MEDIENDIENST: Frau Ataman, wann wurden Sie zuletzt gefragt, woher Sie kommen?
Ferda Ataman: Keine Ahnung, ist schon ein Weilchen her. Allerdings wurde ich erst vor zwei Wochen mal wieder für mein gutes Deutsch gelobt. Mir geht es in meinem Buch aber nicht um meine persönlichen Erlebnisse im Alltag, sondern darum, dass wir noch ein abstammungsdefiniertes Verständnis vom Deutschsein haben. Wir ticken noch ziemlich völkisch, nicht nur rechtsaußen.
Ist die Frage nach der Herkunft wirklich so häufig verbreitet?
Kommt darauf an, wen Sie fragen. Manche Taxifahrer, die in den Augen ihrer Fahrgäste nicht "typisch deutsch" aussehen, bekommen diese Frage 20 bis 30 Mal am Tag gestellt. Außerdem geht es nicht nur um die Frage nach der Herkunft: Kinder aus Einwandererfamilien bekommen schon während der Schulzeit zu spüren, dass sie nicht als "richtige" Deutsche angesehen werden, weil sie einen sogenannten Migrationshintergrund haben. Das ist ein Problem. Es wird einem in Deutschland schwer gemacht, sich zugehörig zu fühlen.
Ist die Frage nach der Herkunft nicht sogar ein Fortschritt? Vor 30 Jahren ging immerhin noch eine Mehrheit in Deutschland davon aus, dass Menschen wie Sie wegen ihres Aussehens oder ihres Namens "Ausländer" sein müssten.
Auch heute tun das viele offensichtlich noch. Viele glauben, dass sie Deutsche sowie Ausländerinnen und Ausländer am Aussehen erkennen, weil für sie gilt: Deutsch ist, wer von Deutschen abstammt. Aus den Ausländerinnen und Ausländern sind zwar "Deutsche mit Migrationshintergrund" geworden – aber ihre "Wurzeln", "Stämme" und "Kulturen" spielen weiterhin eine große Rolle. Viele Leute wollen mit mir schon beim Smalltalk über die Türkei reden, weil sie denken, dass das Thema mein Leben bestimmt. Ich glaube, ein Schlüssel für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ist, dass wir uns von der Idee einer ethnischen Zugehörigkeit verabschieden. In meinem Buch setze ich mich auf meine Art damit auseinander: mit Humor und Thesen zum Nachdenken.
Aber gesellschaftlicher Wandel dauert seine Zeit. Brauchen wir nicht einfach nur mehr Geduld?
Das ist leicht gesagt. Ich bin in Deutschland geboren und werde bald 40. Ich würde gern noch erleben, dass wir an den Punkt kommen, dass bei uns Menschen wirklich gleichbehandelt werden – egal, ob sie Osman oder Otto heißen. Außerdem haben Migrantinnen und Migranten dieses Land mit aufgebaut. Aber davon erfährt man in der Schule im Geschichtsunterricht leider kaum etwas. Über unsere Eltern wird nichts erzählt - oder wenn, dann nur als Erklärung dafür, warum wir heute so viel über Integrationsprobleme reden. Und von uns, den Migrantenkindern, wird auch noch Dankbarkeit erwartet. Das ist schräg.
FERDA ATAMAN ist Kolumnistin bei Spiegel Online, Vorsitzende im Verein "Neue deutsche Medienmacher" und Sprecherin der "neuen deutschen organisationen". Im März 2019 hat sie das Buch "Ich bin von hier. Hört auf zu fragen!" veröffentlicht, das mit dem Hashtag #vonhier eine Debatte über Zugehörigkeit in Deutschland ausgelöst hat. Von 2013 bis 2016 hat sie den Mediendienst Integration geleitet.
Sie fordern, die deutsche Gesellschaft brauche ein neues Selbstbild. Wie soll das aussehen?
Wir brauchen ein neues Selbstverständnis darüber, wer wir sind und was uns als Deutsche ausmacht. So ein Narrativ, das alle Menschen im Land einschließt, fehlt bislang. Bisher lautet unsere nationale Erzählung sinngemäß so: Wir Deutschen haben den Nationalsozialismus nach 1945 überwunden. Seither gibt es bei uns keinen Rassismus mehr, außer vielleicht bei ein paar Neonazis im Osten. Wir haben Deutschland aus eigener Kraft wieder aufgebaut. Aus lauter Schuldgefühl haben wir unseren Nationalstolz lange unterdrückt. Wir sind weltoffen und tolerant. Unsere Migranten haben es gut. Ein bisschen Dankbarkeit dafür wäre schön. Viele haben diese Erzählung so oder so ähnlich verinnerlicht. Aber sie ist ein großes Missverständnis: Fast nichts davon stimmt. Warum, das erkläre ich im Buch.
Sie bestehen auf der gleichberechtigten Teilhabe von Einwanderern und deren Nachkommen und schreiben: "Platz da, jetzt kommen wir". Was aber, wenn Ihnen nicht alle so gerne Platz machen wollen, oder sich dadurch sogar bedroht fühlen? Wer gibt schon gerne Privilegien ab, die er oder sie als selbstverständlich erachtet?
Wir haben ein Grundgesetz, das diese Fragen regelt. Und das sagt: Alle dürfen mitspielen – egal, wo ihre Vorfahren herkommen. Die Politik muss klarstellen: Allen Bürgerinnen und Bürgern steht das Gleiche zu.
Sie stellen den Begriff Integration in Frage. Aber braucht nicht gerade eine immer vielfältiger werdende Gesellschaft einen gemeinsamen Wertekonsens und verbindliche Regeln, die für alle gelten? Warum soll man das nicht "Integration" nennen?
Das kann man natürlich so nennen und man sollte verlangen, dass sich Menschen an die Regeln im Land halten. Aber warum verlangen wir diese "Integration" nur von Migrantinnen und Migranten sowie ihren Nachkommen? Manche Einwanderer bringen den Wertekonsens schon mit, manche Ureinheimischen teilen ihn nicht. Warum verlangen wir nicht von allen Menschen, dass sie sich an die Gesetze und die freiheitlich demokratische Grundordnung halten, sondern betonen das so besonders in Bezug auf Migranten? Was wir brauchen, ist eine Integrationspolitik für alle Menschen – unabhängig von ihrer Herkunft.
Was muss passieren, damit Deutschland ein modernes Einwanderungsland wird?
Da komme ich an den Anfang zurück: Wir brauchen ein neues Verständnis von Zugehörigkeit, das nichts mit Vorfahren, Religion und Aussehen zu tun hat. Eigentlich ganz einfach.
Interview: MEDIENDIENST INTEGRATION
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