Ob beim Antrag einer Aufenthaltserlaubnis, der Kontoeröffnung oder der Jobbewerbung: Bei Behörden und grundlegenden Dingen des gesellschaftlichen Lebens begegnen Staatenlosen verschiedene Hürden. In diesem Factsheet gibt es die wichtigsten Zahlen und Hintergründe zum Thema.
Der Artikel ist eine Zusammenfassung des neuen Dossiers "Staatenlose". Mehr Infos zum Thema hier.
Wie viele Staatenlose leben in Deutschland?
In Deutschland leben dem Ausländerzentralregister (AZR) zufolge derzeit etwa 124.500 Personen ohne Staatsangehörigkeit eines Landes. Davon:
- sind rund 29.500 "anerkannt Staatenlose"
- haben rund 95.000 eine "ungeklärte Staatsangehörigkeit". Internationalem Recht zufolge sind Personen, deren Staatsangehörigkeit nicht abschließend geklärt ist ("de facto" Staatenlose) als Staatenlose zu behandeln. Auch hierzulande sind Behörden angehalten, Personen mit ungeklärter Staatsangehörigkeit unter bestimmten Voraussetzungen als Staatenlose anzusehen.Quelle
Unter allen Staatenlosen sind 37 Prozent minderjährig. Mindestens 8.300 sind in Deutschland zur Welt gekommen. 60 Prozent der Personen mit ungeklärter Staatsbürgerschaft leben seit mehr als fünf Jahren in Deutschland.Quelle
Die Zahl der Staatenlosen in Deutschland steigt seit Jahren:
Warum gibt es immer mehr Staatenlose in Deutschland?
Viele Personen lebten zuvor in Syrien oder dem Libanon und flohen zwischen 2014 und 2016 nach Deutschland. Meist handelt es sich um Kurd*innen und Palästinenser*innen. Rund 37.500 der Staatenlosen in Deutschland kamen in Syrien zur Welt, mehr als 6.300 im Libanon (Stand Ende Februar 2023).Quelle
Knapp ein Drittel der Personen mit ungeklärter Staatsangehörigkeit ist geduldet (rund 7.500) oder hat kein Aufenthaltsrecht (16.000).Quelle
Zahl Staatenloser weltweit
Die Zahl der Staatenlosen ist schwer zu erfassen. Bei den Vereinten Nationen sind 4,2 Millionen Personen offiziell als staatenlos registriert, die Zahl dürfte aber höher liegen (Stand: November 2021). Schätzungen gehen von etwa 10 Millionen Menschen weltweit aus. Die meisten Staatenlosen leben in:
- der Elfenbeinküste (schätzungsweise 700.000 bis 1,6 Millionen Staatenlose, Stand: 2020): Betroffene sind meist Migrant*innen oder Opfer von Menschenhandel und deren Nachkommen, die Plantagenarbeiter*innen in der Elfenbeinküste waren. Im Zuge der Dekolonialisierung konnten viele die hohen Voraussetzungen für Einbürgerungen nicht erfüllen.
- Myanmar (schätzungsweise 500.000 bis 600.000): In den 1980er Jahren schloss das burmesische Staatsangehörigkeitsrecht die Rohingya-Minderheit aus. Die meisten Angehörigen der Minderheit leben im nördlichen Staat Rakhine.
- Bangladesch (etwa 855.000): Viele hundert tausend Angehörige der Rohingya-Minderheit flohen in den letzten Jahren aus Myanmar nach Bangladesh. Außerdem leben viele Angehörige der Bihari-Minderheit seit Jahrzehnten als Staatenlose im Land.Quelle
Warum sind Personen überhaupt staatenlos?
Eine Person kann aus verschiedenen Gründen staatenlos sein oder es werden. Oft kommen mehrere Faktoren zusammen.
