Wie ungleich die Chancen auf Integration in Deutschland sind, lässt sich am Beispiel von afghanischen Flüchtlingen besonders anschaulich darstellen. Laut Angaben des UN-Flüchtlingswerks UNHCR stellen Afghanen derzeit etwa ein Viertel aller Geflüchteten, die über den Seeweg nach Europa kommen. Aufgrund der prekären Sicherheitslage in Afghanistan ist ihre Zahl im letzten Jahr deutlich gestiegen: 2015 hatten laut EU-Angaben mehr als 180.000 Afghanen einen Asylantrag in der Europäischen Union gestellt, 32.000 davon in Deutschland, wie das zuständige Bundesamt mitteilte. Unabhängig von ihrer individuellen Geschichte wird ihr Fluchtgrund derzeit pauschal in Frage gestellt.
Nachteile erleben Afghanen deshalb bereits nach Betreten der EU: Seit Kurzem ist die Grenze zwischen Griechenland und Mazedonien abgeriegelt. Die mazedonische Grenzpolizei verbietet Afghanen (und vielen anderen) die Einreise und lässt nur noch vereinzelt Syrer und Iraker passieren.
Sollten einige Afghanen dennoch bis Deutschland gelangen, könnten sie zwar einen Asylantrag stellen, würden aber auch hier schlechter behandelt. Die Statistik zeigt: Sie müssten deutlich länger auf eine Entscheidung warten als Syrer und Iraker, deren Asylanträge im Eilverfahren binnen einiger Wochen abgearbeitet werden. Afghanen warten im Durchschnitt 14 Monate, bis über ihren Asylantrag entschieden wurde. Die meisten von ihnen bleiben hier während ihrer langen Wartefrist von Integrationskursen ausgeschlossen.
Der Grund für diese Benachteiligung: Integrationskurse erhalten nur Asylbewerber mit einer sicheren Bleibeperspektive. "Sicher" ist eine Bleibeperspektive laut Bundesinnenministerium (BMI) aber erst ab einer Schutzquote von mindestens 50 Prozent. Bei Afghanen liegt die Schutzquote knapp darunter: Im vergangenen Jahr waren es laut Asylstatistik 47,6 Prozent, die mit ihrem Asylantrag Erfolg hatten. Menschenrechtsorganisationen merken an, dass die Schutzquote bei Afghanen eigentlich deutlich höher liegt (bei 74 Prozent), wenn man die Kriterien für die Zählweise ändert (siehe "bereinigte Schutzquote").
Frühere Integration, aber nicht für alle
Vieles spricht dafür, Flüchtlinge früher zu integrieren. Auch Experten fordern das seit Monaten. In der Praxis führt das aber zu einem Dilemma: Einerseits ist das kostspielig, andererseits weiß man noch nicht, wer bleibt. Also soll eine Art "Vorauswahl" getroffen werden – noch bevor über den Asylantrag entschieden wurde. Behörden wählen deshalb Asylsuchende nach Herkunftsland oder "Bleibeperspektive" aus und behandeln einige Flüchtlingsgruppen bevorzugt.
Seit den Reformen im Oktober 2015 dürfen Asylsuchende schon während ihres Asylverfahrens einen Integrationskurs besuchen, allerdings nur diejenigen, die eine "gute Bleibeperspektive" in Deutschland haben. In diesem Jahr sind das laut BAMF-Angaben Asylsuchende aus Syrien, Irak, Iran und Eritrea.
Syrer haben zum Beispiel bei Asylanträgen eine Erfolgsquote von 96 Prozent. Sie sollen nicht monatelang auf einen Sprachkurs warten müssen. Asylbewerber aus dem Kosovo hingegen haben fast gar keine Chance in Deutschland zu bleiben. Sie werden in besonderen Aufnahmeeinrichtungen untergebracht und erhalten keine Kursangebote.
