Seit Beginn der militärischen Offensive Israels gegen die Hisbollah-Miliz im September 2024 mussten mehr als eine Million Menschen im Libanon ihre Wohnorte verlassen. Die meisten von ihnen sind als Binnenvertriebene im Land geblieben: Nach Angaben der International Organization for Migration (IOM) befinden sich rund 843.000 Binnenvertriebene im Libanon (Stand: 06. November 2024) – vor allem Personen aus dem Süden des Landes. 35 Prozent der Vertriebenen sind Kinder unter 18 Jahren.Quelle
Sichere Orte gibt es im Libanon nur noch wenige: Laut dem Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OHCHR) steht etwa ein Viertel des libanesischen Territoriums unter Evakuierungsanordnungen. Die Mehrheit der fast 1.000 Notunterkünfte für Binnenvertriebene wurden in öffentlichen Schulen eingerichtet.Quelle
Viele fliehen nach Syrien
Knapp eine halbe Million Menschen haben indessen das Land verlassen. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR schätzt, dass rund 440.000 Personen ins Bürgerkriegsland Syrien geflüchtet sind – von ihnen sind etwa zwei Drittel Syrer*innen und ein Drittel Libanes*innen und andere Staatsangehörige. Rund 28.350 libanesische Geflüchtete hat das UNHCR außerdem im Irak registriert.Quelle
Syrer*innen, die in ihrer Heimat Zuflucht suchen, gehen oft in Richtung Idlib oder in Gebiete, die unter türkischer Kontrolle stehen, sagt Michael Bauer, Leiter des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung im Libanon. Sie würden die Gebiete unter der Kontrolle der Regierung von Bashar Al-Assad vermeiden, weil sie dort keine Perspektive für sich sehen, etwa aus Furcht vor dem Regime oder aufgrund der wirtschaftlichen Krise.
Auch viele Libanes*innen wählen die Flucht nach Syrien – obwohl die Lage auch für sie extrem unsicher ist, so Bauer. Der Grund: Syrien ist einfach zu erreichen „Für viele bleibt keine andere Option. Eine Flucht nach Europa ist meistens finanziell und logistisch unmöglich. Außerdem suchen Geflüchtete in der Regel Schutz in der Nähe ihrer Heimat.“
Der Weg über das Meer zur naheliegenden Insel Zypern ist auch schwierig, insbesondere nachdem die EU im April diesen Jahres ein Migrationsabkommen mit dem Libanon geschlossen hat. Organisationen berichten, dass libanesische Grenzbehörden systematisch Boote mit Geflüchteten an Bord abfangen.Quelle
Eine starke Auswanderung in Richtung Europa halten Expert*innen für unwahrscheinlich: "Die Sorge um eine starke Fluchtmigration in Richtung Europa ist aus meiner Sicht derzeit nicht faktenbasiert", sagt Christiane Fröhlich vom Leibniz-Institut für globale und regionale Studien (GIGA). In der Europäischen Union beschäftige man sich viel mit der Frage, ob und wann Kriegsflüchtlinge Europa erreichen. Dabei verliere man die Personen aus dem Blick, die in den Krisengebieten bleiben – weil sie aus finanziellen, gesundheitlichen oder persönlichen Gründen nicht fliehen können.
Das Land mit dem höchsten Flüchtlingsanteil weltweit
Schon vor Beginn der Offensive Israels befand sich der Libanon in einer der schwersten wirtschaftlichen und politischen Krise seiner Geschichte. Besonders stark betroffen waren dabei die etwa 1,5 Millionen Flüchtlinge, die nach Angaben der Regierung im Land leben.Quelle
Rund 775.000 von ihnen kommen aus Syrien. Weitere Herkunftsländer sind der Irak (4.800 Personen) und der Sudan (2.700) – Stand: Juni 2024. Hinzu kommt eine unbestimmte Zahl palästinensischer Flüchtlinge: Nach Schätzungen des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) sind es rund 250.000 Personen.
Das bedeutet, dass im Libanon etwa jeder vierte Einwohner ein Flüchtling ist. Der Libanon ist somit das Land mit dem höchsten Anteil von Flüchtlingen pro Einwohner*in weltweit.Quelle
Mehrheit der Flüchtlinge unter dem "Existenzsminimum"
In den vergangenen fünf Jahren hat sich die Lebenssituation der Geflüchteten im Land deutlich verschlechtert. Polizei und Militär führen systematisch Abschiebungen durch: Allein im Jahr 2023 wurden knapp 14.000 syrische Kriegsflüchtlinge nach Syrien abgeschoben oder zurückgewiesen, wie ein Bericht der Vereinten Nationen kürzlich festgestellt hat. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch spricht zudem von willkürlichen Inhaftierungen und Folter, die syrischen Flüchtlingen nach ihrer Rückkehr nach Syrien drohen.Quelle
83 Prozent der Syrer*innen im Libanon haben keinen Aufenthaltsstatus – und selbst, wenn sie diesen haben, ist ihre Lebenssituation meistens extrem angespannt: Laut Angaben des UNHCR leben drei von fünf Syrer*innen unter dem „Existenzminimum“.Quelle
Auch ein Großteil der palästinensischen Flüchtlinge lebt in Armut. Sie sind von vielen Berufen ausgeschlossen und dürfen kein Eigentum besitzen. Viele von ihnen leben in überfüllten Flüchtlingslagern und haben keinen Zugang zu staatlichen Bildungs- oder Gesundheitseinrichtungen.Quelle
Schon jetzt ist die Lebenssituation vieler Flüchtlinge und Binnenvertriebene im Libanon dramatisch, sagt Michael Bauer. "Die Herausforderungen sind so groß, dass jedes Gemeinwesen überfordert wäre. Dies trifft den Libanon in einem Maße, das durch die bereits schwierige Ausgangslage noch verstärkt wird." Auch Nahost-Expertin Fröhlich befürchtet eine humanitäre Krise im Land: "Die Lage im Libanon hat sich verschlechtert und das ist leider kein neuer Trend, sondern eigentlich eine Verschlimmerung eines Trends, der seit Jahren läuft."
Von Muhabbet Kaynak
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