"Vererben" der Staatenlosigkeit durch die Eltern
Staatenlose und Personen mit ungeklärter Staatsangehörigkeit "vererben" ihre Staatenlosigkeit an ihre Kinder. Wer in Deutschland geboren wird, hat nicht automatisch ein Anrecht auf die deutsche Staatsangehörigkeit – im Gegensatz etwa zu den USA.Quelle
Es gibt auch Länder, die eine Weitergabe der Staatsangehörigkeit nur durch den Vater erlauben. Laut einem Bericht der Organisation Equality Now hatten 2022 weltweit 49 Länder solche Vorschriften.Quelle
Staatsauflösung
Personen können staatenlos werden, wenn sich Staaten auflösen und sie nicht automatisch die Staatsbürgerschaft der Nachfolgestaaten bekommen. Betroffen sind hiervon zum Beispiel ehemalige UdSSR-Bürger*innen in Russland oder Kasachstan. Tausende europäische Rom*nja wurden auf ähnliche Weise staatenlos.Quelle
Ausschluss von Minderheiten
Es gibt Fälle, in denen Staaten Gruppen von der Staatsbürgerschaft ausschließen, oft sind ethnische, religiöse oder andere Minderheiten betroffen. Beispiele:
- Im Rahmen eines Zensus der syrischen Regierung 1962 wurden etwa 120.000 Kurd*innen im Norden des Landes staatenlos.Quelle
- Im Baltikum etwa schlossen Lettland und Estland im Zuge des Zerfalls der UdSSR überwiegend Angehörige der russischen Minderheiten von der Staatsbürgerschaft aus und führten die Kategorie der 'nicht-Staatsbürger' ein.Quelle
Situation der Palästinenser*innen
Im Zusammenhang mit der Staatsgründung Israels flohen etwa 700.000 Palästinenser*innen in Nachbarländer wie den Libanon oder Syrien. Dort könnten sie sich und ihre Kinder aber nicht einbürgern lassen. Inzwischen sind mehrere Millionen geflüchtete palästinensische Volksangehörige staatenlos. Der Bundestag ging 2018 von über fünf Millionen staatenlosen Palästinenser*innen in den umliegenden Staaten aus, sowie 1,4 Millionen im Gaza-Streifen und dem Westjordanland.Quelle
Entzug der Staatsbürgerschaft
Jemanden "auszubürgern", also der Person die Staatsangehörigkeit zu entziehen, widerspricht internationalen Konventionen. Dennoch entziehen immer wieder Staaten ihren Bürger*innen die Staatsangehörigkeit. Letztes Jahr entzog ein Gericht in Russland einem in Deutschland wohnhaften Aktivisten die Staatsbürgerschaft. Auch in Großbritannien kam es zu Fällen, in denen einzelne Bürger*innen staatenlos wurden.Quelle
Alltag Staatenloser
Staatenlosen begegnen im Alltag viele Hürden – unabhängig davon, wie lange sie schon in Deutschland leben oder ob sie hier zur Welt gekommen sind. Sie können beispielsweise nicht an Wahlen teilnehmen. Oft fragen Behörden, Bildungseinrichtungen und Firmen die Staatsbürgerschaft ab, die Option "staatenlos" fehlt meist. Das erschwert es Staatenlose und Personen mit ungeklärter Staatsbürgerschaft, etwa ein Konto zu eröffnen und benachteiligt sie bei Bewerbungen um Wohnungen, den Kita-, Studien- oder Arbeitsplatz. Um am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben, müssen Betroffene ihre Situation immer wieder neu erklären und hoffen, auf Mitarbeitende zu treffen, die ihren Ermessensspielraum im Sinne der Betroffenen nutzen.Quelle
Viele Staatenlose und insbesondere Personen mit ungeklärter Staatsangehörigkeit haben keine Geburtsurkunde. Auch wenn sie in Deutschland zur Welt kommen, bekommen viele meist nur einen Auszug aus dem Geburtenregister, wenn die Identität ihrer Eltern nicht geklärt ist. Das kann zu verschiedenen Problemen führen, u.a. können Personen ohne die Urkunde nicht heiraten.Quelle
Mit Ersatzreiseausweisen können Staatenlose und Personen mit ungeklärter Staatsangehörigkeit eigentlich ins Ausland reisen. Einige Länder akzeptieren solche Ausweise aber nicht oder nur mit Einschränkungen. Betroffene berichten davon, von Grenzbeamten in Deutschland oder im Ausland aufgehalten und an der Weiterreise gehindert zu werden.Quelle
Schutzbedürftig – nur in der Theorie?
Staatenlose gelten als besonders schutzbedürftig, da sich kein Land sich für sie zuständig sieht. Damit sie an ihrem Aufenthaltsort dennoch am gesellschaftlichen Leben teilnehmen und ihre Rechte als Schutzbedürftige wahrnehmen können, ist eine Voraussetzung oft, als staatenlos anerkannt zu werden. Dafür wiederum muss ihre Identität geklärt werden. Wenn das gelingt, bekommen Betroffene im besten Fall Ersatzdokumente, mit denen sie als anerkannt Staatenlose ausweisen und später auch schneller einbürgern lassen können. Aber: Betroffene werden oft nicht oder erst nach längerer Zeit anerkannt, denn Behörden sind nicht verpflichtet abschließend zu klären, ob jemand staatenlos ist. Mehr dazu in unserem Dossier.
Fachleute aus Forschung und Zivilgesellschaft fordern bundesweit einheitliche und verbindliche Leitlinien, die Behörden verpflichten würden, Personen innerhalb festgelegter Fristen als staatenlos anzuerkennen. Ein solches Verfahren ist jedoch Angaben der Bundesregierung zufolge nicht vorgesehen (Stand April 2023).Quelle
Ampel sieht keine schnellere Einbürgerung für Staatenlose vor
Da eine Einbürgerung der einzige Ausweg aus der Staatenlosigkeit ist, besagt internationales Recht, dass Länder die dort lebenden Betroffenen schneller einbürgern sollen. Hierzulande können Staatenlose aktuell unter bestimmten Voraussetzungen schon nach sechs anstatt nach acht Jahren einbürgert werden, über die sogenannte ErmessenseinbürgerungQuelle
Das geplante Staatsangehörigkeitsrechts der Ampel-Koalition sieht nach derzeitigem Stand keine gesonderten Erleichterungen für Staatenlose vor (Stand: 8. August 2023).Quelle
Expert*innen aus der Zivilgesellschaft und Forschung fordern unter anderem, dass Staatenlose unter bestimmten Voraussetzungen bereits nach drei Jahren einbürgert und die Nachweishürden insbesondere für in Deutschland geborene Staatenlose gesenkt werden sollten, auch wenn die Identität der Eltern zu dem Zeitpunkt noch ungeklärt ist.Quelle
Von Martha Otwinowski
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