Doch was ist mit den Menschen, die weder eine eindeutig gute noch eine eindeutig schlechte Bleibeperspektive haben? Bei ihnen kann man kaum sicher sagen, ob sie bleiben werden. Die größte Gruppe, die das betrifft sind die Menschen aus Afghanistan. Ähnlich geht es aber auch den Asylsuchenden aus Pakistan oder Somalia. Und für sie wird das immer mehr zu einem Nachteil.
Für Asylsuchende mit "guter Bleibeperspektive" gibt es inzwischen immer mehr Integrationsangebote: Sie können schon kurz nach ihrer Ankunft Hilfe vom Jobcenter bei der Arbeitssuche bekommen, wie aus einer aktuellen Landtags-Anfrage hervorgeht. Außerdem sollen 10.000 von ihnen einen Ausbildungsplatz im Handwerk bekommen. Das hat das Bundesbildungsministerium vor Kurzem in einer Pressemitteilung angekündigt.
Kürzere Asylverfahren für bestimmte Länder
Beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) haben sich inzwischen laut eigenen Angaben knapp 400.000 unbearbeitete Asylanträge angehäuft – und viele Flüchtlinge haben noch gar keinen Antrag gestellt. Um diesen Bearbeitungsstau abzubauen, werden seit Mitte letzten Jahres einige Herkunftsländer bevorzugt, Asylanträge von Menschen aus diesen Ländern werden "priorisiert" bearbeitet. Sie werden vorgezogen, weil man annimmt, dass in ihrem Fall schneller entschieden werden kann. Bei einigen Herkunftsländer funktioniert das auch: Die Verfahren von Syrern haben sich durchschnittlich auf drei Monate verkürzt, bei Irakern auf rund sieben Monate.Quelle
Benachteiligt werden vom neuen Verfahren allerdings Asylsuchende, die nicht aus "priorisierten" Ländern kommen: Für Iraner haben sich die Asylverfahren auf 17 Monate verlängert. Und auch Afghanen gelten immer häufiger in der Asylstatistik als "Altfälle". Das heißt, sie warten seit über einem Jahr auf eine Asylentscheidung, manche mehrere Jahre. Betroffen sind davon inzwischen etwa 10.000 Antragssteller aus Afghanistan, bei den Syrern sind es hingegen knapp 1.400.Quelle
Ausgerechnet die Menschen, die sehr lange auf eine Asylentscheidung warten müssen, bekommen in Deutschland also keine Sprachkurse und kaum Arbeitsangebote. Das kritisiert auch die Arbeitsmarkt-Sprecherin der Grünen-Fraktion im Bundestag, Brigitte Pothmer: „Je schneller Flüchtlinge damit beginnen können, Deutsch zu lernen, desto besser sind ihre Chancen auf eine erfolgreiche Integration in Gesellschaft und Arbeitsmarkt.“
Ungleichbehandlung kann zu Konflikten führen
Wenn einzelne Gruppen von Asylsuchenden bevorzugt werden, kann das Spannungen im alltäglichen Zusammenleben erzeugen: „Das führt zu Konflikten in Flüchtlingsunterkünften“, sagt Bernward Ostrop, Anwalt für Asylrecht in Berlin, „weil sie merken, dass hier manche Gruppen viel schneller einen Sprachkurs bekommen und andere lange warten müssen“. Asylsuchende unterschiedlich zu behandeln, sei auch rechtlich problematisch, sagt die Rechtswissenschaftlerin Astrid Wallrabenstein. Das könne mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung im Grundgesetz kollidieren, gab sie in einem Expertengepräch des MEDIENDIENSTES zu bedenken.
Die Kommunen könnten hier gegensteuern. Die Bleibeperspektive wird zwar vom Bund vorgegeben, sie ist aber bislang nicht gesetzlich geregelt. Häufig können Städte und Gemeinden eigenständig entscheiden, an wen sie Integrationsmaßnahmen vergeben. In Nordrhein-Westfalen zum Beispiel wird ausdrücklich die „individuelle Bleibeperspektive" geprüft, wie die Landesregierung mitteilt. So haben dort auch Afghanen die Möglichkeit, eines der begehrten Job-Coachings finanziert zu bekommen.
Von Carsten Janke
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