte verbessert werden: Nachholbedarf gebe es hier bei den auf Bundesländerebene reglementierten Berufen, etwa Lehrer oder Ingenieur, sowie den nicht reglementierten Berufen, da beide nicht unter das sogenannte Anerkennungsgesetz fallen. Seien die Einwanderer einmal im Land, müssten sie die Möglichkeit haben, ihre Qualifikationen an die hiesigen Standards anzupassen.
Einwanderung aus der EU
Die Einwanderung aus den EU-Staaten sollte unterstützt werden – etwa durch Ausbildungsabkommen und ein flexibel anpassbares Angebot an Deutschkursen im Ausland.
Von Hans-Hermann Kotte
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