In den vergangenen Monaten haben etliche europäische Staaten Sonderregelungen gegen unerlaubte Einwanderung eingeführt. So hat Italien zum Beispiel kürzlich erneut bestätigt, dass das Land keine Geflüchteten aufnehmen wird, für die es nach der Dublin-III-Verordnung zuständig wäre. Die polnische Regierung hat mit einem neuen Gesetz die Möglichkeit geschaffen, das Recht auf eine individuelle Prüfung von Asylgesuchen zeitweise aufzuheben.
Frankreich plant eine deutliche Verschärfung der Regeln für irreguläre Migrant*innen – unter anderem sollen diese bis zu sieben Monate inhaftiert werden. Deutschland und die Niederlande haben umfassende Kontrollen an EU-Binnengrenzen eingeführt. Die niederländische Regierung unter Führung der rechtspopulistischen "Partij voor de Vrijheid" hat zudem angekündigt, das "härteste Asylgesetz aller Zeiten" einzuführen.
Die Begründung für diese Maßnahmen: Wegen der hohen Flüchtlingszahlen befänden sich die jeweiligen Staaten in einem Ausnahmezustand. Allein in den vergangenen sechs Monaten haben politische Kräfte aus Regierung oder Opposition in Deutschland, Spanien, Italien, Zypern und den Niederlanden einen nationalen Notstand wegen hoher Flüchtlingszahlen gefordert.
Ist die Zahl der Flüchtlinge in diesen Staaten besonders stark gestiegen? Und kann man von einem "Notstand" sprechen?
Zahl der Schutzsuchenden ist nicht gestiegen
Ein Blick auf die Zahlen zeigt: Die Zahl der Asylerstanträge in der Europäischen Union ist 2024 zurückgegangen – auch in den Staaten, in denen von einem "Notstand" die Rede war.
Auf keiner der Haupt-Fluchtrouten, die in die Europäische Union führen, gab es in dieser Zeit einen besonders starken Anstieg der Zahl von Schutzsuchenden. Die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache Frontex sprach im Oktober 2024 von einem generellen Rückgang der versuchten Grenzübertritte in die Europäische Union im Vergleich zum Vorjahr um 42 Prozent.
Anteil der Flüchtlinge pro Einwohner deutlich gestiegen
Gibt es also keinen Notstand? Die Auswirkungen der Fluchtmigration auf das Aufnahmesystem der einzelnen EU-Mitgliedstaaten sind nicht auf die Erstaufnahme-Phase beschränkt – wie ein Blick auf das Aufnahmesystem in deutschen Kommunen zeigt. Auch wenn die Flüchtlingszahlen in diesem Jahr zurückgehen, heißt das nicht, dass die Aufnahme und Integration von Geflüchteten ohne Probleme gelingt: Geflüchtete benötigen wie alle Einwohner*innen Wohnraum und Lebensunterhalt – sowie Zugang zu Arbeit, Schule und Dienstleistungen. Wenn man zum Beispiel die Zahl der Geflüchteten im Verhältnis zur Einwohner*innen-Zahl nimmt, sieht man, dass es in den vergangenen Jahren in den meisten EU-Mitgliedstaaten einen klaren Aufwärtstrend gab (Stand: Juni 2024).
Der Anteil von Geflüchteten an der Gesamtbevölkerung ist in den vergangenen Jahren überall deutlich gestiegen – bleibt aber in den meisten EU-Staaten im niedrigen einstelligen Bereich. So ist er zum Beispiel in Deutschland von 0,6 Prozent auf 3,7 Prozent geklettert, in Italien von 0,2 Prozent auf 0,8 Prozent.
Aus den Grafiken wird auch ersichtlich: Den stärksten Anstieg gab es im Jahr 2022 – als mehr als eine Million Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine Zuflucht in der Europäischen Union suchten (Stand: Juni 2024).
Ein selbstgemachter Notstand?
Die Fluchtmigration aus der Ukraine ist nicht der einzige Grund für das Notstand-Klima in vielen EU-Mitgliedstaaten. Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine hätten in der Regel die Möglichkeit gehabt, private Unterkünfte zu finden, sagt Susan Fratzke, leitende Politik-Analystin beim "Migration Policy Institute" (MPI). Das habe das Aufnahme- und Unterbringungssystem der Mitgliedstaaten entlastet. "Dennoch hat die Zuwanderung mehrerer hunderttausend Personen spürbare Folgen – etwa auf den Wohnungsmarkt und den Zugang zu Dienstleistungen", so Fratzke. Der Wohnraum-Mangel führe in vielen Ländern dazu, dass neuankommende Flüchtlinge nicht mehr aus den Aufnahmeeinrichtungen ausziehen könnten – besonders in den Städten: "So hat sich ein Rückstau gebildet."
Der Rückstau sei aber auch eine Folge politischer Entscheidungen, sagt Fratzke. In den Niederlanden und in Belgien sei zum Beispiel das Aufnahmesystem für Geflüchtete stark unterfinanziert – besonders nach der Covid-19 Pandemie. Während der Pandemie gingen die Flüchtlingszahlen zurück; daraufhin haben mehrere Regierungen die Ressourcen für die Aufnahme reduziert. Als wieder mehr Geflüchtete kamen, habe es starke politische Hemmnisse gegeben, wieder mehr Geld in die Flüchtlingsaufnahme zu investieren, so Fratzke: "Man spürt eine Erschöpfung in der Flüchtlingspolitik – und diese Erschöpfung stärkt das Gefühl von Krise und Kontrollverlust."
Ein weiterer Grund für Diskussionen über eine Notlage sei das Erstarken der Anti-Einwanderungsparteien in der EU, sagt Oliviero Angeli, Wissenschaftlicher Koordinator vom Mercator Forum Migration und Demokratie (MIDEM). Das Narrativ des "Notstands" oder eines "(permanenten) Ausnahmezustands" gehöre seit vielen Jahren zum Repertoire rechtspopulistischer Parteien. Einige dieser Parteien hätten inzwischen Regierungsverantwortung übernommen (wie etwa in den Niederlanden und Italien) und müssten jetzt Ergebnisse liefern.
"Stattdessen testen sie immer wieder die Grenzen des EU- und Völkerrechts aus. Wenn ihre Vorstöße sich als wirkungslos oder gesetzeswidrig entpuppen, können sie die Schuld den strengen EU-Regeln geben", so Angeli. Auch wo sie nicht an Regierungen beteiligt seien, schürten diese Parteien das Gefühl, Notmaßnahmen seien dringend notwendig, um einen Kontrollverlust zu vermeiden: "Das ist besonders riskant in einer Phase, in der die EU-Mitgliedstaaten die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems umsetzen", sagt Angeli. Die Idee, dass das EU-Recht bei Bedarf umgangen werden könne, könnte zu immer mehr Rechtsbrüchen führen.
Von Fabio Ghelli
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